18 1/2023 · lehrer nrw
Auch die Amerikaner haben mit Zuwanderern und Teilen
der afroamerikanischen Bevölkerung durchaus ein Bil-
dungsproblem, indem es dort auf den Wohnort und den
Geldbeutel ankommt, ob man eine gute Bildung erhält.
Diese Entwicklung haben wir in Deutschland mittlerweile
auch, vor allem in den Städten. In teuren Gegenden liegen
die Migrantenanteile beispielsweise an einem Gymnasium
vor allem bildungsferner Schichten bei unter 10 Prozent, auf
der anderen Rheinseite in Köln-Kalk bei 85 Prozent, Tendenz
überall in deutschen Großstädten stark zunehmend. Für die
meist tabuisierte Frage, ob ein Bildungswesen für derartige
gesellschaftliche Entwicklungen eine Art Reparaturanstalt
darstellen soll, gibt es eigentlich nur eine klare Antwort: Das
kann Schule und können Lehrerinnen und Lehrer gar nicht
leisten, es ist vielmehr ein gesamtgesellschaftliches Pro-
blem.
Die Folgen
Was hat diese Entwicklung nun mit dem deutschen Schul-
wesen zu tun? Keineswegs sind dort Schritte unternommen
worden, den von niemandem mehr zu leugnenden Leis-
tungsverfall an allen deutschen Schulen zumindest zu ver-
langsamen oder zu stoppen. Gründe dafür gibt es viele. Erst
einmal werden die oben geschilderten Bildungsdefizite von
unten nach oben durchgereicht. Schon die Grundschule
muss sich mit einer kontinuierlich zugenommen Diversität
der Schülerleistungen ihrer Klientel auseinandersetzen. Als
Ergebnis reicht die Grundschule diese von ihr nicht mehr zu
bewältigende Leistungsdiversität an die weiterführenden
Schulen weiter. Selbst das Gymnasium ist davon betroffen.
Die Politik sonnt sich im zweifelhaften Licht der politisch ge-
wollten Verdopplung der Abiturientenzahlen im Vergleich
mit denen der 90er Jahre. Das geht nur über eine Absen-
kung der Leistungsanforderungen, wie viele Untersuchun-
gen speziell von schriftlichen Abiturarbeiten gezeigt ha-
ben.10 Das in den meisten Bundesländern mittlerweile gel-
tende Elternwahlrecht hat ein Übriges dazu getan. Trotzdem
sind auf subtilen Druck von oben die Noten im mittleren
Schulabschluss als vor allem auch im Abitur kontinuierlich
besser geworden, selbst in Corona-Zeiten, in denen man da-
von ausgehen kann, dass bis zu einem dreiviertel Jahr Lern-
rückstände entstanden sind. Nach dem mittleren Schulab-
schluss oder dem Abitur erreichen die Defizite die Ausbil-
dungsbetriebe oder die Hochschulen.11 Eine leistungsorien-
tierte Selektion und die darauf aufbauende Allokation –
einstmals das entscheidende Kriterium in einer gerechten
Zuweisung angestrebter Berufe und Mittelzuflüsse in einer
Demokratie – wird als Ausgrenzung bewertet. Spitzenämter
in der Politik werden mittlerweile wie im Mittelalter nach
Gruppenzugehörigkeit und nicht mehr nach Leistung verge-
ben. Ein fatales Zeichen, dass sich Leistung nicht mehr lohnt.
Einer neueren Studie des Instituts für Wirtschaft (IW) zufolge,
zeigt der Bildungsstand der europäischen Bevölkerung ins-
gesamt eine gute Entwicklung, außer in Deutschland, der
mittlerweile unterhalb des europäischen Durchschnitts
liegt.12 Dies wird – zeitlich versetzt – weitere wirtschaftliche
und gesellschaftliche Erosionen zur Folge haben.
Hinzu kommt, dass die im Rahmen der Ökonomisierung
erfolgte Umstellung auf Kompetenzorientierung die ehemali-
gen Bildungsinhalte nahezu pulverisiert hat. Von Bildung
und Wissen ist kaum noch die Rede. Am deutlichsten lässt
sich dies durch die allgemeine Reduzierung des Fächerka-
nons und seiner Inhalte in den Kultusministerien nach dem
Motto beschreiben: »Ist das Kompetenz oder kann das auch
weg?« Ursprünglich einmal als Grundlage einer Allgemein-
bildung für wesentlich befundene Fächer sind bereits ausge-
dünnt, nur noch rudimentär oder gar nicht mehr vorhanden.
Jetzt soll die Digitalisierung es richten. Jeder ältere Prakti-
ker wird über so viel Enthusiasmus nur müde lächeln. Die
Digitalisierung scheint von ihren Protagonisten als Allheil-
mittel wahrscheinlich auch gegen die oben erwähnten
Disparitäten wirksam zu sein. Dabei ist sie doch nur eine
Methode, mit der eigentlich die Inhalte verständlich den
Schülern vermittelt werden sollen. Die Digitalisierung ist
allerdings kein Bildungsinhalt an sich! Wo sie Vorteile zum
Verständnis einer Sache bringt, sollte sie natürlich einge-
setzt werden.
Das Schlusswort soll mein Kollege und Philosoph Konrad
Liessmann haben. Nach seiner »Theorie der Unbildung«
folgte der zweite Band »Geisterstunde – die Praxis der Unbil-
dung«, die die derzeitige Entwicklung auf den Punkt bringt:
»Wo Kompetenzen vermittelt, Tests ausgefüllt, im Team
geteacht, international verglichen und modular studiert
wird – dort ist die Praxis der Unbildung am effizientesten.«13
Quellen
1 Stanat, P., Schipolowski, S., Schneider, R., Sachse, K. A., Weirich, S. & Henschel,
S. (Hrsg.) (2022): IQB-Bildungstrend 2021. Kompetenzen in den Fächern
Deutsch und Mathematik am Ende der 4. Jahrgangsstufe im dritten
Ländervergleich. Waxmann.
2 Stanat, P., Schipolowski, S., Rjosk, C., Weirich, S., Haag, N. (Hrsg.) (2017): IQB-Bil-
dungstrend 2016. Kompetenzen in den Fächern Deutsch und Mathematik
am Ende der 4. Jahrgangsstufe im zweiten Ländervergleich. Waxmann.
3 Stanat, P., Pant, H.A., Böhme, K., Richter, D. (Hrsg.) (2012): Ergebnisse des IQB-
Ländervergleichs 2011. Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern am
Ende der vierten Jahrgangsstufe in den Fächern Deutsch und Mathematik.
Waxmann.
4 Köller, Olaf im Interview mit der WELT vom 8. November 2022:
Das holen die Kinder nie wieder auf. https://www.welt.de/politik/deutsch-
land/plus241930689/Bildungskrise-Das-holen-die-Kinder-nie-wieder-auf.html
5 Schoener, J. (2022): Was bremst den Bildungsabsturz? DIE ZEIT Nr. 28
6 Hattie, John (2009): Visible Learning. A synthesis of over 800 Meta-Analyses
Relating to Achievement. S. 247f
7 Sweller, J., Kirschner, P., Clark, R. (2006): Why minimal guidance during
instruction does not work: An analysis of the failure of constructivist,
discovery, problem-based, experiential, and inquiry-based teaching.
Educational Psychologist 41(2), 75-86
8 Star-Bildungsforscher Hattie im News4teachers-Interview: »Es gibt nicht ‘die‘
Unterrichtsmethoden, die per se eine hohe Wirksamkeit haben« vom 30. April 2019
9 Klein, Hans Peter (2016): Vom Streifenhörnchen zum Nadelstreifen.
Das deutsche Bildungswesen im Kompetenztaumel. ZuKlampen, Springe
10 Klein, Hans Peter (2010): Die neue Kompetenzorientierung.
In: Journal für Didaktik der Biowissenschaften (F) 1, 1-8.
11 Klein, Hans Peter (2018): Abitur und Bachelor für alle.
Wie ein Land seine Zukunft verspielt. ZuKlampen, Springe
12 Geis-Thöne, Wido (2022): Bildungsstand der Bevölkerung im europäischen
Vergleich. Gute Lage, aber schwache Entwicklung in Deutschland,
IW-Report, Nr. 3, Köln
13 Liessmann, Konrad (2014): Geisterstunde. Die Praxis der Unbildung. Zsolany.