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2/2021 · lehrer nrw
demie unvermeidbaren digitalen Instrumenten – um
jeden unmittelbaren Kontakt zu Kindern und Jugendli-
chen ringen, jeden Tag vor Ort, was sich im Übrigen
auch völlig im Rahmen gegenwärtig gültiger Fassun-
gen der Corona-Kontakt- und Schutzverordnungen, für
das Bundesland Hessen zum Beispiel der Fassung vom
11. Januar 2021, bewegt. Programmatisch zugespitzt
müsste die Frage also lauten, wie es gelingen kann,
möglichst viele analoge Erfahrungsräume für Kinder
und Jugendliche während der anhaltenden Krise auf-
rechtzuerhalten und nicht, wie möglichst schnell auf
vorrangig digitale Formate umgestellt werden kann.
Und es gibt eine Vielzahl offener Kinder- bzw. Jugend-
einrichtungen, die dazu ein umfangreiches Know-how
vorhalten und insbesondere sozial benachteiligte He-
ranwachsende im Rahmen begleiteter pädagogischer
Aktivitäten in kleinen Gruppen dabei unterstützen kön-
nen, sich zu bewegen, die eigene Phantasie in der ge-
genständlichen Welt auszuleben, sich mutig auszupro-
bieren, Neues zu entdecken: also sich zu bilden – in der
gemeinsamen Interaktion mit Gleichaltrigen.
Will man das Prinzip des Schutzes besonders vulnerab-
ler Gruppen, das bei der Bewältigung der Epidemie allen
Bekundungen nach im Vordergrund steht und ganz si-
cher auch in nachpandemischer Zeit im Fokus bleiben
muss, auf den gesamten Bildungsbereich ausdehnen,
dann sollte man zwangsläufig die bisherige Engführung
der Diskussionen auf Homeschooling, Digitalisierung und
das Schulsystem überwinden. Dann müsste aus der Kin-
der- und Jugendhilfe heraus gemeinsam mit einer ver-
antwortlichen kommunalen Politik eine Agenda entwi-
ckelt werden, die darauf abzielt, dass Kinder und Jugend-
liche aus sozial schwachen Familien über einen ’Nach-
teilsausgleich’ eine ihren Lebenslagen entsprechende,
differenzierte Förderung erhalten, damit auch über die
Krise hinaus ihre Folgen sozial einigermaßen ausgegli-
chen werden können (vgl. Andresen et al. 2020, 4).
LITERATUR
Sabine Andresen et al.: Nachteile von Kindern, Jugendlichen und
jungen Erwachsenen ausgleichen. Politische Überlegungen im
Anschluss an die Studien JuCo und KiCo, Hildesheim 2020
Peter Becker: Offenheit der Erfahrung, Bewährung im Abenteuer
und Selbsttätigkeit im praktischen Tun. Zum Konzept einer
körper- und bewegungsorientierten Jugendsozialarbeit,
in: neue praxis, 30. Jg., Heft 5/2000, 472-485
Hanna Dumont und Petra Stanat: Wachsende Ungleichheit.
Ob Schüler zu Hause neues Wissen erwerben und ob sie
über- oder wiederholen, liegt nicht nur an ihnen, sondern
auch an den Eltern, in: FAZ vom 30.April 2020, 7
Tim Engartner und Lisa-Marie Schröder: Apple, Google & Co.:
Kommerz im Klassenzimmer, in: Blätter für deutsche und
internationale Politik, 65 Jg., Heft 7/2020, 45-48
Klaus Fischer: Die Bedeutung der Bewegung für die Bildung und
Entwicklung im (frühen) Kindesalter. In: Schäfer, G.E./ Staege, R./
Meiners, K. (Hrsg.): Kinderwelten – Bildungswelten. Unterwegs zur
Frühpädagogik. Berlin 2010, 118
Gerda Holz und Antje Richter-Kornweitz: Corona-Chronik. Gruppen-
bild ohne (arme) Kinder. Eine Streitschrift, Frankfurt Oktober 2020;
https://www.iss-ffm.de/fileadmin/assets/themenbereiche/
downloads/Corona-Chronik_Streitschrift_final.pdf)
Andreas Reckwitz: Gesellschaft der Singularitäten, Frankfurt 2018
Jürgen Zinnecker: Sportives Kind und jugendliches Körperkapital,
in: Neue Sammlung, 30. Jg., Heft 4/1990, 645-653
Fußnoten
1) Diesen Zusammenhang haben der Siegener Erziehungswissenschaftler Jür-
gen Zinnecker mit seinen Überlegungen zum »jugendlichen Körperkapital«
(1990) und insbesondere der Marburger Sportsoziologe Peter Becker (2000)
aufgegriffen, der – unter anderem bezugnehmend auf die Arbeiten von
Pierre Bourdieu und die Cultural Studies der Birmingham School – von kör-
perbezogenen Lebensstilen bei Jugendlichen spricht.
2) Dabei ist es auch bemerkenswert, welchen ungefilterten und selbstverständ-
lichen Zugang lobbyistische Aktivitäten der Digitalindustrie in Publikations-
formaten der Kinder- und Jugendhilfe erhalten, ohne in diesen entspre-
chend kritisch reflektierend eingeordnet zu werden. Beispiele dafür liefert
das weithin bekannte Fachkräfteportal (FKP) der Arbeitsgemeinschaft für
Kinder- und Jugendhilfe (AGJ) und von IJAB (Fachstelle für Internationale
Jugendarbeit der Bundesrepublik Deutschland e. V.). Allein zwölf Stellung-
nahmen der Bitkom – des Digitalverbandes Deutschlands, der nach eige-
nen Angaben 2.700 Unternehmen der digitalen Wirtschaft vertritt, darunter
»nahezu alle globalen Player« – verzeichnet das FKP im Zeitraum zwischen
Juni 2020 und Januar 2021; darunter Papiere mit den Titeln: »Bitkom fordert
das Recht auf digitale Bildung«, »Bitkom fordert zügigen Aufbau einer natio-
nalen Bildungsplattform«, »Bitkom präsentiert zehn Lehren aus der Corona-
Krise für einen digitalen Staat«. Nun mag einem schon angst und bange
werden, wenn frank und frei zum Beispiel über einen digitalen Staat fabu-
liert wird. Umso irritierender ist es, dass an zentralen Schnittstellen tätige Ak-
teure der Kinder- und Jugendhilfe die interessengeleiteten Forderungen der
Bitkom, die auf eine weitere digitalökonomische Kolonialisierung und Kom-
modifizierung von Lebens- und Bildungswelten hinauslaufen, scheinbar als
Naturgesetz begreifen und die Stellungnahmen völlig unkommentiert wei-
terleiten, als würden sie sich durch eine neutrale, wissenschaftlich begrün-
dete Fachexpertise auszeichnen. Es erweist sich als großes Problem, dass ei-
ne offene, kritische Debatte über Gewinne und Verluste der Digitalisierung
für das Aufwachsen – jenseits von eher reaktiv gelagerten medienpädago-
gischen Thematisierungen – in der Kinder- und Jugendhilfe und ihren
Bezugswissenschaften bisher nicht geführt worden ist (vgl. dagegen zum
Beispiel zum Handlungsfeld Schule Engartner et al. 2020 und die Publikatio-
nen sowie Positionspapiere rund um das Bündnis für humane Bildung
www.aufwach-s-en.de oder die Gesellschaft für Bildung und Wissen e.V.; s.
auch die soziologisch und psychoanalytisch gerahmten wissenschaftlichen
Ansätze von Sherry Turkle, Vera King u.a. zuletzt in Psyche. Zeitschrift für Psy-
choanalyse 9/10, 2019). Auch eine solche Debatte, die die blinden Flecken
der Digitalisierung in den Blick nimmt, aber gleichzeitig platte Kulturkritik
vermeidet, ist spätestens nach der Pandemie dringend erforderlich.
ZUGRIFF AUF
FAZ vom 20. Januar 2021: https://www.faz.net/einspruch/justiz/
landessozialgericht-thueringen-schulcomputer-vom-jobcenter-
17154889.html
Jugendhilfeportal vom 11. Februar 2021: https://www.jugendhilfe-
portal.de/suche/?tx_fkpcore_searchv2%5Bcontroller%5D=Se-
arch&cHash=7209e37d958d8cc600ee6b2e3baa4718#ergebnis
Tagesspiegel vom 16. November 2020; https://www.tagesspiegel.
de/wissen/homeschooling-in-der-coronakrise-hohe-lernverluste-
durch-schulschliessungen/26628096.html