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2/2023 ·
lehrer nrw
SCHULE & POLITIK
anwachsenden Lehrkräftemangels vor
Ort.
Die KMK hatte zu diesem Zweck die Stän-
dige Wissenschaftliche Kommission der Kul-
tusministerkonferenz beauftragt, die arbeits-
marktpolitischen und -rechtlichen Möglich-
keiten zu eruieren und zu bewerten, um al-
len Landesregierungen das Feld der politi-
schen Handlungsoptionen aufzuzeigen.
Wenn man bei dem Ergebnis der Untersu-
chung in Rechnung stellt, dass die im Sys-
tem befindlichen Lehrkräfte den seit Jahren
sich verschärfenden Lehrermangel durch ei-
ne stetig gestiegene Arbeitsverdichtung auf-
gefangen haben, dann gleicht dieses Ergeb-
nis bei Lichte besehen einem Offenbarungs-
eid der Politik der letzten Jahrzehnte.
Auf dem Rücken
der Beschäftigten
Die Wissenschaftliche Kommission greift bei
ihren Empfehlungen nun massiv auf mögli-
che weitere Beanspruchungspotenziale der
Bestandslehrkräfte zurück, um bei ihnen
zusätzliche Unterrichtsdeputate zu generie-
ren. Die Vorschläge reichen unter anderem
von einer Verlängerung der Lebensarbeits-
zeit bis zur Pensionierung, über vorüberge-
hende Deputatserhöhungen (Vorgriffsstun-
den), bis hin zum Abbau von Altersermäßi-
gungsansprüchen. Bei der Gruppe der Teil-
zeitbeschäftigungen sehen die Empfehlun-
gen die Reduktion der Teilzeitarbeit allein
auf die Fälle vor, bei denen ein einklagbarer
rechtlicher Anspruch besteht.
Da gleichzeitig in dem Gutachten festge-
stellt wird, dass die Qualität des Unterrichts
vor allem von grundständig ausgebildetem
Personal erbracht wird, stehen vor allen an-
deren die Bestandslehrkräfte besonders im
Fokus der angedachten Maßnahmen. Diese
werden in dem Gutachten jedoch sprachlich
derart euphemistisch verkleidet, dass es
dem neutralen Leser, vor allem aber den be-
troffenen Lehrkräften fast die Sprache ver-
schlägt. Da ist die Rede von ‘Empfehlungen’
für die Arbeitgeber, die in Wahrheit ‘Zumu-
tungen’ für die Beschäftigten darstellen,
von »Beschäftigungsreserven, die kurzfris-
tig erschlossen werden können«, von einer
Prüfung der Arbeitszeitverordnungen oder
von einer Begrenzung der Möglichkeit zur
Teilzeitarbeit.
Zumutungen für die, die das
System am Laufen halten
Im Kern bedeuten diese Maßnahmen jedoch
höhere Arbeitsverpflichtungen, und zwar für
diejenigen, die schon jetzt das System im
Wesentlichen schultern. Die gleichzeitigen
Empfehlungen der Kommission zur Gesund-
heitserhaltung wirken da eher wie ein Fei-
genblatt, hinter dem die Länder sich als für-
sorglicher Arbeitgeber zu verstecken suchen.
Stattdessen kein Wort der Kommission, dass
mit diesen ‘Zumutungen’ die Belastungs-
grenzen überschritten werden könnten, die
psychischen und physischen Überforderun-
gen noch weiter um sich greifen werden.
Es ist wahrlich bedauerlich, dass die Wis-
senschaftliche Kommission einseitig die
Zielsetzungen der quantitativen Ausweitung
der Arbeitsleistung in den Blick nimmt, ohne
die Risiken für Leib und Seele der Lehrkräfte
zu bedenken. Man möchte meinen, dass die
Kommission als Rechtfertigungsinstanz für
die Länderregierungen/Arbeitgeber herhal-
ten soll, um deren voraussichtlich wenig
populäre Maßnahmen zur Steigerung der
Arbeitsleistung zu legitimieren.
Die Instrumentalisierung
der SWK
Die Arbeit der Wissenschaftlichen Kommissi-
on sollte aber nach allgemeinem Verständ-
nis der Objektivität und Neutralität ver-
pflichtet sein, und sich nicht für die Politik
bzw. politische Interessen instrumentalisie-
ren lassen. Und deshalb auch den Blick auf
das System als Ganzes richten, um die mög-
lichen Auswirkungen der von ihr erarbeite-
ten Empfehlungen umfassend zu bedenken
und zu erörtern. Diesem Anspruch der Wahr-
haftigkeit sollte eine wissenschaftliche Kom-
mission stets vollständig Genüge leisten,
will sie ihre Glaubwürdigkeit beim Bürger,
bei der Allgemeinheit und vor allem bei der
betroffenen Zielgruppe bewahren.
Ulrich Gräler ist stellv. Vorsitzender des
lehrer nrw
E-Mail: graeler@lehrernrw.de
KOMMENTAR
Und tschüss!
Schon sehr riskant, dass sich die
Wissenschaftliche Kommission
in den Dienst der Politik stellt. Der
oberflächliche Leser oder Zuhörer
von Nachrichten mag sich viel-
leicht auf deren Aussagen einlas-
sen, nicht jedoch diejenigen, die
von den beabsichtigten ‘Zwangs-
maßnahmen’ direkt betroffen sind
und sich die realen Folgen ausma-
len können.
Wer das System Schule ‘retten’
will, der muss mit offenen Karten
spielen und fair mit allen Beteilig-
ten umgehen. Man kann der Lan-
desregierung nur dringend emp-
fehlen, die Handlungsoptionen zur
Linderung des Lehrermangels ge-
nauestens und umfassend zu prü-
fen, ehe sie in die Schulwirklich-
keit getragen werden. Ansonsten
läuft sie Gefahr, dass die Maßnah-
men unter anderem auch zu so
genannten ‘Vorzieheffekten’ füh-
ren, die die Lage eher verschlim-
mern als verbessern. Wenn zum
Beispiel Lehrkräfte so früh als
möglich in die Pension oder Rente
gehen, um den Zumutungen, auch
für die eigene Gesundheit, aus
dem Weg zu gehen.
Dazu gehört dann auch eine
Kommunikation, die alle Beteilig-
ten, vor allem die Betroffenen,
in einen Prozess einbezieht, um
‘noch’ akzeptable Lösungen aus-
zuloten und im Einvernehmen
umzusetzen. Nur dann könnte es
gelingen, trotz der höchst ange-
spannten Lage Menschen zu ge-
winnen, dem System zu helfen.
Ansonsten werden sich viel-
leicht mehr Menschen aus dem
System verabschieden als eigent-
lich gehen wollten.
Ulrich Gräler