SCHULE & POLITIK
19
2/2025 ·
lehrer nrw
Die Allgemeine Dienstordnung (ADO) in
Nordrhein-Westfalen versucht, beide Pole zu
verbinden; es gehöre nämlich zum Lehrberuf,
»in eigener Verantwortung und pädagogi-
scher Freiheit die Schülerinnen und Schüler
zu erziehen, zu unterrichten, zu beraten, zu
beurteilen, zu beaufsichtigen und zu betreu-
en«. Zwar seien die Lehrkräfte an Vorgaben
gebunden (wie Rechts- und Verwaltungsvor-
schriften, Richtlinien und Lehrpläne, Konfe-
renzbeschlüsse und Anordnungen der Schul-
aufsicht). Indes dürften Letztere »die Freiheit
und Verantwortung der Lehrerinnen und Leh-
rer bei der Gestaltung des Unterrichts und
der Erziehung nicht unzumutbar einschrän-
ken«. Auch Schulleitungen könnten in diese
»nur im Einzelfall eingreifen«, nämlich bei
Verstößen gegen sie »oder wenn eine geord-
nete Unterrichts- und Erziehungsarbeit nicht
gewährleistet ist«. Durchaus ein Spannungs-
verhältnis also. Aber vor klarer Grundlage:
Denn Unterrichten und Erziehen verlangen
persönliches Eingehen auf jeden Schüler, in
wechselnden Situationen und bei vielschich-
tigen Problemlagen. Lehrkräfte müssen spon-
tan entscheiden und gestalten können, des-
halb wäre jede schablonenartige Normierung
ein Unding (vgl. Däschler-Seiler 2018).
Und die Forschung?
Bemerkenswerterweise gibt es in der weiter-
geführten XXL-Metastudie von John Hattie
einen noch zu wenig diskutierten Faktor,
dem eine herausragend hohe Effektstärke
auf den Lernfortschritt von Schülern attes-
tiert wird: die ‘kollektive Wirksamkeitserwar-
tung’ (d = 1,3). Was sich leicht missverste-
hen ließe als »Alle müssen das Gleiche tun«
meint de facto die Überzeugtheit von Kolle-
gien, dass man gemeinsam Herausforderun-
gen überwinden und beabsichtigte Ergeb-
nisse erzielen könne (Hattie 2024, S. 185f.).
Es geht also nicht darum, individuelle Leh-
rertypen zu normieren oder ihr ‘Handeln’
schematisch zu reglementieren, sondern da-
rum, eine gemeinsame ‘Denkweise’ über
Lernen und Entwicklung anzustreben, bei-
spielsweise die forschende Debatte darüber,
was die Kinder der konkreten Schule nach-
weislich voranbringe. Dieses Gemeinsame
dürfe nur nicht »konstruiert, unauthentisch,
gezwungen« sein; wichtig sei, die Lehr-Lern-
Wirklichkeit im Kollegium vorbehaltlos mit-
einander zu diskutieren und auch divergen-
te Stimmen zuzulassen. Dieser Befund ver-
dient auch deshalb breitere Würdigung, weil
er ein Mehr an sinnvoller kollegialer Koope-
ration geradezu herausfordert – und diese
ist ja im Sekundarbereich mit ihrem Fach-
lehrerprinzip vielfach noch ein Stiefkind. In
meinen Weiterbildungstagen für Lehrerkol-
legien erlebe ich immer wieder, wie ergiebig
engerer Austausch und kluge Arbeitsteilung
in fachlicher wie pädagogischer Hinsicht
sein kann.
Was heißt das jetzt
für den Schulalltag?
Grundsätzlich ist festzuhalten: Nur weil eine
Veränderung vorübergehend zusätzlich Ar-
beit macht, dürfen Lehrkräfte sie nicht ein-
fach abweisen. Es gibt vielerlei zweckmäßi-
ge Innovationen, die es verdienen, vom ge-
samten Kollegium getragen zu werden – für
deren Implementierung müssen Schulleitun-
gen allerdings werben, statt sie ungeprüft
durchzusetzen.
Aber innerschulische Festlegungen kön-
nen auch zu weit gehen. So wurden in einer
Schule allen Klassen Lärmampeln verordnet
– ob das wirklich sinnvoll ist, darf bezwei-
felt werden. Die eine Kollegin braucht sie
nämlich gar nicht, weil sie das auf der Be-
ziehungsebene viel dynamischer regelt, für
eine andere ist der formale Rahmen hinge-
gen eine große Hilfe. Und wenn Vorgesetzte
schulpädagogische Moden gar wider alle
Evidenz propagieren, dann wäre es merk-
würdig, wenn erfahrene Lehrkräfte dies wi-
derspruchslos hinnähmen oder die Schule
wechseln müssten. Denn der von Kant ge-
adelte Imperativ endet ja nicht an der Leh-
rerzimmertüre: »Habe Mut, dich deines ei-
genen Verstandes zu bedienen!« Was leich-
ter gesagt als getan ist – wer möchte schon
in Debatten und Konflikten gerne als Miese-
peter dastehen oder um seinen guten Stun-
denplan bangen?
Wenn Innovationen langfristig allzu auf-
wendig sind, steht Lehrkräften übrigens
auch ein offizieller Schritt zu: Überlastungs-
anzeige stellen. Wobei diese besser ‘Gefähr-
dungsanzeige’ hieße – der Arbeitgeber soll
nämlich auf Gefahren hingewiesen werden,
die durch Überlastung des oder der Bediens-
teten entstehen können. Und im Falle recht-
licher Bedenken ist man geradezu verpflich-
tet zu widersprechen, das Beamtenstatusge-
setz nennt das ‘Remonstration’ (§ 36).
Erinnern wir uns an die Lehrkräfte der
Modellschule im Eingangsbeispiel: Sie hät-
ten an Beispielen belegen müssen, dass
schwächere Schülerinnen und Schüler mit
der projektierten Eigenständigkeit grund-
sätzlich überfordert seien und dass deren
verringerte pädagogische Bindung an Lehr-
kräfte prinzipiell ungünstig für ihre Lernent-
wicklung sei. Dafür hätte es durchaus einige
Evidenz gegeben. »Der erste Schritt zum
Lernen ist die Liebe zum Lehrer« formulierte
schon Erasmus von Rotterdam. Und in aktu-
eller Diktion (Joachim Bauer) heißt es: »Der
Mensch ist für den Menschen die Motivati-
onsdroge Nummer eins.«
DER AUTOR
Michael Felten arbeitet nach langem
Lehrerleben als freier Schulentwick-
lungsberater und beantwortet Fragen
unter www.eltern-lehrer-fragen.de.
Er war Kolumnist der ‘Schulfrage’
(ZEIT online) und ist Autor zahlreicher
pädagogischer Sachbücher, etwa
‘Lernwirksam unterrichten’ (mit Elsbeth
Stern, 2014) oder ‘Unterricht ist Bezie-
hungssache’ (Reclam 2020)
HINWEIS
Dieser Fachbeitrag ist als Erstveröffentlichung
auf dem Deutschen Schulportal erschienen
https://deutsches-schulportal.de