Sicht. Ein konsequent unpersönlicher Umgangsstil
und ein Verzicht auf jede emotionale Komponente
der menschlichen Begegnung haben beim Kind
beziehungsweise beim Jugendlichen nicht nur eine
Desaktivierung der Motivationssysteme, sondern
auch eine Aktivierung der Stress-Systeme zur Folge.
Wer also Beziehungsaspekte auszuklammern trach-
t
et, gestaltet trotzdem Beziehung – allerdings auf ei-
ne fatale Weise.
Nervenzellen für Spiegelung
und Resonanz: Das System der
Spiegel-Nervenzellen
Dass Kinder und Jugendliche die Erfahrung der
persönlichen Wahrnehmung, also ‘Beziehung’ brau-
chen, um Motivation zu entwickeln, ist eine pädago-
gisch sehr allgemeine Feststellung, sie kann allen-
falls als eine Art ‘Base Line’ dienen. Das Konstrukt
der ‘Beziehung’ bedarf einer näheren Beschrei-
bung, vor allem einer Darstellung seiner wirksamen
Kernbestandteile. Kern jeder zwischenmenschli-
chen, insbesondere der pädagogischen ‘Beziehung’
ist Spiegelung und Resonanz.
Spiegelung und Resonanz sind Phänomene, wel-
che die Beziehungen zwischen Menschen wesent-
lich unterscheiden von dem Verhältnis, das wir zu
nichtbelebten Objekten haben. Der (vor allem von
Männern geäußerte) Verdacht, Spiegelung und Re-
sonanz seien die Grundübel einer Watte-Pädagogik
und bedeuteten die Verweigerung von Führung, be-
ruht auf einem Irrtum, dem vor allem solche Perso-
nen unterliegen, die selbst keinen guten Zugang zu
den Potenzialen ihrer Spiegelsysteme haben (Studi-
en belegen, dass Funktionsstörungen der Spiegel-
zellen beim männlichen Geschlecht neun Mal so
häufig sind wie beim weiblichen).
Ich werde deutlich machen, dass das System der
Spiegel-Nervenzellen, welches beim Menschen eine
(nicht die alleinige!) Voraussetzung für die Fähigkeit
des einfühlenden Verstehens ist, zugleich jenes In-
strumentarium darstellt, ohne das auch pädagogi-
sche Führung nicht funktionieren kann.
Spiegel-Nervenzellen simulieren beziehungswei-
se imitieren in unserem Gehirn ein Spiegelbild der
inneren Vorgänge, die sich in anderen Personen ab-
spielen, vorausgesetzt, diese Personen befinden sich
im ‘Einzugsbereich’ unserer fünf Sinne. Sehen wir ei-
nen anderen Menschen eine Handlung ausführen,
so wird die Beobachtung dieser Handlung in unse-
rem Gehirn Nervenzellen in Aktion setzen, die auch
dann aktiv werden müssten, wenn wir die beobach-
tete Handlung selbst ausführen müssten.
Spiegelneurone üben also ‘heimlich’ mit, sie sind
die neurobiologische Basis des von Albert Bandura
vor vier Jahrzehnten entdeckten ‘Lernens am Mo-
dell’. Spiegelzellen arbeiten ‘präreflexiv’, d.h. ohne
dass wir bewusst nachdenken müssten. Spiegel-Ner-
venzellen springen nicht nur an, wenn wir andere
handeln sehen, sie lassen uns auch fühlen was an-
dere fühlen, zum Beispiel Freude oder Traurigkeit,
Begeisterung oder Desinteresse, Wohlbefinden oder
S
chmerz. Unsere Spiegelzellen informieren uns nicht
nur über die inneren Vorgänge anderer Menschen,
sie können uns auch anstecken. Ein Mensch (zum
Beispiel ein Pädagoge), der jede Körperspannung
vermissen lässt und gähnt, wird mich (oder die
Schüler) nicht nur spüren lassen, dass er müde ist,
er wird meinen eigenen Befindenszustand (bezie-
hungsweise den der Schüler) verändern.
Was unsere Spiegelzellen aktiviert, ist einerseits
die Sprache (jeder kennt die suggestiven Resonan-
zen, die gesprochene Worte in uns auslösen kön-
nen), mehr noch aber die von uns bewusst oder un-
bewusst wahrgenommene Körpersprache anderer
Menschen (insbesondere Blicke, Mimik, Stimme, Kör-
perhaltung und Bewegungsmuster).
Produkte wechselseitiger Resonanz:
Verstehende Zuwendung
und pädagogische Führung
Spiegelungen und Resonanzen beeinflussen – über-
wiegend implizit – das Geschehen im Klassenzim-
mer. Lehrkräfte können über das Einfühl-Pozenzial
ihrer Spiegelneurone etwas von dem spüren, was in
ihren Schützlingen vor sich geht. Kinder und Ju-
gendliche nehmen dies ihrerseits wahr! Sie spüren
nicht nur, ob sie in Erwachsenen eine Resonanz aus-
lösen, sondern auch, wie sie wahrgenommen wer-
den. Drei zentrale, von Schülern unbewusst an Pä-
dagogen gerichteten Aufträge lauten:
1. »Lass mich spüren, dass ich da bin,
dass ich für Dich existiere!«
2. »Zeige mir durch Deine Resonanzen,
was meine starken und schwachen Seiten sind!«
3. »Lass mich spüren, ob Du – bei aller Kritik –
an mich und an meine Entwicklungspotenziale
glaubst!«
Verstehende Zuwendung, wie sie für Schüler(innen)
spürbar wird, wenn Lehrkräfte Resonanz zeigen, ist je-
doch nur die eine Seite der pädagogischen Medaille.
Lehrkräfte können – und müssen – noch etwas Zwei-
tes einbringen: Sie müssen führen. Führung bedeutet,
dass Pädagogen die Spiegelneurone ihrer Schüler(in-
nen) dazu bringen, in Resonanz zur Lehrkraft zu ge-
hen. Auch hier kommt es darauf an, das Medium
neurobiologischer Resonanzvorgänge zu benutzen:
Sprache und Körpersprache (letztere wird in der Leh-
rerausbildung sträflich vernachlässigt).
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lehrer nrw