3
Unter der Lupe
Ein Blick zurück
und nach vorn
15
Dossier
Persönlichkeits-
entwicklung in der
Corona-Pandemie
28
Recht§ausleger
Lieber graue
Maus als bunter
Vogel?
6
Im Brennpunkt
Auch starke Schultern
können nicht alles
tragen
Chance
auf mehr
Normalität?
Pädagogik & Hochschul Verlag
.
Graf-Adolf-Straße 84
.
40210 Düsseldorf · Foto: AdobeStock
1781 | Ausgabe 4/2021 | JUNI | 64. Jahrgang
INHALT
lehrer nrw ·
4/2021
2
UNTER DER LUPE
Sven Christoffer:
Ein Blick zurück und nach vorn
3
MAGAZIN
MINT weiter nach vorne bringen 4
Studie: Differenzierung und
Bildungsgerechtigkeit 5
BRENNPUNKT
Sarah Wanders: Auch starke Schultern
können nicht alles tragen 6
JUNGE LEHRER NRW
Marcel Werner: Hausaufgaben:
Fluch oder Segen? 8
FORUM
Wir waren Glückskinder – trotz allem 10
LESERBRIEF
Scharfe Kritik am Kernlehrplan
’Informatik 5/6’ 11
TITEL
Schlechtes Zeugnis für die Ökonomische
Bildung in Deutschland
12
NRW bei der Ökonomischen Bildung
im oberen Mittelfeld 13
DOSSIER
Persönlichkeitsentwicklung
in der Corona-Pandemie 15
BATTEL HILFT
Kolumne wofür? 19
SCHULE & POLITIK
Ulrich Gräler: halb:herzig?
Die zweite Fremdsprache in der Sekundarstufe I 20
Sarah Awad & Albert Ziegler: »Es ist noch
kein Meister vom Himmel gefallen«
Zum theoretischen Hintergrund
der Begabungsförderung
22
Jochen Smets:
Die Krise als Chance genutzt 24
KOLUMNE
Der Satz des Pythagoras 26
SENIOREN
In eigener Sache 27
Verkehrte Welt? 27
Trauer um Johannes Böhnlein, RR.i.R. 27
Wie und wann geht es weiter? 27
RECHT
§
AUSLEGER
Christopher Lange:
Lieber graue Maus als bunter Vogel?
28
ANGESPITZT
Jochen Smets: Macht die Schulen auf! 30
HIRNJOGGING
Aufgabe 1: Visuelle Konzentration
Aufgabe 2: Wörter ergänzen
31
IMPRESSUM
lehrer nrw
– G 1781 –
erscheint sieben Mal jährlich
als Zeitschrift des
‘lehrer nrw’
ISSN 2568-7751
Der Bezugspreis ist für
Mitglieder des
‘lehrer nrw’
im Mitgliedsbeitrag enthal-
ten. Preis für Nichtmitglieder
im Jahresabonnement:
35,– inklusive Porto
Herausgeber und
Geschäftsstelle
lehrer nrw
Nordrhein-Westfalen,
Graf-Adolf-Straße 84,
40210 Düsseldorf,
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Web: www.lehrernrw.de
Redaktion
Sven Christoffer,
Ulrich Gräler,
Christopher Lange,
Jochen Smets,
Sarah Wanders,
Marcel Werner
Düsseldorf
Verlag und
Anzeigenverwaltung
PÄDAGOGIK &
HOCHSCHUL VERLAG
dphv-verlags-
gesellschaft mbH,
Graf-Adolf-Straße 84,
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Zur Zeit gültig:
Anzeigenpreisliste Nr. 21
vom 1. Oktober 2020
Zuschriften und
Manuskripte nur an
lehrer nrw
,
Zeitschriftenredaktion,
Graf-Adolf-Straße 84,
40210 Düsseldorf
Für unverlangt eingesandte
Manuskripte kann keine Ge-
währ übernommen werden.
Namentlich gekennzeichnete
Beiträge geben die Meinung
ihrer Verfasser wieder.
Ein Blick zurück
und nach vorn
»Die Zeit ist aus den Fugen.« (Hamlet)
»The time is out of joint« ließ Shakespeare den
Prinzen von Dänemark vor über vierhundert Jah-
ren in ’Hamlet’ ausrufen. Der Satz eignet sich
aber auch vortrefflich, um unsere heutige, pan-
demiegeplagte Situation trefflich zu beschreiben.
Wir haben ein Schuljahr wie kein zweites hinter
uns – und hoffentlich auch wie kein weiteres.
Schule unter
Pandemiebedingungen
Wenn man sich vergegenwärtigen will, was alle
am Schulleben Beteiligten geleistet haben,
um Bildung in Pandemiezeiten in unserem
Bundesland aufrecht zu erhalten, hilft ein
Blick auf die zahlreichen Unterrichtsmo-
delle, die seit dem Ausbruch
des Virus gefahren
werden muss-
ten: Lernangebote auf
Distanz – rollierendes System
– Präsenzunterricht – freiwillige Prä-
senz – Distanzunterricht – Wechselunterricht –
Präsenzunterricht (formerly known as ’Unter-
richt’).
Unterricht ist Kommunikation und musste un-
ter Masken abgehalten werden. Unterricht ist so-
ziales Miteinander und konnte fast ausschließ-
lich in frontaler Form stattfinden. Unterricht ist
Beziehungsarbeit, und Beziehungen auf Distanz
sind schwierig. Deshalb ist das Ende dieses
Schuljahres der richtige Zeitpunkt, um kurz inne-
zuhalten und denjenigen zu danken, die unter
Inkaufnahme erheblicher gesundheitlicher Risi-
ken all diese Herausforderungen und Überforde-
rungen gemeistert haben. Ihnen allen ist un-
glaublich viel abverlangt und zugemutet wor-
den. Das verdient meinen tiefen Respekt!
Zukunftsaufgaben
Ob es nach den Sommerferien an unseren Schu-
len eine Rückkehr zur Normalität geben kann,
ist noch längst nicht ausgemacht. Klar ist aber
schon jetzt, dass es Aufgaben geben wird, de-
nen wir uns zuwenden müssen. Durch die pan-
demiebedingten Schulschließungen sind bei ei-
nem Teil der Schülerschaft kognitive Lernrück-
stände und/oder soziale sowie psychische Ent-
wicklungsrückstände entstanden. Deshalb ist es
gut, dass das Landesförderprogramm ’Extra-Zeit
zum Lernen’ mit den Schwerpunkten
außerschu-
lische Maßnahmen
und
Ferienprogramme
be-
reits angelaufen ist und bis ins Jahr 2022 ver-
längert wurde. Und auch die in Aussicht gestell-
ten Bundesmittel aus dem ’Aktionsprogramm
Aufholen nach Corona’ mit den Schwerpunkten
Abbau von Lernrückständen, Kinder und Ju-
gendliche mit Freiwilligendienstleistenden und
zusätzlicher Sozialarbeit an Schulen unterstüt-
zen und fördern sowie Kinder- und Jugendfrei-
zeiten, außerschulische Jugendarbeit und An-
3
4/2021 ·
lehrer nrw
UNTER DER LUPE
von SVEN CHRISTOFFER
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Corona hat Schulen,
Lehrkräfte und Schüler
hart getroffen.
Nun, wo Hoffnung
auf ein Ende der Pandemie besteht, müs-
sen Zukunftsaufgaben angepackt werden –
damit die aus den Fugen geratene Zeit wie-
der in normale Bahnen zurückfindet.
lehrer nrw ·
4/2021
4
UNTER DER LUPE
gebote der Kinder- und Jugendhilfe
werden
dringend benötigt.
Keine Schnellschüsse
Wie die Gelder aus dem Bundesprogramm
verausgabt werden, muss sorgfältig abge-
wogen werden.
lehrer nrw
ist jedenfalls da-
von überzeugt, dass die Schule der eigentli-
che Ort ist, um die kognitive, emotionale und
soziale Entwicklung der Schülerinnen und
Schüler bestmöglich zu fördern – im Unter-
richt und durch außerunterrichtliche Angebo-
te. Förderung braucht Professionalität, und
die Expertinnen und Experten dafür sind un-
sere Lehrkräfte und das an Schulen tätige
pädagogische Personal. Deshalb braucht es
finanzielle Mittel für zusätzliches Fachperso-
nal an den Schulen und für differenzierte
Förderung. Nur die Verankerung im System
Schule kann Schnellschüsse verhindern.
Nachhaltigkeit als
leitendes Prinzip
Die Maßnahmen müssen länger wirken als
sie dauern. Nachhaltigkeit garantieren aber
nur der Lernort Schule und das dort tätige
Personal. Notwendig sind deshalb
die Absenkung der Schüler-Lehrer-
Relation an allen Schulformen;
die Absenkung der Klassenfrequenz-
richt-, höchst- und -mindestwerte
sowie der Bandbreiten;
die Einstellung zusätzlicher pädago-
gischer und sozialpädagogischer
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
gemäß § 58 Schulgesetz;
die Aufstockung der Stellen gegen
Unterrichtsausfall und für individuelle
Förderung.
Es gibt also noch viel zu tun, und wir blei-
ben dran. Versprochen! Jetzt aber wünsche
ich Ihnen und Ihren Familien, dass Sie in den
Sommerferien ein wenig zur Ruhe kommen
und die Zeit finden, sich von den enormen
Strapazen der vergangenen Monate zu er-
holen und neue Kraft zu tanken – Sie haben
es sich verdient!
Sven Christoffer ist Vorsitzender des
lehrer nrw
sowie Vorsitzender des HPR Realschulen
E-Mail: christoffer@lehrernrw.de
MINT weiter nach
vorne bringen
Foto: 2021-zdiNRW
Während der Konferenz diskutierte Klaus Kaiser, Parlamentarischer Staatssekretär
im NRW-Wissenschaftsministerium, mit der brandenburgischen Bildungsministerin und Präsi-
dentin der Kultusministerkonferenz, Britta Ernst (r.o.), und Dr. Sigrun Nikutta, Vorstand Güter-
verkehr Deutsche Bahn AG (l.u.), über aktuelle Herausforderungen in der MINT-Bildung.
M
M
it dem Ziel, MINT-Macher und
-Macherinnen aus ganz Deutsch-
land miteinander zu vernetzen, startete
am 26. April eine bundesweite Online-
Konferenz, realisiert von der Körber-Stif-
tung, dem NRW-Ministerium für Kultur
und Wissenschaft und dem Nationalen
MINT Forum. Maßgeblich beteiligt waren
auch zahlreiche Akteure von zdi (Zukunft
durch Innovation NRW), dem mit über
4.500 Partnern aus Wirtschaft, Schule und
Hochschule sowie öffentlichen Einrichtun-
gen europaweit größten Netzwerk zur För-
derung des MINT-Nachwuchses.
Gerade im Pandemiejahr 2020 konnten
die flexiblen Strukturen der zdi-Netzwerke
und zdi-Schülerlabore dabei helfen, On-
line-Kurse anzubieten, um jungen Men-
schen trotz aller Einschränkungen die
Chance zu geben, sich mit MINT zu be-
schäftigen. Mit der ‘MINT-Community’, der
neuen zdi-Online-Plattform, wurde im ver-
gangenen Herbst eine weitere Basis ge-
schaffen, um landesweit digitale Angebote
zu etablieren. Diese Plattform erlaubt es
Schülerinnen und Schülern, in einem da-
tensicheren Raum miteinander ins Ge-
spräch zu kommen, Projekte ins Leben zu
rufen und andere MINT-Begeisterte zu
treffen. Gleichzeitig lassen sich hierüber
zdi-Kurse suchen und finden, so dass ein
einzigartiger MINT-Marktplatz für NRW
entstanden ist, wie die Initiatoren hervor-
heben.
Während der anschließenden Work-
shops berichteten zdi-Netzwerke, welche
Herausforderungen sie in der Ansprache
von Mädchen sehen, wie erfolgreiche
Community-Arbeit funktioniert und wieso
MINT-Bildung schon in der Kita sinnvoll
ist. Einen neuen Blick auf die MINT-Bil-
dung warf auch der Film »Mit MINT in die
Zukunft? Warum Wissenschaft und Technik
immer wichtiger werden«, der bei der Ver-
anstaltung Premiere feierte. Persönlichkei-
ten wie der Wissenschaftsjournalist Ranga
Yogeshwar, Joachim Lachmuth von der
Sendung mit der Maus und Dr. Ekkehart
Winter von der Deutschen Telekom Stif-
tung sprechen aus ihrer Perspektive über
MINT-Bildung und deren Bedeutung für
unsere Zukunft.
Der Link zum Film:
www.youtube.com/watch?v=rnZSGwMboFA
MAGAZIN
Studie:
Differenzierung und
Bildungsgerechtigkeit
»
»
E
E
ine strikte Leistungsdifferenzierung
beim Übergang auf die weiterfüh-
rende Schule führt einer neuen Studie zu-
folge nicht zu stärkerer Bildungsungleich-
heit. Eine kognitive Homogenisierung füh-
re demnach vielmehr zu einem insgesamt
besseren Leistungsniveau, von dem beson-
ders Kinder in den unteren Bildungsgän-
gen profitierten.« So resümiert das Bil-
dungsportal ’News4Teachers’ eine Unter-
suchung des Mannheimer Soziologen
Hartmut Esser und des Bamberger Wissen-
schaftlers Julian Seuring. Mithilfe von Da-
ten aus der ’National Educational Panel
Study’ (NEPS) für die deutschen Bundes-
länder haben die beiden sich mit der Frage
beschäftigt, wie sich eine unterschiedlich
strikt geregelte Differenzierung auf die
Leistungen in der Sekundarstufe auswirkt.
Die Ergebnisse widersprächen der in der
Bildungsforschung verbreiteten Standard-
position, dass Differenzierung eher Un-
gleichheiten schaffe, als sie einzuebnen
deutlich, haben Esser und Seuring laut
News4Teachers festgestellt. So hätten sich
die Effekte sozialer Herkunft bei einer strik-
ten Leistungsdifferenzierung eher abge-
schwächt. Die Leistungen in der Sekundar-
stufe nähmen zu, insbesondere in der Kom-
bination mit einer homogeneren Zusam-
mensetzung der Schulklassen nach kogniti-
ven Fähigkeiten, so ein Befund der beiden
Wissenschaftler. »Es hat sich gezeigt, dass
in den strenger differenzierten Systemen
die Schülerinnen und Schüler später insge-
samt ein höheres Leistungsniveau erreichen
können. Das hängt offenbar mit der homo-
generen Zusammensetzung der Schüler-
schaft in den jeweiligen Klassen zusammen.
Wenn also die Aufteilung der Schülerinnen
und Schüler möglichst leistungsbasiert um-
gesetzt wird, bringt das Vorteile, und das
wiederum wirkt sich auf die Leistungsge-
rechtigkeit aus«, erklärt Seuring in einem
Interview mit dem Deutschen Schulportal.
Wie News4Teachers weiter berichtet,
empfehlen Esser und Seuring den bildungs-
politisch Verantwortlichen eine wieder stär-
kere Orientierung an Kriterien der Leistungs-
differenzierung, um die Effizienz des Bil-
dungssystems zu stärken und soziale Bil-
dungsungleichheiten zu dämpfen.
INFO
www.news4teachers.de/2021/03/studie-gegliedertes-schulsystem-
staerkt-die-bildungsgerechtigkeit/
https://deutsches-schulportal.de/bildungswesen/
verstaerkt-das-gegliederte-schulsystem-soziale-ungleichheiten/
Foto: AdobeStock/masterzphotofo
Entgegen der landläufigen Meinung,
dass Differenzierung Bildungsungerechtigkeit eher
begünstigt, zeigt die aktuelle Studie ein gegenteiliges
Bild: Differenzierung könne den Einfluss sozialer Herkunft
abschwächen und zudem leistungsfördernd wirken.
MAGAZIN
lehrer nrw ·
4/2021
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BRENNPUNKT
Auch starke
Schultern können
nicht alles tragen
Insbesondere an Realschulen fehlt es an der personellen und organisatorischen Ausstattung,
um die Aufgaben und Herausforderungen der Zukunft zu bewältigen. Das von der Landesre-
gierung im Koalitionsvertrag gegebene Versprechen der Gleichbehandlung aller Schulformen
ist – bisher – nicht eingelöst.
A
A
ls Lehrerin bringe ich meinen Schü-
lerinnen und Schülern im Rahmen
der Werteerziehung bei, dass man
Zusagen und Versprechen einhalten muss.
Das gleiche gilt für mich als Mutter gegen-
über meiner Tochter. Und genau das gleiche
erwarte ich umso mehr von meiner Landes-
regierung. 2017 war im Koalitionsvertrag
von CDU und FDP zu lesen: »Wir wollen die
Gleichbehandlung aller Schulformen wieder-
herstellen. Die Benachteiligung von Real-
schulen und Gymnasien werden wir been-
den.« Ich habe dieses Versprechen ernst ge-
nommen. Leider warte ich bis heute auf
seine Einlösung.
Schulentwicklung braucht
pädagogische Führung
In den vergangenen Jahren sind auf die
Schulen unseres Landes zahlreiche neue
Aufgaben zugekommen. Neben Integrati-
von SARAH WANDERS
BRENNPUNKT
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4/2021 ·
lehrer nrw
on und Inklusion gilt es nun auch noch die
Digitalisierung voranzubringen und im
Rahmen der Schulentwicklung zu imple-
mentieren. Dies kann nicht alleine von der
Schulleitung, an vielen Realschulen beste-
hend aus dem Schulleiter/der Schulleiterin
und einem Konrektor/einer Konrektorin,
geleistet werden. Noch immer gilt eine
Mindestschülerzahl von 540 Schülerinnen
und Schülern als Grenze für den zweiten
Konrektor. Da es an Realschulen keine wei-
teren Funktionsstellen gibt, müssen all die
neuen Herausforderungen von dem klei-
nen Schulleitungsteam und häufig den Kol-
leginnen und Kollegen vor Ort geschultert
werden. Wenn man Schulentwicklung je-
doch ernst nimmt, muss man den Schulen
allerdings auch die personellen Ressourcen
zur Verfügung stellen, um eine nachhaltige
Schulentwicklung zu betreiben.
Die vorgenannten Aufgaben und Heraus-
forderungen müssen unabhängig von der
Schulform betrachtet werden, da sie nahe-
zu alle Schulen betreffen. Folglich müssen
auch alle Schulformen gleichermaßen mit
Personal zur Umsetzung ausgestattet wer-
den. Dies gilt natürlich nicht nur für Real-
schulen, sondern für Hauptschulen gleicher-
maßen.
Die Sekundarschule
als Vorbild
Betrachtet man die Organisation und Ge-
schäftsverteilung für Sekundarschulen
(BASS 21-02 Nr. 9), so stellt man fest, dass
die Anzahl der Funktionsstellen eine andere
ist. Neben der Schulleiterin/dem Schulleiter
und der Vertreterin/dem Vertreter gibt es
hier noch die didaktische Leitung, maximal
zwei Abteilungsleiterinnen oder -leiter und
Koordinatorinnen und Koordinatoren, die
auf Vorschlag der Schulleitung von der
Schulaufsicht zugewiesen werden. Zum
Aufgabenbereich der didaktischen Leitung
gehören unter anderem die ’Entwicklung
des Schulprogramms’, ’Koordination der
Differenzierungs- und Fördermaßnahmen’,
’Planung und Organisation von innerschuli-
schen Lehrerfortbildungsveranstaltungen’
oder ’pädagogische Beratung der Schullei-
tung bei der Entwicklung der Organisati-
onsstrukturen der Schule’. All diese Aufga-
ben müssen auch an Realschulen geleistet
werden – nur leider von weniger Personen
in Funktionsämtern oder von Lehrerinnen
und Lehrern zum Nulltarif, denn es handelt
sich um klassische Aufgaben eines zweiten
Konrektors bzw. einer zweiten Konrektorin,
die es nun einmal leider nicht an allen
Schulen gibt. Die Gespräche mit Kollegin-
nen und Kollegen an Sekundarschulen zei-
gen immer wieder, wie wichtig die Vielzahl
an Funktionsstellen bzw. die Verteilung der
Aufgaben auf mehrere Schultern für eine
gelingende, kontinuierliche und nachhaltige
Schulentwicklung ist. Hier geht es nicht da-
rum, Schulformen gegeneinander auszuspie-
len, sondern um eine Gleichbehandlung, oh-
ne einer anderen Schulform etwas zu miss-
gönnen oder wegzunehmen.
lehrer nrw
fordert:
Einlösen der Zusagen aus dem Koalitions-
vertrag durch die Landesregierung
2. Realschulkonrektor/2. Realschulkonrek-
torin weit unterhalb einer Schülerzahl von
540 Schülerinnen und Schülern – am bes-
ten an allen Realschulen
Erweiterung der Funktionsstellen um eine
Abteilungsleitung an Realschulen mit
Hauptschulbildungsgang
mindestens eine Koordinatorenstelle an
allen Schulformen der Sekundarstufe I
(zum Beispiel für Digitalisierung)
Der Hauptpersonalrat für Lehrkräfte an
Realschulen hat sich in der letzten Gemein-
schaftlichen Besprechung mit Schulministe-
rin Yvonne Gebauer am 10. Mai 2021 für
die Absenkung der Mindestschülerzahl für
den 2. RKR sowie weitere Funktionsstellen
eingesetzt. Bezüglich der Absenkung der
Mindestschülerzahl ist das Schulministerium
auch schon initiativ geworden. Die Umset-
zung hängt jedoch wie so häufig von den
finanziellen Mitteln ab, die vom Finanzmi-
nisterium zur Verfügung gestellt werden.
Bezüglich des weiteren Ausbaus von Funkti-
onsstellen machte man dem Hauptpersonal-
rat Realschulen leider wenig Hoffnung.
Angesichts der Tatsache, dass im Mai
nächsten Jahres Landtagswahlen in Nord-
rhein-Westfalen stattfinden, hat die jetzige
Landesregierung nicht mehr allzu viel Zeit,
ihr Versprechen einzulösen.
So möchte ich enden mit einem Zitat aus
Goethes Faust: »Die Botschaft hör ich wohl,
allein mir fehlt der Glaube
In der Hoffnung, eines Besseren belehrt
zu werden.
Sarah Wanders ist stellv. Vorsitzende des
lehrer nrw und stellv. Vorsitzende des HPR Realschulen
E-Mail: wanders@lehrernrw.de
Foto: AdobeStock/Jörg Lantelme
Mit der Einlösung von
Versprechen nimmt es
die Politik bisweilen
nicht so genau.
Diese Erfahrung machen gerade
insbesondere die Realschulen.
lehrer nrw ·
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JUNGE LEHRER NRW
von MARCEL WERNER
Hausaufgaben:
Fluch
oder
Segen?
Ein Plädoyer für den Sinn und
die Notwendigkeit von
Hausaufgaben.
D
D
ie Notwendigkeit der Hausaufgaben
ist ein Streitthema unter Pädagogen.
Sie haben viele Befürworter, aber
auch einige Kritiker, welche sie am liebsten
ganz abschaffen würden. Ich persönlich bin
der festen Überzeugung, dass sie zu unse-
rem Schulalltag dazu gehören und eine Not-
wendigkeit des Lernens sind. Denn gerade
in den Hauptfächern dienen sie der Vertie-
fung und Wiederholung.
Wenn die heimische
Lernstruktur versagt
Die Hausaufgaben sind demzufolge ein Teil
der Gesamtheit des schulischen Lernens.
Gleichwohl sie in vielen Familien ein stress-
erzeugendes Thema sind und somit einen
geringen Lernerfolg erzeugen, dürfen sie
dennoch nicht abgeschafft werden. Viel-
mehr müssen wir Lehrer und Lehrerinnen
uns mit der Ursache auseinandersetzen,
warum unsere Schülerinnen und Schüler die
Hausaufgaben nicht machen können. Denn
unsere Schülerinnen und Schüler machen
ihre Hausaufgaben selten nicht, weil sie die
Lehrerin oder den Lehrer ärgern möchten
oder weil sie zu faul gewesen sind, sondern
weil die heimische Lernstruktur versagt hat.
Denn in den vielen Familien unserer Schüler-
klientel gibt es keine Tagesstruktur, oder die
Eltern sind schlichtweg nicht in der Lage, ih-
ren Kindern als Lernbegleiter zur Seite zu
stehen, da ihnen selbst die fachliche Exper-
tise fehlt.
Die Kompetenz, selbst-
gesteuert zu lernen
Viel deutlicher als die Hausaufgaben hat
uns dieses heimische Versagen der Distanz-
unterricht gezeigt. Die Kompetenz, selbstge-
steuert zu lernen, muss demzufolge in der
Schule erlangt werden, bevor die Hausauf-
gaben die gewünschten Früchte tragen kön-
nen. Fehlt diese Kompetenz, fällt es insbe-
sondere den Schülerinnen und Schülern der
sechsten bis neunten Klasse schwer, die
Hausaufgaben zielführend zu bearbeiten.
Das führt zu Stress bei den Lehrerinnen und
Lehrern sowie zu Mitteilungen an die Eltern,
was wiederum Stresserzeugung innerhalb
der Familie produziert. Spätestens, wenn
dieser Punkt erreicht ist, geht es nur noch
darum, welcher der drei Akteure zuerst auf-
gibt. Damit die Hausaufgaben demzufolge
einen Lernerfolg erwirtschaften können,
müssen die Schulen ein Hausaufgabenkon-
zept erarbeiten. Hier gibt es viele gute Mög-
lichkeiten.
Erfolgreiches
Hausaufgabenkonzept
Ich habe damals bei meiner fünften Klasse
folgendes Konzept eingeführt, das ich an ei-
ner ’Problemschule’ in Mainz kennengelernt
und mir dort in Teilen abgeschaut habe.
(Kurze Hintergrundinformation zu meiner
Stressfaktor Hausaufgaben:
Viele Schüler empfinden Haus-
aufgaben als Belastung –
auch weil es zuhause
oft an der erforder-
lichen Lernstruktur
mangelt.
Foto: AdobeStock/vejaa
JUNGE LEHRER NRW
Marcel Werner ist Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft
junge
lehrer nrw
E-Mail: werner@lehrernrw.de
aktuellen Schule: Ich unterrichte an der
Gottfried-Klinkel-Realschule in Erftstadt,
und wir sind eine Halbtagsschule.) Folgen-
de Aspekte habe ich in dem Konzept auf-
gegriffen:
Hilfestellung, Konsequenz,
selbstgesteuertes Lernen.
Die Eltern
meiner Klasse wurden zu Beginn des
Schuljahres über die Vorgehensweise des
Konzeptes selbstverständlich informiert
und haben die verbindliche Teilnahme ihrer
Kinder freiwillig schriftlich zugesichert.
Meine Schulleitung genehmigte mir da-
mals eine AG im Zuge des WP 2 Bereichs.
Diese wurde von Schülerinnen und Schü-
lern der neunten und zehnten Klasse be-
sucht, die zu den leistungsstarken in ihrem
Jahrgang gehörten. Ihre Aufgabe war es,
meine Fünftklässler als LernbegleiterInnen
bei den Hausaufgaben zu unterstützen.
Damit gelang es mir, den Schülerinnen und
Schülern die
Hilfestellungen zu bieten,
die sie zuhause nicht erhalten konnten,
weil die Eltern beispielsweise berufstätig
waren.
Die AG fand donnerstags nachmittags
zwischen 14 Uhr und 16 Uhr statt. Meine
Fachkollegen hatten Formulare, mit denen
sie mich informierten, wenn die Schülerin-
nen oder Schüler ihre Hausaufgaben nicht
hatten oder Lerndefizite zu erkennen waren.
Damit war der betreffende Fünftklässler für
den darauffolgenden Donnerstag angemel-
det, die Information an die Eltern habe ich
übernommen. Der Termin ist für ihn verbind-
lich gewesen, und nicht gemachte Hausauf-
gaben hatten so eine direkte
Konsequenz.
Insbesondere in den Sommermonaten hat
es viele Schülerinnen und Schüler doch sehr
geärgert, länger in der Schule bleiben zu
müssen.
Positive Bilanz
Mit der Hilfe ihrer LernbegleiterInnen, mei-
ner KollegInnen und mir als Klassenlehrer
erlangten die Schülerinnen und Schüler die
Fähigkeit,
selbstgesteuert zu lernen. Mit
stetig steigendem Lernerfolg meiner Schüle-
rinnen und Schüler sanken die Besucherzah-
len in der AG. Gegen Ende des Schuljahres
haben die Schülerinnen und Schüler sich
meist nur noch freiwillig gemeldet, wenn sie
Unterrichtsinhalte nicht verstanden hatten,
um die angebotenen Hilfestellungen zu nut-
zen.
Letztlich lässt sich festhalten, dass das
System Schule in dem von mir praktizierten
Konzept zwar einen Teil der familiären Auf-
gaben übernommen hat und das mit viel
Mehrarbeit verbunden gewesen ist, aber es
mein Lehrer-Leben im Nachgang doch sehr
erleichtert. Inzwischen kann ich mit gutem
Gewissen sagen, dass die Hausaufgaben für
die Qualität meines Unterrichts ein Segen
sind.
lehrer nrw ·
4/2021
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FORUM
Wir waren Glückskinder –
trotz allem
Der Historiker und Publizist Prof. Dr. Michael Wolffsohn er-
zählt eine bewegende deutschjüdische Familiengeschichte.
In seiner Rezension erklärt Josef Kraus, 1987 bis 2017 Präsi-
dent des Deutschen Lehrerverbandes, warum das Buch
Thema im Schulunterricht werden sollte.
E
E
s kommt selten vor, dass renom-
mierte Wissenschaftler und erfolg-
reiche Sachbuchautoren Kinder-
und Jugendbücher schreiben. Vielleicht
ist das ganz gut so. Aber es gibt Ausnah-
men, und zwar gewinnbringende und
gelungene. Michael Wolffsohn gehört an
vorderer Stelle dazu. Soeben hat er für
Heranwachsende bei dtv eine ’deutschjü-
dische Familiengeschichte’ veröffentlicht,
so der Untertitel. ’Wir waren Glückskin-
der – trotz allem’ lautet der Haupttitel
des Buches.
»Glückskinder – trotz allem«? Ja, denn
Wolffsohn verschweigt nichts aus den dun-
kelsten Jahren deutscher Geschichte und
deren Folgen. Michael Wolffsohn ist nicht
irgendwer. Der am 17. Mai 1947 in Tel Aviv
in eine deutsch-jüdische Familie hineinge-
borene und mit seiner Familie 1954 nach
Deutschland zurückgekehrte Mann wurde
zu einem der renommiertesten Historiker
neuester Geschichte.
Kein Buch
mit Zeigefinger
Nun also sein Kinder- und Jugendbuch ei-
ner deutschjüdischen Familiengeschichte.
Er hat es für seine Enkel geschrieben. Es
ist kein Buch mit dem Zeigefinger. Es ist
ein liebevolles Buch, eine Hommage des
Autors an seine Familie, die aus Bamberg
und Berlin stammt. Das historische Gerüst
des Buches sind, wie am Ende in Zeittafeln
dargestellt, die Ereignisse von 1919 bis
Mitte der 1960er Jahre: Weimarer Repu-
blik, Machtergreifung, Rassengesetze,
Pogromnacht, Shoa, Weltkrieg, Kapitulati-
on, Wiederannährung der Bundesrepublik
und Israels mit Adenauer und Ben Gurion.
Parallel dazu, ebenfalls in einer Zeittafel
dokumentiert: die Geschichte Palästinas
bzw. Israels.
Das Buch sollte Eingang in den Schul-
unterricht finden – im besonderen in den
Fächern Deutsch, Geschichte, aber auch
Religionslehre/Ethik. Und zwar als Klas-
senlektüre vor allem der sechsten bis ach-
ten Jahrgangsstufen, also für Heranwach-
sende zwischen dem 12. und 14. Lebens-
jahr.
Der Wissenschaftler Wolffsohn kann
überzeugend altersgerecht schreiben. Da
merkt man ihm die vielen Gespräche mit
seinen Enkeln Anna, Noah, Talina, Eva und
Jonathan an. Seine Sprache ist nicht kind-
lich, sondern sehr anspruchsvoll, der Satz-
bau dennoch überschaubar, der Wortschatz
bereichernd, vor allem auch, wenn Wolff-
sohn an Beispielen hebräischen und
deutsch-jüdischen Wortschatz einführt.
Empathie vermittelnd ist das Buch dort,
wo Wolffsohn – mit mehr als sechzig Bil-
dern veranschaulicht – die Erfahrungen
vermittelt, die seine Großeltern und seine
Eltern bis 1939 und mit ihrer Emigration in
Hitler-Deutschland erleben mussten oder
auch im positiven Sinn erleben durften:
in der Schule, im öffentlichen und im ge-
schäftlichen Leben, bei der Ausreise aus
Deutschland, aber auch als nicht nur Will-
kommene im damaligen Palästina, später
in Auseinandersetzungen um Wiedergut-
machung für Güter, die vom NS-Regime
enteignet wurden.
‘Judenhass heute’
Topaktuell wird das Buch zum Ende hin,
wo es um ‘Judenhass heute’ geht. Die
Beispiele, die Wolffsohn hier zu berichten
weiß, sind erschreckend, auch die Erlebnis-
se seiner bald hundertjährigen Mutter
Thea, die dergleichen 2014 als 92-Jährige
in Berlin erleben musste. Wolffsohn nimmt
solche Beispiele zum Anlass, für ein Verste-
hen, für eine wechselseitige Achtung ver-
schiedener Ethnien, verschiedener Religio-
nen, zumal des Christentums, des Juden-
tums und des Islams zu werben.
INFO
Michael Wolffsohn
:
Wir waren Glückskinder –
trotz allem
Eine deutsch-jüdische Familien-
geschichte
dtv Junior, Originalausgabe, 240 Seiten,
ab 11Jahre, ISBN 978-3-423-76331-8,
Preis: 14,95 Euro
Foto: dtv
LESERBRIEF
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4/2021 ·
lehrer nrw
Scharfe Kritik am
Kernlehrplan ’Informatik 5/6’
Zur Einführung des Fachs Informatik in den Jahrgangsstufen 5/6
ab dem Schuljahr 2021/22 (siehe
lehrer nrw
3/2021, Seite 12-13)
erreichte die Redaktion dieser Leserbrief.
A
A
ls ich vor einigen Wochen zum
ersten Mal den Entwurf zum Kern-
lehrplan ’Informatik 5/6’ gelesen
habe, fiel mir die Kinnlade runter, und ich
konnte nicht glauben, was dort steht. Mal
abgesehen von der sehr abstrakten Formu-
lierung der Kompetenzen und Inhaltsfelder,
die eine zehnjährige Schülerin und ein
zehnjähriger Schüler erlernen müssen, ist
das Niveau nicht altersgerecht. Schülerin-
nen und Schüler der Klasse 5 sollen Pro-
grammieren lernen und Systeme einer
Künstlichen Intelligenz erkunden und be-
schreiben. Daten codieren, Datennetzwer-
ke verstehen und Abläufe in Automaten
grafisch darstellen. Wenn ich das mit dem
Kernlehrplan des Wahlpflichtfaches Infor-
matik in der Realschule vergleiche, kom-
men die Inhalte zum größten Teil erst in
Jahrgang 9 und 10 vor.
In der Klasse 5/6 sollten aus meiner
Sicht die Schülerinnen und Schüler zuerst
mal den anwendungsgerechten und ver-
antwortungsvollen Umgang mit den digi-
talen Medien und Geräten erlernen. Bisher
wurde das in der informatischen Grundbil-
dung vermittelt. Der Umgang mit Tastatur
und Maus, wo speichere ich mein selbstge-
maltes Bild, wo finde ich Informationen im
Internet zum Thema ’Hunderasse’, und wie
kann ich diese auf meinem Tablet oder am
PC darstellen und meiner Klasse vorstellen.
Das sind Kompetenzen, die eine Schülerin
und ein Schüler in der Klasse 5 und 6 bei-
spielsweise erlernen können.
Das sind auch Kompetenzen, die im
Medienkompetenzrahmen vorgegeben sind.
Auf diesen Rahmen nimmt der Kernlehrplan
auch keinen Bezug, was aus meiner Sicht
unverständlich ist. Schülerinnen und Schü-
ler, die noch nicht ausreichend lesen, rech-
nen und schreiben können, werden sicher
nicht verstehen und erlernen, wie sie den
Algorithmus ’bedingte Wiederholung’ an-
wenden und programmieren, damit eine
Katze auf einer virtuellen Bühne ein Acht-
eck zeichnet.
Yvonne Gebauer hat bei der Pressekonfe-
renz zum ’Pakt für Informatik’ am 10. Mai
folgendes geäußert: »… Ziel der Landesre-
gierung ist, dass künftig keine Schülerin
und kein Schüler die Schule ohne informati-
sches Basiswissen und Grundkenntnisse im
Programmieren verlässt.«
Wenn wir das Ziel umsetzen wollen,
dann müssen wir zuerst mal mit den
Grundlagen einer informatischen Grundbil-
dung beginnen und dann weiter durchgän-
gig das Fach Informatik lehren, so dass am
Ende der Sekundarstufe I auch Schülerinnen
und Schüler das Programmieren erlernen –
dann, wenn sie dazu die Voraussetzungen
haben. In der Klasse 5 und 6 müssen zuerst
mal die Grundlagen gelegt werden.
Ich hoffe nicht, dass dieser Kernlehrplan
in Kraft tritt. Dem Schulministerium sollte
bewusst sein, dass es in der Sekundarstufe I
nur sehr wenige ausgebildete Informatik-
lehrer gibt. Ich gehöre nicht dazu, und ich
unterrichte das Fach seit neunzehn Jahren
fachfremd. Ich vermute auch nicht, dass
ausgebildete Informatiklehrer, die bisher
schwerpunktmäßig in der Sekundarstufe II
unterrichtet haben, diesen Kernlehrplan er-
folgreich und nachhaltig für alle Schülerin-
nen und Schüler umsetzen können, da es
nach der 5/6 Informatik nur noch als Wahl-
fach angeboten wird.
Michael Buschmann
Lehrer an der Realschule Baesweiler
lehrer nrw ·
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TITEL
Schlechtes Zeugnis für
die Ökonomische Bildung
in Deutschland
Um die Ökonomische Bildung in Deutschland ist es nicht gut bestellt. So erfüllen elf von sechzehn
Bundesländern nicht einmal fünfzig Prozent der Anforderungen, die für ein normales Nebenfach
Wirtschaft nötig wären. Ökonomische Bildung ist in Niedersachsen, Baden-Württemberg und
Bayern am besten, in Rheinland-Pfalz, Sachsen und im Saarland am schlechtesten aufgestellt.
konomische Bildung in Deutsch-
land hat es seit jeher schwer –
doch wie dramatisch der Mangel
ist, zeigt erstmals die OeBiX-Studie ’Öko-
nomische Bildung in Deutschland’, die das
Institut für Ökonomische Bildung an der
Universität Oldenburg im Auftrag der
Flossbach von Storch Stiftung erstellt hat.
Die Wissenschaftler des IÖB haben zum
einen den Stand der Ökonomischen Bil-
dung an deutschen Schulen sowohl im
gymnasialen als auch nicht-gymnasialen
Bereich erhoben. Zum anderen haben sie
erfasst, wie Ökonomische Bildung an den
Hochschulen in den Lehramtsstudiengän-
gen und über Professuren verankert ist.
Die Studienergebnisse beider Untersu-
chungsgebiete fließen als Teilindizes in den
Gesamtindex Ökonomische Bildung in
Deutschland (OeBiX) ein.
Das Ergebnis: Kein einziges Bundesland
erreicht das im Jahr 2003 von der Kultus-
ministerkonferenz, Wirtschaftsverbänden
und Gewerkschaften gesteckte Ziel, Öko-
nomische Bildung verpflichtend mindes-
tens zweihundert Stunden an weiterfüh-
renden allgemeinbildenden Schulen in der
Sekundarstufe I zu unterrichten. Und: Elf
von sechzehn Bundesländern erfüllen im
Gesamtindex OeBiX nicht einmal die Hälf-
te der Anforderungen, die für ein norma-
les Nebenfach, so auch ’Wirtschaft’ an
Schulen und Hochschulen gelten müssten.
Das Schulfach Wirtschaft sollte jungen Menschen eine
ökonomische Grundbildung vermitteln, die es ihnen ermöglicht,
sich als Erwachsene in einer globalisierten Welt zurechtzufinden.
Foto: AdobeStock/metamorworks
Ö
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TITEL
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lehrer nrw
NRW bei der Ökonomischen Bildung
im oberen Mittelfeld
Erstmals liegt eine umfassende Bestandsaufnahme zur Ökonomi-
schen Bildung vor. Nordrhein-Westfalen liegt dabei im Mittelfeld.
Während es an den Haupt- und Realschulen ein Pflichtfach Wirt-
schaft gibt, herrscht am Gymnasium in der Sekundarstufe II und
an den Hochschulen noch Optimierungspotenzial.
Ö
Ö
konomische Bildung ist in Deutschland
vom Status eines einfachen Nebenfachs
immer noch weit entfernt. Das belegt erst-
mals die OeBiX-Studie. In elf von sechzehn
Bundesländern wird nicht einmal die Hälfte
der Anforderungen erfüllt, die für ein Neben-
fach
1
Wirtschaft gelten müssten. Nordrhein-
Westfalen, das bevölkerungsreichste Bundes-
land, liegt ebenfalls knapp unter fünfzig Pro-
zent und zählt in der Summe damit – drama-
tischerweise – schon zu den sechs besten
Bundesländern.
(vgl Grafik 1)
Gerade an den allgemeinbildenden Schu-
len hat Nordrhein-Westfalen in den vergan-
genen Jahren bei der Verankerung ökonomi-
scher Bildungsinhalte in den Stundenplänen
Fortschritte gemacht. Das ist erfreulich, denn
Ökonomische Bildung gehört zu einer mo-
dernen Allgemeinbildung. Deshalb sollte sie
an den Schulen von grundständig wirtschaft-
lich ausgebildeten Lehrkräften im Umfang ei-
nes regulären Nebenfachs unterrichtet wer-
den, so dass junge Menschen auch auf die-
sem Gebiet fundiert auf das Leben nach der
Schule vorbereitet werden.
Positive Tendenz bei Real-
schulen und Hauptschulen
Die vom Land Nordrhein-Westfalen unter-
nommenen Anstrengungen sind auch in den
Ergebnissen der OeBiX-Studie erkennbar: Bei
dem Ankerfach Wirtschaft erreicht Nordrhein-
Westfalen an der Hauptschule – gemessen an
der Ausstattung mit Kontingentstunden –
mittlerweile den Standard eines Nebenfachs,
auch an der Realschule ist man hier nicht
weit davon entfernt.
(vgl Grafik 2)
von VERENA VON HUGO
Vorstand Flossbach von Storch Stiftung
ZUR PERSON
Verena von Hugo hat in Heidel-
berg und Berlin VWL studiert und
beim Handelsblatt verschiedene
Teams und Projekte geleitet –
insbesondere die Handelsblatt
Bildungsinitiativen. Seit 2018 ist
sie Vorstand der Flossbach von
Storch Stiftung, die sich der Wirt-
schafts- und Finanzbildung ver-
schrieben hat. Sie ist Co-Vorsit-
zende des 2020 gegründeten ge-
meinnützigen Bündnis Ökonomi-
sche Bildung Deutschland e. V.
(BÖB), dem über fünfzig Mit-
gliedsinstitutionen von Lehrkräf-
ten, Wissenschaftlern, Stiftungen
und Verbänden angehören, die
sich gemeinsam für eine bessere
Verankerung Ökonomischer Bil-
dung im allgemeinbildenden
Schulwesen aller Bundesländer
stark machen.
www.flossbachvonstorch-stiftung.de
www.boeb.net
Grafik 1
Grafik 2
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TITEL
wissenschaften’ auch die Fakultas für das
zuletzt neu eingeführte Fach ’Wirtschaft-
Politik’ erhalten bzw. beibehalten werden.
Damit ist nicht nur der Unterricht in dem
neuen Fach ebenso gesichert, sondern
auch die Kontinuität der Personalplanung
und die beruflichen Rahmenbedingungen
für die bestehenden Lehrkräfte. Die Anpas-
sungen im Lehramtsstudium sowie Fort-
und Weiterbildungen, wie beispielsweise
Erweiterungsstudiengänge Wirtschaft, stel-
len dabei eine Chance für die Modernisie-
rung des Faches dar.
Ökonomische Bildung
fördert Teilhabe und
Chancengerechtigkeit
Gute Ökonomische Bildung gehört in die
Schule; sie muss objektiv und multiper-
spektivisch von grundständig wirtschaft-
lich ausgebildeten Lehrkräften unterrichtet
werden, sodass junge Menschen auch auf
diesem Gebiet im allgemeinbildenden Sin-
ne auf das Leben nach der Schule vorberei-
tet sind, indem sie ökonomische Zusam-
menhänge erkennen und bewerten kön-
nen. So fördert Ökonomische Bildung Teil-
habe und Chancengerechtigkeit – unab-
hängig vom sozioökonomischen
Hintergrund: Es geht nicht darum, mög-
lichst viele Schülerinnen und Schüler zu
Finanzgurus, Versicherungsvertretern oder
Investmentbankern zu machen, sondern
sie vor ihnen zu schützen.
1 100 Prozent für ein Nebenfach Wirtschaft sind im OeBiX
erreicht, wenn
in der Sekundarstufe I im Pflichtbe-
reich das (Anker-) Fach mit mindestens sechs Kontin-
gentstunden (KS) unterrichtet und im Wahlpflichtbereich
mit zwei KS angeboten wird.
In der Sekundarstufe II
müssen eine Belegungs- und Einbringungsverpflichtung
sowie die Möglichkeit, das Fach als Prüfungsfach auf er-
höhtem Niveau (Leistungskurs) zu wählen, bestehen.
In der Lehrkräftebildung müssen die ECTS-Punkte
für das Studienfach denen eines normalen anderen
Fachs in der Lehrkräftebildung entsprechen und
jede
Hochschule,
die Wirtschaftslehrkräfte ausbildet, über
eine eigene wirtschaftsdidaktische Professur verfügen.
INFO
Alle Ergebnisse der OeBiX-Studie:
www.oebix-studie.de
Grafik 3
nicht-gymnasialen Studiengängen mit 28,88
Prozent deutlich unter dem Bundesdurch-
schnitt (42,19 Prozent) und bei den gym-
nasialen Studiengängen mit 30,23 Prozent
gleichauf mit dem Bundesdurchschnitt
(28,73 Prozent) – beides alarmierende
Werte, erfüllen sie doch deutlich weniger als
50 Prozent der geforderten Mindestanforde-
rungen.
Grundständige Lehrer-
ausbildung entscheidend
Aber gerade eine grundständige Lehrkräfte-
ausbildung trägt dazu bei, fachfremden Un-
terricht zu vermeiden und Lehrkräfte in die
Lage zu versetzen, ökonomische Bildungsin-
halte qualifiziert und fachwissenschaftlich
sowie wirtschaftsdidaktisch fundiert zu un-
terrichten. Hier hat Nordrhein-Westfalen be-
reits den richtigen Weg eingeschlagen und
will den Schulfächern entsprechend auch
die Lehramtsstudiengänge anpassen.
Dabei ist wichtig – und das hat die nord-
rhein-westfälische Landesregierung zugesi-
chert, dass aktuell Studierende, Referen-
dar/innen und Lehrkräfte des Faches ’Sozial-
Der Realschule kann damit bei der Veranke-
rung der Ökonomischen Bildung in Nordrhein-
Westfalen eine wichtige Vorbildfunktion zu-
kommen. Mit dem Schulfach Wirtschaft berei-
tet sie Jugendliche im Hinblick auf wirtschaft-
liche und finanzielle Zusammenhänge umfas-
send auf das Leben nach der Schule vor.
Anders sieht es am Gymnasium aus – vor
allem in der Sekundarstufe II. Sowohl in der
Einbringungs- als auch der Qualifikations-
phase liegt Nordrhein-Westfalen unter dem
Bundesdurchschnitt. Bei der Einführungspha-
se der Sekundarstufe II ist das sogar beson-
ders deutlich. Da aber der Anteil der Gymna-
siasten zunimmt, muss die Ökonomische Bil-
dung gerade in der Sekundarstufe II weiter
gestärkt werden, damit hier in Zukunft keine
Bildungsdefizite entstehen.
(vgl Grafik 3)
Gestärkt werden muss auf dem Weg zum
Nebenfach Wirtschaft auch die Lehrkräfte-
ausbildung an den Hochschulen in Nord-
rhein-Westfalen. Optimierungspotenziale
herrschen in der Lehrkräfteausbildung – und
zwar für die nicht-gymnasialen Schulformen
sowie für das Gymnasium gleichermaßen.
Hier liegt Nordrhein-Westfalen bei den
Persönlichkeitsentwicklung
in der Corona-Pandemie
Wie können Schülerinnen und Schüler dennoch ihren Weg ins Erwachsensein finden? Der Autor
und frühere Gymnasiallehrer Peter Maier stellt kritische Fragen zur gegenwärtigen Schulsituation.
15
4/2021 · lehrer nrw
D
rei Wochen vor den Osterferien 2020 gab es
den ersten Lockdown: Unsere Schulen wur-
den geschlossen, Lehrkräfte und Schüler/in-
nen ins Homeoffice verbannt. War dies zunächst für
kurze Zeit eine Freude für so manche Schüler, so hat
sich bald Ernüchterung Platz gemacht. Denn nun
mussten gestresste Eltern, die auch beruflich selbst
mit dem Lockdown konfrontiert waren, ihre Kinder
rund um die Uhr zu Hause betreuen. Computer, Inter-
net und ein Schul-Arbeitsplatz zu Hause mussten be-
reitgestellt werden, das Homeschooling klappte an-
fangs aus technischen Gründen oft noch nicht gut…
Dies alles hat sich ein Jahr Corona-Krise später
wesentlich verbessert, die digitale Bildung insge-
samt hat einen kräftigen Schub nach vorne erhal-
ten, den man sich vor Jahresfrist noch nicht hätte
träumen lassen: etwa, dass Unterricht in vielen Fäl-
len souverän in Videokonferenzen ablaufen kann.
Manch Vertreter aus Wirtschaft und Bildungspolitik
kann daher in der gegenwärtigen Pandemie sogar
einen mittelfristigen Segen für die Schulbildung im
Besonderen und die Sicherung des Wirtschaftsstand-
ortes Deutschland in der Zukunft im Allgemeinen er-
kennen. Diese Sicht der Dinge hat ohne Zweifel et-
was für sich. Als Pädagoge mit vierzigjähriger Be-
rufserfahrung sehe ich mich jedoch dazu veranlasst,
einige kritische Anfragen zu stellen und auf Gefah-
ren in der derzeitigen Entwicklung hinzuweisen.
Foto: Maksym AdobeStock/Yemelyanov
Monatelang pendelten die Schulen in der Corona-
Pandemie zwischen Distanz- und Wechselunterricht.
Ob Bildung gelingt, wurde eher zu einer technischen und logistischen Frage.
Die für eine gute Persönlichkeitsentwicklung junger Menschen essentielle
Beziehung zwischen Schülern und Lehrern geriet dabei oft aus dem Blick.
Einwand 1:
Die eigentliche Pädagogik
bleibt auf der Strecke
Die erste dieser kritischen Rückfragen an die gegen-
wärtige Schulsituation ist der Pädagogik gewidmet.
Aber was soll man darunter verstehen? Schüler neh-
men Fachwissen und Kompetenzen auf, wenn die Be-
ziehung zwischen ihnen und der Lehrperson stimmt,
die dieses Wissen vermittelt. Der Slogan »Erziehung
durch Beziehung« hat gerade jetzt wieder eine uner-
wartete Aktualität und Bedeutung erlangt. Denn in
diesem Prinzip schwingt neben der Wissensaufnahme
durch die Schüler eine grundsätzliche Orientierung
am Lehrer mit: Ist er mir sympathisch? Kann er mich
wahrnehmen, kann er meine Fähigkeiten, ja über-
haupt mich als Person sehen? Fühle ich mich in der
Klasse, die er leitet, wohl und herrscht ein gutes Unter-
richtsklima?
Neben diesen lernaktiven und atmosphärischen Ele-
menten im Unterricht erfolgen subtil und unterschwellig
durch die Lehrkraft bei den Schülern auch laufend Im-
pulse und Anstöße zur Persönlichkeitsentwicklung, Cha-
rakterbildung, Werteerziehung und zur Ausformung ei-
nes eigenen Weltbildes. Dieser Bereich des Unterrichts-
geschehens ist enorm wichtig und gar nicht hoch ge-
nug einzuschätzen, auch wenn er in der Regel nicht
operationalisierbar und durch keine Statistik einzufan-
gen ist. Aber dies alles geschieht im ’normalen’ Unter-
richt eben.
Doch leider gerät diese zweite Ebene der Bildung im
Schatten der Corona-Pandemie, in der es vor allem um
Strukturfragen geht, im Moment völlig ins Hintertreffen.
Man will von Seiten der (Bildungs-)Politik die Schulen
um jeden Preis am Laufen halten: mit Distanz- und
Wechselunterricht, mit Homeschooling und Videokonfe-
renzen, basierend auf digitaler Technik, mit Hygiene-
vorschriften und genügend Abstand in der Schule, alles
abhängig vom momentanen Inzidenzwert in der jewei-
ligen Stadt oder im Landkreis.
Das ist verständlich und nachvollziehbar, aber wo
kann die eigentliche Pädagogik noch stattfinden, die
auf Bindung zum Lehrer beruht und auf einer Herzens-
pädagogik von Seiten der Lehrkraft aufbauen muss,
wenn sie nachhaltig sein will? Wie also können wir
Lehrer unter diesen Corona-bedingten ’Schulumstän-
den’ noch in einer guten Beziehung zu unseren Schü-
lern bleiben, die das Fundament von Lehren und Ler-
nen sein muss – gerade auch jetzt? Antworten auf diese
pädagogische Schlüsselfrage sollten schleunigst wie-
der in den Vordergrund gesetzt werden.
Einwand 2:
Blockierter Pubertätsprozess
bei den Schülern
An dieser Stelle will ich zunächst von einer persönlichen
Erfahrung berichten: Im Schuljahr 2018/2019 hatte ich ei-
ne achte Klasse, die von den sechzehn Jungen dominiert
war. Die elf Mädchen waren eher Beobachterinnen und
Statistinnen dieses Jungen-in-der-Pubertät-Schauspiels.
Ein normaler Unterricht war nur mit Mühe möglich, da die
Jungen in einer dauernden Reiberei um die Hackord-
nung in der Klasse waren. Mehrere Gruppen waren im
ständigen »Kampf um die Klassenherrschaft«. Das war für
jede Lehrkraft anstrengend, weil es den Jungen nur am
Rande um Wissensaufnahme und um gute Noten ging.
Viel wichtiger war ihnen, was nach und außerhalb
des Unterrichts stattfand: Fast alle waren mindestens
drei Nachmittage die Woche auf dem Fußballplatz zu
finden, um sich auszutoben und um ihren zum Teil hef-
tig wirkenden Pubertäts-Energien ein Ventil geben zu
können. Auch in den beiden Vormittagspausen waren
alle Jungs der Klasse auf dem Schul-Sportplatz, um »es«
jeden Tag neu untereinander ’auszukicken’ nach dem
Motto: Wer von uns ist der wildere, talentiertere, witzige-
re, coolere, draufgängerischere, gewieftere und erfolg-
reichere Fußballspieler? Taktik, aber auch pure Vital-
kraft spielten dabei eine entscheidende Rolle.
Darum ging es diesen Jungs also, und nach jeder sol-
chen Pause waren sie zumindest vorübergehend für die
nächsten zwei Unterrichtsstunden zu haben, weil soeben
die in ihnen neu gebildeten Pubertäts-Energien einen
sinnvollen und kontrollierten Auslauf gefunden hatten
und aus den Jungs hatten ’rausdampfen’ können –
gerade im gegenseitigen ’Rangeln’ beim Fußballspiel.
Natürliche Aggressionen konnten auf diese sportliche
Weise abgeleitet werden…
Ich frage mich jetzt aber: Wo sollen diese Pubertäts-
Energien und Aggressionen jedoch in Zeiten von Corona
hin, wenn das Kämpfen und Dampf-Ablassen im Sport
gar nicht möglich ist, weil Trainingseinheiten und Spiele
in den Fußballvereinen und im Sportunterricht gar nicht
stattfinden dürfen? Wenn die sozialen Kontakte nur über
Social-Media-Kanäle möglich sind, der physische Kon-
takt in der Peergroup aber fehlt? Wenn Jugendliche
nicht zum gemeinsamen ’Chillen’ und Abhängen
außerhalb des Elternhauses und des Einflussbereichs
der ’Alten’ zusammenkommen und dabei über Gott und
die Welt, über Eltern und Lehrer auch mal gemeinsam
lästern können? Dies alles gehört zu einem natürlichen
Pubertätsprozess, zur Persönlichkeits- und Charakterbil-
dung, zum Erlangen sozialer Fähigkeiten usw.
16
4/2021 · lehrer nrw
Was zwei Ärzte am Klinikum Harlaching in Mün-
chen aufgrund der Corona-bedingten Zunahme
psychischer Störungen über junge Erwachsene von
achtzehn bis zwanzig Jahren in der Corona-Krise sa-
gen, hat für Jugendliche in der Pubertät sogar noch
mehr Gültigkeit: »Junge Erwachsene brauchen aber
eine Peergroup als Lernmodell, als haltgebende Ge-
meinschaft. Sie haben noch keine gefestigte Identi-
tät und kein stabiles Weltbild. Das gemeinsame Fei-
ern und Abhängen ist wichtig für die Entwicklung.
Wenn das nicht geht, führt das gerade in unsiche-
ren Zeiten zu noch mehr Unsicherheit… Die jungen
Menschen sollten das Verständnis der Gemein-
schaft haben, dass es für sie ein notwendiges Be-
dürfnis ist, sich zu sehen.«
i
Oft ist es so, dass die selbst Corona-gestressten
Eltern sich zu viel um ihre Kinder – oft ins Home-
schooling verbannt – kümmern oder ihnen zu Hau-
se zu viel reinreden und damit ungewollt eine über-
mäßige Abhängigkeit bei ihnen fördern und eine
natürliche Abnabelung verhindern. Die Aggressio-
nen nehmen zu: »Häufig steckt bei jungen Leuten
Selbsthass, Wut gegen sich selber oder auch Wut
gegen die Welt dahinter.«
ii
Ein auffälliger Rückzug
etwa in sozialen Medien, zunehmende Ängstlich-
keit, Besorgtheit, ein Hang zum Grübeln und Schlaf-
störungen sind häufig dann die Folge.
Wächst jetzt eine verlorene
‘Generation Corona’ heran?
Ich stimme den Ärzten des Harlachinger Kranken-
hauses prinzipiell zu, dass solch eine Prognose nach
einem guten Jahr Corona-Einschränkungen an den
Schulen (Maskenpflicht, körperlicher Abstand,
Hygienevorschriften), Homeschooling/Distanzunter-
richt, der teilweisen Überforderung mit den neuen
digitalen unterrichtlichen Anforderungen sowie mit
Lockdown-Perioden usw. noch zu früh ist: »Ob es zu
spezifischen Veränderungen kommt, ist hoch speku-
lativ. Aber die jungen Menschen verdienen Aner-
kennung. Bevor man sie als eine ’verlorene Genera-
tion’ abstempelt, sollte man abwarten, welche Resi-
lienzfaktoren sie mitbringt…«
iii
Als erfahrener Pädagoge bin ich jedoch der Auf-
fassung, dass der natürliche Initiations-Prozess, das
heißt die Entwicklung von der Kindheit ins Jugendal-
ter und von der Adoleszenz ins Erwachsensein wäh-
rend der gymnasialen Schulzeit doch eine merkliche
Schlagseite oder zumindest eine deutliche Verzöge-
rung erfahren kann. Denn der regelmäßige Kontakt
mit Gleichgesinnten außerhalb des Elternhauses ist
entscheidend für diese beiden Entwicklungsprozes-
se, die eine schrittweise Ablösung von den Eltern
und zugleich den organischen Aufbau eines eige-
nen Bekannten- und Freundeskreises voraussetzen.
Dies können auch die beiden obigen Skizzen vom
’Lebensrad’ näher erhellen: Die erste zeigt nach-
einander die vier Haupt-Lebensphasen. Die zweite
veranschaulicht mit den Begriffen (Eintritt in die)
’Pubertät’ und ’Erwachsenwerden’ die beiden Über-
gänge vom Kind zum Jugendlichen und vom Ju-
gendlichen zum jungen Erwachsenen, um die es
bei Schülern am Gymnasium während ihrer Schul-
zeit geht bzw. gehen sollte. Denn als Kinder kom-
men sie an die weiterführende Schule, und falls sie
den Weg zum Abitur wählen, verlassen sie die Schu-
le als Volljährige (rechtlich Erwachsene) wieder.
Beide Übergänge erscheinen mir zur Zeit durch die
Corona-Krise mit all den damit verbundenen Ein-
schränkungen in Schule und Freizeit bei vielen Ju-
gendlichen blockiert oder zumindest wesentlich be-
einträchtigt.
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Lebensphasen Lebensübergänge
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4/2021 · lehrer nrw
Gegensteuern – aber wie?
Niemand, auch Fachleute und führende Politiker nicht,
stehen über der Corona-Krise mit all ihren unvorhergese-
henen Auswirkungen. Überall wird nur »auf Sicht gefah-
ren«, das heißt kurzfristige, oft täglich wechselnde Vor-
schläge, Ideen und Vorschriften machen die Runde. Nie-
mand hat in der Pandemie ’die’ Lösungen parat oder
dafür schon »das Ei des Kolumbus« gefunden. Auch und
gerade im Bereich Schule ist dies so. Daher kann ich
zum Schluss nur einige Impulse und Anregungen ge-
ben, wodurch unsere Jugendlichen vielleicht etwas bes-
ser durch die gegenwärtige Corona-Situation kommen
könnten:
individuellen Sport treiben, um den ’Pubertäts-Dampf’
körperlich rauszulassen und Aggressionen abzubau-
en, auch wenn Mannschaftskämpfe zur Zeit nicht
möglich sind;
in den Wald gehen, um sich mit der Natur zu verbin-
den und einen körperlichen Ausgleich zu all den
Videokonferenzen vor dem Computer zu bekommen;
zu zweit oder dritt im Sicherheitsabstand spazieren
gehen, um den natürlichen Kontakt zu Gleichaltrigen
nicht zu verlieren;
weiterhin Einzel- und Gruppenkontakte über Social
Media pflegen, um sozial nicht zu vereinsamen;
mit den Eltern und Geschwistern Gespräche gerade
auch über die Corona-Krise führen und Zeit füreinan-
der in der Familie haben, um als Jugendlicher die
gegenwärtige Situation besser bewältigen zu können;
sich Zeit nehmen, um Bücher zu lesen und sich
darüber in der Familie und im Freundeskreis auszu-
tauschen, um auch auf diese Weise die Pandemie-
Situation positiv zu nutzen;
das eigene Bewusstsein für die alltäglichen Dinge,
für die Natur, die Jahreszeiten usw. schärfen und
Dankbarkeit dafür entwickeln;
Zeit für sich und seine innere Mitte haben und diese
gerade in Krisenzeiten als Ort der Zuflucht begreifen
und schätzen lernen;
neue Ideen und Visionen für die Zeit nach Ende der
Pandemie entwickeln, um so die Resilienzfähigkeit
zu stärken und einer depressiven Verstimmung entge-
genzuwirken u.v.m.
Hier sehe ich eine große drängende Aufgabe für uns
Lehrkräfte, unsere Schüler zu solchen Aktivitäten zu moti-
vieren, anzuleiten, zu coachen und zu vernetzen. Kreati-
vität ist von uns Pädagogen erwünscht, auch der Mut,
sich um der Entwicklung unserer Schülerinnen und
Schüler willen von zu engen Vorgaben des Lehrplans
frei zu machen!
DER AUTOR
Initiation
Erwachsenwerden in einer
unreifen Gesellschaft
Band I: Übergangsrituale
ISBN 978-3-86991-404-6, Epubli Berlin,
18,99 Euro; eBook: ISBN 978-3-753176-25-3,
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Erwachsenwerden in einer
unreifen Gesellschaft
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Epubli Berlin 2020, 18,99 Euro;
eBook: ISBN: 978-3-752952-75-9,
Epubli Berlin 2020, 12,99 Euro
Literatur zur Pädagogik:
Weitere Infos und Buch-Bezug:
www.initiation-erwachsenwerden.de
www.alternative-heilungswege.de
iii Süddeutsche Zeitung Nr. 85 vom 14. April 2021, S. 36
ii
i ebd.
iii ebd
Peter Maier ist Gymnasialleh-
rer a.D., Initiations-Mentor und
Autor. Er unterrichtete seit 1981
an Gymnasien in Bayern.
Er ist Autor mehrerer Fachbü-
cher zum Thema Pädagogik
und Lehrergesundheit.
Literatur zur Lehrergesundheit:
Kolumne wofür?
Der Kinder- und Jugendpsychiater Dr. Stefan Battel gibt in
seiner Kolumne regelmäßig Antworten auf Fragen aus dem
Lehreralltag. Diesmal geht es um die Frage, ob und wie sich
Schule während und nach Corona verändern sollte.
A
A
ch, wie schön waren die Zeiten,
vor Corona eine Kolumne zu
schreiben. Mein Anliegen war
und ist es, bezogen auf die schulische
und therapeutische Kooperation, ver-
schiedene entwicklungspsychologische
Themen anzusprechen mit dem Ziel, im
Hinblick auf die Darstellung sogenannter
psychischer Auffälligkeiten im schuli-
schen Kontext etwas Licht ins Dunkel zu
bringen – mehr noch: in einen konstrukti-
ven Austausch zu kommen und in einem
gegenseitigen Diskurs Schule an einigen
Punkten vielleicht kindgerechter zu ge-
stalten.
Mittlerweile bin ich bezogen auf das
Schreiben einer Kolumne innerlich sehr
gespalten, vielleicht so gespalten, wie die
Gesellschaft sich im Moment abbildet. Ich
frage mich, wie politisch kann oder muss
eine Kolumne sein, wie ist eine Kritik am
Schulsystem aus psychotherapeutischer/
psychiatrischer Sicht zu formulieren?
Ich frage mich, wie wird der Inhalt meiner
Kolumne interpretiert? Welches Bild über
mich entsteht? Sollte mir das nicht alles
egal sein?
Vielleicht geht es neben der Maßnah-
menkritik in diesen Coronazeiten mit
deutlichen negativen Auswirkungen auf
viele Kinder und Jugendliche auch darum,
aus der Problemtrance herauszutreten
und neben einer durchaus berechtigten
Kritik auch konstruktiv auf die Zeit nicht
nach Corona, sondern nach den Sommer-
ferien zu blicken. Nein, ich möchte keine
Ratschläge geben, was in dieser für viele
Kinder/Familien erlebten sozialen Isolation
das Beste wäre (»gehen sie dreimal die
Woche in den Wald«; »regeln sie Compu-
terzeiten ihres Kindes« etc.) – also gut ge-
meinte Vorschläge, die aber unter Umstän-
den am Thema vorbeigehen.
Wie wollen wir zukünftig Schule kreativ
verändern bzw. den Umgang mit Kindern
und Jugendlichen gestalten? Inwieweit
lassen wir sie teilhaben an bestimmten
Entscheidungen? Wie leben wir wirkliche
demokratische Strukturen, ohne andere
auszugrenzen und direkt in eine Schublade
zu verfrachten? Vieles davon habe ich in
meinen Kolumnen schon angesprochen.
Viele Entscheidungen von »denen da
oben« empfinde ich unverhältnismäßig.
Gleichwohl möchte ich handlungsfähig
bleiben, und somit würde ich gerne darü-
ber diskutieren, wie Schule in diesen Zei-
ten aussehen könnte? Vielleicht Wegfall
der Schulanwesenheitspflicht für Kinder und
Jugendliche, denen es schwerfällt, im sozia-
len Kontext zu lernen (autistische Kinder,
sozial sehr ängstliche Kinder etc.) und ihnen
in für sie schwierigen emotionalen Krisen
die Möglichkeit anzubieten, digital den Un-
terricht für eine Zeitlang zu verfolgen. Na-
türlich kleinere Klassen und natürlich eben-
so mehr Lehrer, Reformierung des Lehramts-
studiums mit viel mehr Praxis von Anfang
an und unter Berücksichtigung von Selbster-
fahrungsanteilen Kleingruppenarbeit, frühes
Kennenlernen von verschiedenen Schulfor-
men und eine supervisorische Begleitung
über mehrere Semester durch erfahrene Kol-
legen. Ich glaube, ich nutze die Sommerzeit,
um hier klarer zu werden, welche Inhalte
einer Kolumne zielführend sein können.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen einen
schönen Sommer – und denken Sie daran:
»Der Kopf ist rund, damit das Denken die
Richtung wechseln kann.«
ZUR PERSON
Dr. med. Stefan
Battel
ist seit 2007
niedergelassener
Facharzt für Kinder-
und Jugendpsychia-
trie und -psychothe-
rapie mit eigener
Praxis in Hürth bei
Köln und seit 2012
systemischer Famili-
entherapeut (DGSF).
Im Rahmen des
lehrer nrw
-Fortbil-
dungsprogramms
greift er in einer Vor-
tragsreihe regelmä-
ßig verschiedene
Themen aus dem
Bereich der Jugend-
psychologie auf.
Foto: Andreas Endermann
Ausschließlich für Mitglieder von
lehrer nrw
bietet Dr. Stefan Battel
einmal pro Woche eine Telefonsprechstunde an. Lehrkräfte, die Infor-
mation, Rat und Hilfe im Umgang mit schwierigen Schülern oder Eltern
brauchen oder selbst in einer psychisch belastenden beruflichen Situa-
tion stecken, können dieses Angebot nutzen.
Die Hotline ist jeden Dienstag von 15 Uhr bis 16 Uhr freigeschaltet
und unter der Telefonnummer 0 22 33 / 961 01 20 erreichbar.
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BATTEL HILFT
Kolumne wofür?
lehrer nrw ·
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SCHULE & POLITIK
halb:herzig?
Die zweite Fremdsprache in der Sekundarstufe I
I
I
m Zuge der Rückkehr der Gymnasien
von G8 zu G9 erfolgt auch eine Neuord-
nung der Stundentafel, die sich ebenfalls
auf die anderen Schulformen auswirkt und
damit auf deren spezifische Regelungen im
Fremdsprachenbereich.
Im Rahmen des Wahlpflichtbereichs muss
an den weiterführenden Schulformen Real-
schule und Gesamtschule verpflichtend die
Wahlmöglichkeit einer zweiten Fremdspra-
che angeboten werden. Damit wird den
Schülerinnen und Schülern unter anderem
die Möglichkeit eröffnet, auch an diesen
Schulformen im Fremdsprachenbereich früh-
zeitig eine der Voraussetzungen zu erfüllen,
die für eine gymnasiale Laufbahn zur Erlan-
gung der allgemeinen Hochschulreife not-
wendig ist, nämlich der Erwerb von Kennt-
nissen in einer weiteren, zweiten Fremd-
sprache.
Verbindlichere Wahl
Mit dem neuen Schuljahr 2021/2022 ändert
sich nun die Einwahl für das so genannte
Wahlpflichtfach an Real- und Gesamtschu-
len. Die Wahl der zweiten Fremdsprache an
diesen weiterführenden Schulformen wird
jetzt wesentlich verbindlicher gestaltet. Die
Schülerinnen und Schüler müssen sich in der
Regel für das siebte Schuljahr für ein Wahl-
pflichtfach entscheiden, das sie dann durch-
gängig als versetzungsrelevantes Fach bis
zur zehnten Klasse belegen.
Die bisherige Regelung, die zweite Fremd-
sprache für alle Schüler in der Klasse 6 ver-
pflichtend einzuführen, um vor der verbindli-
chen Einwahl in der Klasse 7 das Interesse
am Spracherwerb zu wecken, fällt damit er-
satzlos weg. Stattdessen obliegt es den
Schulen, den Schülern der Klasse 6 mit ande-
ren geeigneten Maßnahmen und Projekten
vor der Einwahl in die jeweiligen Wahl-
pflichtfächer für die Klasse 7 die entspre-
chenden Informationen, Einblicke und Erfah-
rungen zukommen zu lassen.
Eine Kurzeinführung in alle Wahlpflichtfä-
cher der Schule im Rahmen eines rollierenden
Systems im ersten Halbjahr der Klasse 7 wäre
ebenfalls möglich, brächte aber den unnöti-
gen und unwiederbringlichen Verlust von
sechs Monaten kostbarer Lernzeit mit sich!
Schwierige Entscheidung:
Die Wahl der zweiten Fremdsprache zum
siebten Schuljahr erfolgt mit einer höheren
Verbindlichkeit. Allerdings lassen die Unter-
richtsbedingungen teilweise noch zu wün-
schen übrig.
Foto: AdobeStock/contrastwerkstatt
von ULRICH GRÄLER
SCHULE & POLITIK
Reicht das?
Die zweite Fremdsprache gilt unter Schü-
lern im Vergleich zu den anderen Wahl-
pflichtfächern häufig als ’schweres’ Fach,
das eine höhere Leistungsbereitschaft und
damit mehr Engagement wie auch persön-
lichen Einsatz erfordert. Zudem sind die
sprachlichen Voraussetzungen in der Mut-
tersprache oft nicht ausgeprägt genug, um
sich auf gesicherten Grundlagen in der
Grammatik entsprechende Transferleistun-
gen im Fremdspracherwerb zunutze zu
machen. Eine sichere Beherrschung der
Muttersprache erleichtert und begünstigt
aber auch den Erwerb einer Fremdsprache.
Politische und
rechtliche Vorgaben
Gleichzeitig hält die Politik in ihren Ent-
scheidungen und Bekenntnissen bewusst
daran fest, die zweite Fremdsprache im
Fächerkanon der Sekundarstufe I zu belas-
sen. Europa als das große Integrationsziel,
das Frieden und Wohlstand herbeigeführt
und gesichert hat, hat sich im Rahmen der
Völkerverständigung zur Mehrsprachigkeit
bekannt, die die Kenntnis von mindestens
zwei Fremdsprachen umfassen sollte
(Europäische Kommission, 1995).
Der deutsch-französische Vertrag von
1963 verpflichtet beide Länder zudem,
besondere Anstrengungen zu unterneh-
men, um die Sprachen beider Länder in
dem jeweiligen anderen Land zu fördern.
Dies hat dann dazu geführt, dass Franzö-
sisch als zweite Fremdsprache im Fächer-
kanon der Sekundarstufe I gegenüber an-
deren Fremdsprachen die besondere Stel-
lung erhalten hat.
Gestärktes Kursziel
Es ist richtig, an dem Ziel der Mehrspra-
chigkeit festzuhalten. Es stellt sich aber die
Frage, ob bei gleichbleibenden Anforderun-
gen des Faches bei der veränderten Schü-
lerschaft an Real- und Gesamtschulen das
Kursziel in der zweiten Fremdsprache zu
erreichen ist.
lehrer nrw
hat schon vor Jah-
ren (’Will die Welt betrogen sein?’, Ausga-
be 3/2012) darauf aufmerksam gemacht,
dass die Vorgabe des zu erreichenden
Sprachniveaus B1 nach dem gemeinsamen
europäischen Referenzrahmen (GeR) von
nur sehr wenigen Schülern zu schaffen ist,
wie zum Beispiel auch aus der Teilnahme
an den DELF-Prüfungen bis heute abzule-
sen wäre.
Das Ziel ist nach wie vor richtig und
auch berechtigt – erst recht, bedenkt man
die notwendigen Lernvoraussetzungen für
eine mögliche Fortführung des Faches in
der Oberstufe am Gymnasium oder am
Berufskolleg. Die neue Verbindlichkeit bei
der Fächerwahl im Wahlpflichtbereich ist
ein erster, von Verbänden seit Jahren ein-
geforderter Schritt in die richtige Rich-
tung. Eine weitere Verbesserung der Un-
terrichtsbedingungen, die das Ziel B1 des
GeR für alle Schüler ermöglichen, ist je-
doch vonnöten.
Lernprogression
Ein Spracherwerb lebt davon, dass er ein
gewisses Mindestmaß an Lernprogression
nicht unterschreitet. In der freien Wirt-
schaft erlernt man eine Sprache in Form
von Kompaktkursen. Deshalb wäre es auch
in der Schule von großer Bedeutung, die
besten Grundlagen für eine höhere Effekti-
vität im Spracherwerbsprozess zu legen.
Dazu zählen ein ausreichendes Stundende-
putat und eine angemessene Lerngruppen-
größe.
Warum sieht die Stundentafel für die
zweite Fremdsprache am Gymnasium ein
höheres Deputat vor als in den anderen
Schulformen der Sekundarstufe I? Müsste
es nicht eher umgekehrt sein? Und wie soll
da eine Durchlässigkeit zwischen den
Schulformen gewährleistet werden?
Warum werden keine oder so selten För-
derstunden für Gruppenteilungen einge-
setzt? Unterrichtsgespräche in der Fremd-
sprache sind in großen Lerngruppen eher
ein Ding der Unmöglichkeit! Auch beson-
dere, anwendungsbezogene Fremdspra-
chenprojekte wie Schulpartnerschaften
und digitale e-twinning-Projekte wären
damit leichter umzusetzen.
Umgang mit Sprache
und Sprachverständnis
Schon seit Jahren beklagen Schulen einen
Rückgang sprachlicher Fähigkeiten. Die Fä-
higkeit, fremde Texte in ihrer Botschaft zu de-
kodieren nimmt deutlich ab, eigene Texte zu
produzieren wird immer weniger gefordert.
In unserer digitalisierten Welt mit ihrer Infor-
mationsflut wird es dagegen immer bedeut-
samer, sich gegenüber Meinungsmache und
Sprachmanipulation zur Wehr zu setzen.
Um sich als Mensch für diese ’medialen
Versuchungen’ zu wappnen, benötigen wir
ein deutlich höheres Maß an Sprachkenntnis
und -bewusstheit, die uns in unserer Autono-
mie stärken und damit ein selbstbestimmtes
Leben sichern. Die Kenntnis verschiedener
Sprachen hilft dabei zusätzlich, da sie neben
der Neugierde und dem Verständnis für frem-
de Kulturen auch das Bewusstsein semanti-
scher Feinheiten und Unterschiede stärkt.
Internationales Denken
Wer an Europa festhält, muss auch das Den-
ken über den eigenen Tellerrand fördern. Ein
Fremdsprachenerwerb beinhaltet zwangsläu-
fig die entsprechende Landeskunde. Ein
Spracherwerb ohne den jeweiligen Landesbe-
zug gibt es nicht. Insofern ist jede Stunde des
Fremdsprachenunterrichts eine Einführung
und ein Einblick in die jeweiligen gesell-
schaftlichen Zusammenhänge, die der Ler-
nende in Bezug zu seiner eigenen kulturellen
Prägung setzt.
Es sind nicht die Wirtschaftsbeziehungen
zu anderen Ländern, nicht die Absatzmärkte,
die uns als Menschen Europa näherbringen,
sondern das Interesse für die Kultur und die
Menschen, das unser europäisches Verständ-
nis befördert. Der Fremdsprachenerwerb lebt
davon, dass er auf Begegnungen mit Men-
schen anderer Sprachgemeinschaften/Natio-
nalitäten ausgerichtet ist, auf Interaktion.
Und deshalb erlernt man eine Sprache nicht
allein aus Nützlichkeitserwägungen, sondern
aus Interesse am Mitmenschen, das heißt
‘mit Herz’!
Ulrich Gräler ist stellv. Vorsitzender des
lehrer nrw
E-Mail: graeler@lehrernrw.de
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lehrer nrw
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SCHULE & POLITIK
»Es ist noch kein Meister vom
Himmel gefallen«
Zum theoretischen Hintergrund der Begabungsförderung
»Die größte Errungenschaft des mensch-
lichen Geistes ist es, die eigenen Mög-
lichkeiten zu nutzen und das Bestmögli-
che aus seinen Ressourcen zu machen.«
Luc de Clapiers, 1715-1747
D
D
as Ziel einer effizienten Begabungs-
förderung besteht darin, Begabte
bestmöglich auf ihrem Pfad zur
Leistungsexzellenz zu unterstützen. Doch
wie kann so eine Unterstützung aussehen?
In diesem Beitrag wollen wir den theoreti-
schen Hintergrund moderner Begabungs-
förderung skizzieren und in einem Folge-
beitrag konkrete Maßnahmen vorstellen.
Eine interessante
Beobachtung
Beschäftigt man sich mit Leistungsexzel-
lenz, wird rasch deutlich, dass diese ver-
mehrt in Clustern aufzutreten scheint.
Schon Galton (1869) beobachtete, dass
sich im näheren Umfeld leistungsexzellen-
ter Personen häufig vermehrt weitere leis-
tungsexzellente Personen zeigen. Er schloss
daraus, dass einer Begabung eine starke
genetische Komponente zugrunde liegen
müsse. Neben genetischen Gemeinsamkei-
ten ist es jedoch durchaus denkbar, dass
nähere Verwandte leistungseminenter Per-
sonen vergleichbare lern- oder karriereför-
derliche Merkmale teilen, wie beispielswei-
se finanzielle Ressourcen oder auch Zu-
gang zu unterstützenden Netzwerken. Um
an dieser Stelle zwei Beispiele zu nennen:
Das sogenannte Chaperone-Phänomen
(Sekara et al., 2018) macht deutlich, wel-
che essentielle Rolle Netzwerke auf dem
Pfad zu einer erfolgreichen Karriere spielen.
So stand erfolgreichen Personen mindestens
eine Mentorin bzw. ein Mentor aus ihrer Ta-
lentdomäne zur aktiven Unterstützung ihrer
Karriere zur Seite. Bei begabten Kindern
zeigte sich außerdem, dass sie häufig aus
gut situierten Elternhäusern stammen, in
welchen ihnen beispielsweise sowohl finan-
zielle als auch intellektuelle Ressourcen bei
ihrer Entwicklung zur Verfügung gestellt
werden konnten (Howe, 1990).
Heutige wissenschaftliche Erklärungsmo-
delle von Begabungen betrachten es als evi-
dent, dass eine erfolgreiche Talententwick-
lung ein komplexes Zusammenspiel aus Fak-
toren des Individuums und dessen Umwelt
erfordert. Doch was sich theoretisch durch-
gesetzt hat, ist noch längst nicht in der För-
derpraxis angekommen.
Wo steht die praktische
Begabungsförderung heute?
Die gängige Förderpraxis Begabter basiert
leider noch immer überwiegend auf einem
Verständnis von Leistungsexzellenz als Ent-
faltung von Merkmalen des Individuums. Sie
wurde unter der Annahme entwickelt, dass
sich wahre Begabung durchsetzen würde,
sofern sie nicht auf Hindernisse stößt. Als
Hindernisse galten beispielsweise eine gerin-
von SARAH AWAD
& ALBERT ZIEGLER
Friedrich-Alexander-Universität, Erlangen-Nürnberg
Foto: AdobeStock/contrastwerkstatt
Talente wachsen
lassen:
Systemische Begabungs-
förderung orientiert sich
an den Stärken bzw. den
vorhandenen Entwick-
lungsressourcen eines
jungen Menschen.
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SCHULE & POLITIK
ge Motivation als Folge langweiligen Unter-
richts oder die langsamer lernenden Peers in
der Klassengemeinschaft. Traditionelle Bega-
bungsförderung zielte deshalb vor allem da-
rauf, Begabte von entwicklungshemmenden
Einflüssen abzuschirmen. Daraus haben sich
vier bedeutsame Fördermaßnahmen entwi-
ckelt (Colangelo & Assouline, 2009), die in
unterschiedlichem Ausmaß in der Praxis An-
wendung finden und für die weltweit etwa
neunzig Prozent der finanziellen Mittel der
Begabungsförderung – sieht man von Sti-
pendien ab – verwendet werden.
Aus dem Grundgedanken, dass Hochbe-
gabte deutlich schneller lernen als durch-
schnittlich Begabte ihrer Altersklasse, hat
sich die Maßnahme der Akzeleration entwi-
ckelt. Durch eine Verkürzung der Lernzeit
(zum Beispiel Überspringen einer Klassen-
stufe) soll potenzieller Langeweile entge-
gengewirkt werden (Colangelo & Assouline,
2009). Daraus ergibt sich die zweite Förder-
möglichkeit, das sogenannte Enrichment.
Dieses beschreibt eine Vertiefung curricula-
rer Inhalte, welche durch außerschulische
Zusatzprogramme umgesetzt werden. Eine
im Rahmen der Unterrichtszeit stattfindende
zeitliche Separierung von durchschnittlich
begabten Kindern kann mithilfe sogenann-
ter Pull-Out-Programme erfolgen (zum Bei-
spiel Förderstunden in spezifischen Domä-
nen). Homogene Unterrichtung der Begab-
ten ist in der Praxis meist in Form spezifi-
scher Hochbegabtenschulen bzw. -klassen
zu finden.
Betrachtet man die Erfolgsbilanz der vier
Fördermethoden, ist das Ergebnis jedoch er-
nüchternd. Zweifelsfrei haben die Program-
me zwar eine förderliche Wirkung, mit Be-
zug auf die übliche Klassifikation von För-
dereffekten in der Pädagogik sind die Wir-
kungen jedoch als relativ schwach zu wer-
ten (Freeman, 1998; Lipsey & Wilson, 1993).
Begabungsförderung
umdenken: Systemische
Begabungsförderung
Die Grundgedanken einer systemischen Be-
gabungsförderung lassen sich wohl am ein-
fachsten anhand einer Gegenüberstellung
zur bisherigen Förderpraxis beschreiben.
Bisherige Förderpraxis machte sich vor al-
lem zur Aufgabe, das Individuum bei seiner
Begabungsentfaltung bestmöglich zu unter-
stützen, indem Hindernisse eliminiert wer-
den (Harder, 2012). Preckel und Krampen
(2016) konnten in ihren Analysen zeigen,
dass deshalb meist auf einzelne Defizite fo-
kussiert wird. Dagegen orientiert sich syste-
mische Begabungsförderung an den Stärken
bzw. den vorhandenen Entwicklungsressour-
cen (siehe auch ’Positive Gifted Education’,
Ziegler et al., 2017). Talententwicklung wird
dabei als ein ganzheitlicher Prozess aus In-
dividuum und dessen Umgebung als kom-
plexes System betrachtet. In diesem Zusam-
menhang spricht Ziegler (2005) auch von ei-
nem Aktiotop. Dieser Begriff macht deutlich,
dass der Schwerpunkt auf den effektiven
Handlungen eines Individuums und deren
Förderung in eben diesem System liegt (zum
Beispiel exzellente Lernleistungen; sportli-
che, musikalische oder künstlerische Fertig-
keiten). Hierbei spielen Ressourcen des Indi-
viduums eine essentielle Rolle.
In der systemischen Begabungsförderung
werden zwei Arten von Ressourcen unter-
schieden: Ressourcen, die außerhalb des
Individuums liegen (exogen) und Ressour-
cen, die innerhalb des Individuums lokali-
siert sind (endogen). Exogene Ressourcen
fallen unter den Begriff des Bildungskapi-
tals, endogene Ressourcen werden dagegen
als Lernkapital bezeichnet (für eine ausführ-
lichere Beschreibung und empirische Bele-
ge, siehe Ziegler et al., 2017; Ziegler, Deba-
tin et al., 2019). Mit dieser Unterscheidung
geht auch ein verändertes Verständnis von
Lernen einher: Lernen führt nicht nur zu ei-
ner Verhaltensänderung bei dem Individuum
selbst, mit ihm entwickelt sich auch dessen
Aktiotop. Kommt es während des Lernpro-
zesses zu Schwierigkeiten, reicht es daher
nicht aus, einzelne Komponenten des Sys-
tems für das Scheitern verantwortlich zu
machen. Wechselwirkungsprozesse inner-
halb des Systems müssen Berücksichtigung
finden, um dysfunktionale Strukturen aufzu-
decken und zu korrigieren.
Dieses Verständnis von Expertise räumt
auch mit dem Mythos des begabten Lernen-
den als mühelos Lernendem auf. »Es ist
noch kein Meister vom Himmel gefallen« –
nur mithilfe der Sicherung hoher Lernquan-
tität und vor allem auch sehr hoher Lern-
qualität kann eine volle Ausschöpfung von
Begabungen erreicht werden.
DIE AUTOREN
Sarah Awad
(B.Ed.) ist wissen-
schaftliche Mitar-
beiterin und Dokto-
randin am Lehr-
stuhl für Pädagogi-
sche Psychologie und Exzellenzforschung
der Universität Erlangen-Nürnberg (FAU).
Sie war unter anderem in dem erfolg-
reich abgeschlossenen Drittmittelprojekt
’A Gifted Identification Kit for the United
Arab Emirates’ tätig und ist derzeit Mit-
gestalterin des Projekts ’World Gifted-
ness Center’ der FAU. Ihre Forschungsin-
teressen sind Begabungsidentifikation
und -förderung, Kreativitätsförderung,
Embodied Cognition sowie verbale und
nonverbale Kommunikation.
Prof. Dr. Albert
Ziegler
ist Inhaber
des Lehrstuhls für
Pädagogische Psy-
chologie und Exzel-
lenzforschung an
der Friedrich-Alexander-Universität Er-
langen-Nürnberg. Er ist unter anderem
Generalsekretär der Internationalen Be-
gabungsforschervereinigung (Internatio-
nal Research Association for Talent
Development and Excellence; IRATDE),
Herausgeber verschiedener Schriftenrei-
hen (zum Beispiel Talentförderung –
Expertiseentwicklung – Leistungsexzel-
lenz; Lehr-Lern-Forschung) sowie wissen-
schaftliches Beiratsmitglied verschiede-
ner nationaler Forschungs- und Bera-
tungszentren (zum Beispiel Deutsche
Gesellschaft für das hochbegabte Kind;
Deutscher Philologenverband; Verband
deutscher Realschullehrer).
lehrer nrw ·
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SCHULE & POLITIK
Die Krise als
Chance genutzt
Die Städtische Gesamtschule Münster-Mitte ist eine von
zwei weiterführenden Schulen in Nordrhein-Westfalen, die
mit dem Deutschen Schulpreis 2021 ausgezeichnet wurden.
Mit individuellen Lernplänen, Logbüchern und Lernbüros
gelang es ihr in den Lockdown-Phasen, ihr Konzept des
eigenverantwortlichen Lernens in den digitalen Raum zu
überführen und dort weiterzuentwickeln.
D
D
ie Städtische Gesamtschule Müns-
ter-Mitte war gut auf die Katastro-
phe vorbereitet: Als die Corona-
Pandemie die Schulen wochen- und mo-
natelang in den Lockdown zwang, muss-
ten viele in kürzester Zeit aus dem Nichts
digitale Lernformate für den Distanzun-
terricht aus dem Boden stampfen. Doch
die Münsteraner Gesamtschule war schon
vorher digital gut aufgestellt. Gemeinsam
mit dem Schulträger und dem Förderver-
ein hat sie sich in den letzten Jahren eine
leistungsfähige technische Infrastruktur
erkämpft.
Reibungsloser Wechsel
in den Distanzunterricht
»In der Oberstufe haben von Anfang an alle
Schülerinnen und Schüler ein eigenes iPad –
statt des Taschenrechners – und nutzen sehr
intensiv unsere Lernplattform und die Of-
fice-Lizenz. Daher waren sowohl unsere
Lehrkräfte als auch die Schülerschaft im
Umgang damit schon sehr versiert«, berich-
tet die didaktische Leiterin Ulli Thöne. »In
der Sekundarstufe I waren wir vor dem
Lockdown allerdings noch nicht so konse-
quent digital unterwegs. Wir hatten zwar
auch schon vorher zum Beispiel alle Bücher
als E-Books und auch für alle Office-365
Foto: Robert Bosch Stiftung, Max Lautenschläger
Foto: Deutscher Schulpreis/Stefan Kochert
Der Deutsche Schulpreis 2021
geht unter anderem
an die Gesamtschule Münster-Mitte. Mit dem Schirmherrn, Bun-
despräsident Frank-Walter Steinmeier, freuen sich bei der virtu-
ellen Preisverleihung (v.l.) Ulli Thöne, didaktische Leiterin der
Gesamtschule Münster-Mitte, und Schulleiterin Kathi Kösters.
Ihr Konzept des
selbstgesteuerten Lernens
hat die Gesamtschule Münster-Mitte
erfolgreich auch in den digitalen
Raum übertragen.
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lehrer nrw
SCHULE & POLITIK
und IServ Zugänge, aber die wurden von
den jüngeren Schülerinnen und Schülern
nicht ständig genutzt. Es fiel uns und ih-
nen dann aber erstaunlich leicht, diese
Dinge intensiver zu nutzen, weil es eben
nicht ganz neu war und weil wir ein tolles
IT-Team haben und ein Kollegium, das sehr
viel Herzblut reingegeben hat.«
Lernpläne, Lernbüro,
Logbuch
Nun macht gute Technik allein noch keinen
guten (Distanz-)Unterricht. Hier kam der
Münsteraner Gesamtschule mit ihrer recht
heterogenen Schülerschaft ihr bereits im-
plementiertes pädagogisch-didaktisches
Konzept des selbstgesteuerten Lernens zu-
gute. Die Lernpläne, das Lernbüro und das
Logbuch sind die Säulen dieses Ansatzes.
»Bei uns wird in der Sekundarstufe I von
Beginn an in allen Hauptfächern und in der
Oberstufe sogar in allen Fächern (außer
Sport) mit Lernplänen in Lernbüros gear-
beitet. Und das Logbuch zur Reflektion
und Dokumentation hat einen festen Platz
im Unterrichtsalltag – sowohl in Präsenz
als auch in der Distanz«, erklärt Ulli Thöne.
Während des Lockdowns wurde mit den
Schülerinnen und Schülern zunächst geübt,
wie man im digitalen Raum in Kontakt tre-
ten und bleiben kann. Auf dieser Basis ge-
lang es schnell, das Konzept des selbstge-
steuerten Lernens in den Distanzunterricht
zu überführen.
Die Lernpläne bieten auf unterschiedli-
chen Lern-Niveaus jedem Schüler und je-
der Schülerin die Möglichkeit, individuelle
Lernwege zu beschreiten und dennoch am
selben Inhalt zu arbeiten. Lernbürozeiten,
in denen die Schülerinnen und Schüler un-
ter Begleitung einer – ob in Präsenz oder
Distanz – ständig ansprechbaren Fachlehr-
kraft eigenständig arbeiten, wechseln mit
Projektzeiten und Phasen gemeinschaftli-
chen Unterrichts.
Lerngemeinschaft
im Digitalen
Die Lernpläne sind ebenso wie Arbeits-
blätter, Lösungen und Lernchecks online
jederzeit abrufbar. Was zu lernen oder zu
erarbeiten ist, planen, dokumentieren und
reflektieren die Schüler im Logbuch. Die-
ses im Präsenzunterricht ritualisierte Vor-
gehen hat sich in den Phasen des Lock-
downs als sehr hilfreich erwiesen, erläu-
tert Ulli Thöne. »Der fehlenden Möglich-
keit des gemeinsamen Lernens in Tisch-
gruppen, das im Präsenzunterricht so
selbstverständlich ist, begegnen wir durch
den Transfer der Tischgruppen zu festen
Lerngemeinschaften, die sich unter ande-
rem bei Videokonferenzen in Breakout-
sessions treffen. Da die Lernenden einer
Klasse auf Grund der binnendifferenzier-
ten Lernpläne am gleichen Thema arbei-
ten, können sie sich in ihren digitalen
Lerngemeinschaften ebenso gut austau-
schen und gegenseitig unterstützen wie
im Präsenzunterricht«, so die didaktische
Leiterin.
DEUTSCHER SCHULPREIS ALS SPEZIALAUSGABE
Sieben hervorragende Schulen aus Nordrhein-Westfalen (3), Hamburg (1), Hessen (1)
und Niedersachsen (2) erhalten den mit jeweils 10000 Euro dotierten Deutschen Schul-
preis 20|21 Spezial. Mit der Sonderausgabe des renommierten Wettbewerbs zeichnen die
Robert Bosch Stiftung GmbH und die Heidehof Stiftung GmbH in Zusammenarbeit mit
der ARD und der ZEIT Verlagsgruppe die
besten während der Corona-Pandemie
entstandenen Schulkonzepte aus. Elf
weitere Finalisten erhalten einen Aner-
kennungspreis in Höhe von 5000 Euro.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmei-
er hat in diesem Jahr die Schirmherr-
schaft über den Deutschen Schulpreis
Spezial übernommen und die Preisträ-
ger am 10. Mai live auf dem Deutschen
Schulportal bekanntgegeben.
Im Zentrum des Wettbewerbs 2020/
2021 standen sieben Themen, die Schu-
len aktuell besonders beschäftigen. Dazu gehören beispielsweise digitale Lehr- und Lern-
formate, das selbstorganisierte Lernen oder die Frage, wie Beziehungen zwischen Schüle-
rinnen und Schülern, Lehrkräften und Eltern wirksam gestaltet werden können. Insgesamt
haben sich 366 Schulen beworben. 121 von ihnen wurden von der Jury des Deutschen
Schulpreises für die Teilnahme am Schulpreis-Camp Ende Februar 2021 ausgewählt.
Das Deutsche Schulportal präsentiert die Konzepte aller Schulen, die es in die
Vorauswahl geschafft haben, online:
https://deutsches-schulportal.de/schulpreis-2021/#die-konzepte
Die Preisverleihungs-Zeremonie
zum Deutschen Schulpreis ging in diesem
Jahr im virtuellen Format über die Bühne.
Foto: Robert Bosch Stiftung, Max Lautenschläger
Ohne Lehrerinnen und
Lehrer geht es nicht
Bei aller Erleichterung, auch in den langen
und schwierigen Lockdown-Phasen keinen
Schüler und keine Schülerin verloren zu ha-
ben, hat sich eines sehr deutlich gezeigt, un-
terstreicht Ulli Thöne: »Auch die beste Technik
ersetzt keine Lehrerin und keinen Lehrer. Ohne
eine Beziehung zwischen Lehrkräften und
Schülern geht es nicht.« Übrigens: Der Team-
geist, den sich die Gesamtschule Münster-Mit-
te auf die Fahnen geschrieben hat, zeigte sich
nicht nur in der Krise, sondern auch in der
Stunde des Erfolgs. Als die Frage aufkam, was
die Schule denn mit den 10000 Euro anfan-
gen soll, die als Preisgeld für den Deutschen
Schulpreis auf ihr Konto gehen, war die Mei-
nung in der Lehrer- und Schülerschaft einhel-
lig: Das Geld soll auch für einen guten Zweck
gespendet werden.
Jochen Smets
ch bin ein Grieche!« … das könnte die Antwort
einer Schülerin oder eines Schülers sein, wenn
meine Kollegin Frau Maier-Schinkenbrot die Frage im
kommenden Schuljahr stellen würde, wie denn der
Satz des Pythagoras lauten würde. Sind die Schüler blöd? Nein, sie
sind nur ungebildet. Danke, liebes Corona-Jahr. Wenn wir nur teil-
weise daran denken, was den Schülerinnen und Schülern an Unter-
richtsstoff fehlt, dann kann man teilweise mit gutem Gewissen
nicht mehr schlafen. Es fehlt minimal der Unterrichtsstoff eines
halben Schuljahres, wenn nicht noch mehr.
Diese Pandemie hat uns vor die Aufgabe gestellt, in unseren
eigenen Fächern entscheiden zu müssen, was nun wichtige und
was unwichtige Unterrichtsthemen seien. Zusammenstreichen ist
das Schlagwort! Auch wenn die Landesregierung nun das Angebot
’Lernferien’ setzt, seien wir doch mal ehrlich; wenn wir noch Schü-
ler wären, hätte nur eine überschaubare Menge daran teilgenom-
men. Eine sehr überschaubare Menge.
Diese Erkenntnis lässt die Politik straucheln. Sie überlegen sich
immer neue Konzepte, um die Defizite der Schülerinnen und Schü-
ler aufzufangen. Die Lösung: mehr Lehrerinnen und Lehrer einstel-
len. Absolut genialer Gedanke! Da wären wir nie drauf gekommen!
Nur blöd, wenn man etwas einstellen möchte, was es gar nicht
gibt. Die neueste Idee wäre, Lehramtsstudenten und Lehramtsstu-
dentinnen einzustellen, die dann das fehlende Wissen vermitteln
sollen, aber selber noch nicht wissen, wie man Wissen vermittelt.
Eine Zwickmühle. Und wie möchte man diese beschäftigen? Danke
für die Hilfe in der Krise, aber nun haben Sie ihre Schuldigkeit getan
und können abhauen. Wie undankbar ist das denn? Wobei, so
lernen die Studentinnen und Studenten des Lehramtes direkt vom
ersten Tag, dass die Wertschätzung in unserem Beruf mehr als klein
ist. Moment, welche Wertschätzung?
Also eines steht fest: Aus dieser Bildungskrise kommen wir so
schnell nicht heraus, es sei denn, alle würden dieses Schuljahr
komplett wiederholen, wie nach dem Zweiten Weltkrieg. Aber da
sich keiner diesen Aufschrei der Bevölkerung vor den Wahlen an-
hören möchte, bleiben wir doch beim entspannten Weg und neh-
men die meisten Schülerinnen und Schüler mit. Wie sinnvoll das
alles ist, sei dahingestellt. Liebe Politiker, vielleicht traut ihr euch
einmal in eine Schule und bietet ’Nachhilfe’ an. Macht es doch mal
vor; es ist doch so einfach. Ich helfe Euch auch bei der Einführung.
Euer alter ergebener Kollege
Ferdinand Kümmertsich
Der Satz des
Pythagoras
Der Kollege Ferdinand Kümmertsich ist gestählt durch unzählige Schlachten in
Konferenzen, Bezirksregierungsbüros und Elternsprechtagen. Mit reichlich
Berufs- und Lebenserfahrung ausgestattet, blickt er mit einem Augenzwinkern
auf den ganz normalen Wahnsinn des Systems Schule.
Ferdinand Kümmertsich
lehrer nrw ·
4/2021
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KOLUMNE
Der Satz des
Pythagoras
»
I
Johannes Böhnlein
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4/2021 ·
lehrer nrw
SENIOREN
In eigener Sache
Liebe Kolleginnen und Kollegen, hiermit möchte
ich Ihnen mitteilen, dass ich am 11. Juni die Lei-
tung des Referates Pensionäre an die Kollegin
Monika Holder übergeben konnte. Ich bin jetzt
über 82 Jahre alt und ha-
be die Leitung mehr als
fünfzehn Jahre innege-
habt.
Mit Kolleginnen und
Kollegen aus allen fünf
Regierungsbezirken haben
wir Veranstaltungen für
unsere Seniorinnen und
Senioren geplant und
durchgeführt, zum Beispiel
Besichtigungen, größere
und kleinere Fahrten im
In- und Ausland sowie di-
verse Fortbildungen und
Beratungsangebote. Ich
weiß, dass Monika Holder
voller Ideen ist, die sie mit uns älteren Mitglie-
dern zusammen verwirklichen möchte und auch
bestens kann. Ich sage Ihnen allen ganz herzli-
chen Dank für die positiven und auch manchmal
kritischen Rückmel-
dungen von Ihnen. Mir
hat es wirklich Spaß
gemacht, mit Ihnen
und für Sie zu arbei-
ten.
Ich habe die Hoff-
nung, zusammen mit
meiner Frau, noch lan-
ge Zeit an Veranstal-
tungen des Verbandes
teilnehmen zu können.
In diesem Sinne: Bis
bald – und bleiben Sie
gesund!
Ihr Konrad
Dahlmann
Konrad Dahlmann,
langjähriger Leiter des Referats Senioren
Verkehrte
Welt?
Hätten Sie es jemals gedacht,
dass Ihre (normale, nicht streber-
haft übermotivierte) elfjährige
Enkeltochter in diesen Tagen ein-
mal aus tiefstem Herzen sagen
würde, »ich freue mich richtig,
dass ich ab Mittwoch (26. Mai
2021) wieder in die Schule ge-
hen kann?«
Diesen innigen Wunsch habe
ich, zunächst oberflächlich ge-
dacht, nicht erwartet. Aber nach-
vollziehbar ist er; denn seit Mitte
Dezember 2020 hat das Mäd-
chen nicht mehr am Präsenzun-
terricht teilgenommen. Einmal,
weil er über Wochen nicht statt-
finden durfte, ein anderes Mal,
weil sie der Gruppe angehörte,
die in der Woche vor Ostern, als
wieder Präsenzunterricht in hal-
ber Klassenstärke möglich war,
Distanzunterricht hatte. Nun
freut sie sich riesig darauf, end-
lich ihre Klassenkameradinnen
und -kameraden sowie ihre Leh-
rerinnen und Lehrer wieder live
zu erleben und nicht nur am
Bildschirm zu sehen.Also doch
keine verkehrte Welt!
Trauer um
Johannes Böhnlein, RR.i.R.
Am Ende seines pädagogischen Wirkens leitete Johannes
Böhnlein (geboren 1935) die Realschule Heessen (Hamm).
Am 28. April 2021 verschied er friedlich im Kreise seiner
Lieben. Er bestach nicht nur durch seine Kompetenz als
Schulleiter und Fachlehrer für Englisch und Erdkunde, son-
dern auch durch seine menschlichen Qualitäten.
In aller Bescheidenheit galt Johannes Böhnlein für die
Seinen als ein einzigartiger Ruhepol und hinterlässt damit
für sie und seine Freunde eine große Lücke!
Uns bleibt die Erinnerung an einen liebenswerten Freund
und Kollegen.
Danke, Johannes!
Bernhard Müller
INFO
Einen ausführlichen Nachruf finden Sie unter www.lehrernrw.de/verband/senioren/
senioren-infobriefe/senioren-infobriefe-2021/senioren-infobrief-4-2021.html
Wie und wann geht
es weiter?
Wann können sich die
lehrer
nrw
-Seniorinnen und -Senioren
wieder persönlich und nicht nur
über das Internet treffen? Die
aktuelle Pandemielage gibt Hoff-
nung. Das Referat Senioren im
lehrer nrw
hat bereits einige
Projekte angedacht. Verfolgen
Sie deshalb bitte die Ankündi-
gungen im SeniorenInfobrief, auf
der Verbandshomepage oder in
Ihrem E-Mail-Posteingang.
lehrer nrw ·
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Lieber graue Maus
als bunter Vogel?
Ist ein tätowierter Lehrer ein weniger (re)präsentabler Staats-
diener als ein untätowierter? Wie weit Individualität reichen
darf, hat der Staat jüngst wieder versucht zu regeln. Das dabei
entstandene Gesetz wirft jedoch Fragen auf.
S
S
pricht man von einer »grauen
Maus«, so will man üblicherweise
eine Person beschreiben, die wenig
oder gar nicht von anderen Menschen
wahrgenommen wird. Ein kürzlich verab-
schiedetes Gesetz scheint diesen Grund-
satz gewissermaßen ins Gegenteil zu ver-
kehren. Es geht dabei um das äußere Er-
scheinungsbild von Beamtinnen und Be-
amten. Laut Gesetzesbegründung führen
sichtbare Tattoos vorgeblich dazu, dass
deren Träger weniger als Repräsentant des
Staates sondern eher als Individuum wahr-
genommen werden. Soll das demnach be-
deuten: Nur Beamtinnen und Beamte mit
unauffälligem Erscheinungsbild werden als
korrekte Repräsentantin und korrekter Re-
präsentant des Staates wahrgenommen?
Das heißt, eine deutlich sichtbar tätowierte
Klassenlehrerin beispielsweise werde we-
niger als Lehrerin wahrgenommen und
stattdessen ’nur’ als Individualperson?
Beamter trotz Tätowierung
Vor etwas mehr als drei Jahren entschied
das Verwaltungsgericht Düsseldorf, dass
ein Bewerber als Polizeibeamter nicht aus-
schließlich deshalb abgelehnt werden dür-
fe, weil er eine großflächige Tätowierung
eines Löwenkopfes auf der Innenseite des
RECHT
§
AUSLEGER
von CHRISTOPHER LANGE
Wieviel Individualität darf
sich ein Beamter oder eine
Beamtin erlauben?
Ob ein Mensch ein guter oder schlech-
ter Lehrer ist, wird sich kaum anhand
eines vorhandenen oder nicht vorhan-
denen Tattoos feststellen lassen.
Foto: AdobeStock/diignat
Foto: AdobeStock/nenadaksic
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lehrer nrw
Unterarms trage (VG Düsseldorf, Urteil
vom 8. Mai 2018, 2 K 15637/17). Das
Gericht hatte sich der Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts angeschlos-
sen, wonach das Verbot bestimmter Täto-
wierungen seine Grundlage in einem aus-
drücklichen einschlägigen Gesetz und
nicht beispielsweise nur in einem Erlass
finden muss. So weit, so gut.
Die Richter hatten im Verfahren aber
auch darauf hingewiesen, dass Tätowie-
rungen an den Armen augenscheinlich zu-
nähmen, was für einen gesellschaftlichen
Wandel spreche. Damals hatte auch
lehrer
nrw
in dieser Zeitschrift auf den Punkt
gebracht, dass Tätowierungen heutzutage
zu einem modischen Accessoire geworden
sind, und dargelegt, worauf Lehrkräfte
achten sollten, wenn sie sich tätowieren
lassen wollen (Ausgabe 05/2017).
Ein Gesetz,
das Fragen aufwirft
Wie ist vor diesem Hintergrund das ange-
sprochene jungfräuliche Gesetz zum äuße-
ren Erscheinungsbild von Beamtinnen und
Beamten einzuordnen?
Durch das Gesetz werden verschiedene
erforderliche Ermächtigungsgrundlagen
geschaffen, damit Beamtinnen und Beam-
ten das Tragen von sichtbaren »bestimm-
ten Kleidungsstücken, Schmuck, Symbolen
und Tätowierungen« verboten werden
kann. Das soll auch dann möglich sein,
wenn diese »religiös oder weltanschaulich
konnotiert« sind. Mit der Neufassung von
§ 34 Beamtenstatusgesetz (BeamtStG)
wird dabei auch eine Grundlage für Verbo-
te für Beamtinnen und Beamte in den Bun-
desländern geschaffen, weil das BeamtStG
die wesentlichen Rechte und Pflichten aller
Beamtinnen und Beamten von Bund, Län-
dern und Kommunen bestimmt.
Damit kann verhindert werden, dass
Beamtinnen und Beamte sichtbare Tattoos
während des Dienstes mit verfassungs-
feindlichen, mit extremistischen, rassisti-
schen oder sexistischen Motiven tragen.
Aber es können auch ‘Merkmale des Er-
scheinungsbildes’ untersagt werden, die
»durch ihre über das Maß hinausgehende
besonders individualisierende Art geeignet
sind, die amtliche Funktion der Beamtin
oder des Beamten in den Hintergrund zu
drängen«.
Und dieser große Einzugsbereich kann
aber eben durchaus hinterfragt werden –
an sich sogar aus mehreren Blickwinkeln,
von denen hier nur einer im Mittelpunkt
stehen soll.
Wie weit darf oder
sollte der Regelungsdrang
des Staates reichen?
Es soll dabei nicht um die verfassungs-
rechtlich problematische Frage gehen, ob
die Materie überhaupt durch Bundesrecht
geregelt werden darf. Schließlich darf der
Bund nach Artikel 74 Absatz 1 Nr. 27
Grundgesetz nur die wesentlichen status-
prägenden Rechte und Pflichten der Lan-
desbeamtinnen und -beamten bestimmen
– ob insbesondere Tattoos dazu gehören,
ist fraglich.
Hier soll es auch nicht um das höchstbri-
sante Thema Religion gehen. »Religiös –
und weltanschaulich konnotierte Merkma-
le« wie ein christliches Kreuz, eine jüdi-
sche Kippa oder ein muslimisches Kopftuch
sollen untersagt werden können, »wenn
sie objektiv geeignet sind, das Vertrauen
in die neutrale Amtsführung der Beamtin
oder des Beamten zu beeinträchtigen«.
Wie verhält sich dies zu der Entscheidung
des Bundesverfassungsgerichts, dass Leh-
rerinnen das Tragen eines muslimisch mo-
tivierten Kopftuchs verboten werden kön-
ne, aber nicht allein wegen dessen abs-
trakter Eignung zur Begründung einer
Gefahr für Schulfrieden und staatliche
Neutralität (Beschluss vom 27. Januar
2015, BvR 471/10)?
Tätowierungen und
anderer Körperschmuck
In diesem Beitrag soll der oben angespro-
chene ’modische’ Aspekt der Regelungen
im Fokus stehen. Beamtinnen und Beamte
müssen fortan »hinsichtlich ihres Erschei-
nungsbildes Rücksicht auf das ihrem Amt
entgegengebrachte Vertrauen nehmen«. Ne-
ben Tätowierungen, Schmuck und Symbolen
im sichtbaren Bereich soll zum Beispiel auch
die »Art der Haar- und Barttracht« einge-
schränkt werden dürfen, wenn sie objektiv
geeignet ist, das Vertrauen in die neutrale
Amtsführung zu beeinträchtigen. Nach der
Gesetzesbegründung gelten diese Vorgaben
auch für Fingernägel, Kosmetik, Ohrtunnel,
Brandings und Dermal Implants. Die ’Sicht-
barkeit’ eines Körperschmuckes orientiert
sich dabei an einer Sommeruniform von
Polizistinnen und Polizisten mit kurzärmli-
gem Hemd.
Die Lehrkraft muss keine
graue Maus sein
Es drängt sich an dieser Stelle die Frage auf,
ob der Gesetzgeber mit derart weiten Ver-
botsmöglichkeiten nicht doch einen Rück-
schritt macht und den bereits angedeuteten
gesellschaftlichen Wandel zur Akzeptanz
von Tattoos und sonstiger Formen individu-
eller äußerer Erscheinungsbilder verkennt.
Auch wenn viele Menschen größere Täto-
wierungen für nicht ästhetisch und nicht
passend halten, heißt das nicht (mehr) zwin-
gend, dass einem Staatsdiener damit nicht
das Vertrauen in die korrekte Amtsführung
entgegengebracht wird. Abgesehen davon,
dass diese vagen Maßgaben im einzelnen
für viele Streitfälle sorgen könnten, könnten
sie auch dazu führen, dass gerade in der an-
stehenden Jahreszeit beispielsweise Lehr-
kräfte in Sommerkleidung nur aus Vorsicht
eher als graue Maus auftreten und auf ein
individuelles Äußeres verzichten, in dem sie
sich wohlfühlen. Dies wäre in einer freien
Gesellschaft schade und hat auch nichts ei-
nem dezent-gepflegten Erscheinungsbild
und mit dem Vorbildcharakter einer Lehr-
kraft zu tun. Es ist daher schlicht zu hoffen,
dass es in der Praxis nicht zu derart engen
beziehungsweise strengen Gesetzesausle-
gungen kommt und sich Lehrkräfte nicht
über ’wohlgemeinte’ mahnende Hinweise
insbesondere von Vorgesetzten wegen ihres
Äußeren ärgern werden.
RECHT
§
AUSLEGER
Christopher Lange leitet die Rechtsabteilung
des
lehrer nrw
E-Mail: Rechtsabteilung@lehrernrw.de
lehrer nrw ·
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ANGESPITZT
»
»
M
M
it einem Wumms aus der Krise
kommen«, lautete letztes Jahr
die von Bundesfinanzminister Olaf Scholz
ausgegebene Parole nebst einem hüb-
schen Konjunkturpaket. Das hat offenbar
inspirierend gewirkt. Zum Beispiel auf
Bundesfamilienministerin Franziska Giffey
(inzwischen aus anderen Gründen zurück-
getreten) und die Amtskollegin Anja Kar-
liczek von der Bildung. Die beiden haben
ebenfalls die Wumme ausgepackt und ein
zwei Milliarden Euro schweres Aktions-
programm abgefeuert. Ein Schwerpunkt:
Abbau von Bildungsrückständen.
Da ist in Corona-Zeiten einiges aufge-
laufen: Auf welt.de ist etwas nebulös zu
lesen, dass »laut den meisten Schätzun-
gen« 20 bis 25 Prozent der Schülerinnen
und Schüler den Anschluss weitgehend
verloren haben und weitere 20 bis 30
Prozent zumindest erhebliche Lernrück-
stände mit in die Sommerferien neh-
men. Nicht nur die Damen Giffey und
Karliczek lassen es daher aus dem Füll-
horn schulpolitischer Wohltaten regnen.
Die NRW-Landesregierung zum Beispiel
möchte bis Sommer 2022 stolze 36 Mil-
lionen Euro für außerschulische Förder-
angebote bereitstellen. Wenn wir mal
davon ausgehen, dass etwa die Hälfte
der 2,5 Millionen Schüler in Nordrhein-
Westfalen Nachholbedarf hat, wären
das um die dreißig Euro pro Schüler.
Allerhand.
Allerdings fließen aus Bundes- und
Landesmitteln auch schon knapp 500
Millionen nach Nordrhein-Westfalen,
wo die SPD ebenfalls Vorschläge zur
Rettung des Bildungsniveaus unterbrei-
tet hat. Achtzig zusätzliche Unterrichts-
stunden in den Jahren 2021 und 2022
möchten die Genossen spendieren, und
zwar unter dem Dach der Schule und
eng verzahnt mit dem Ganztagslernan-
gebot. Dazu gelte es bloß, qualifiziertes
Personal zu gewinnen (Kleinigkeit!) –
gegebenenfalls könne man Lehramts-
studierende oder auch Teilnehmende
des Freiwilligendienstes hinzuziehen.
Am besten – frei nach Schabowski –
sofort, unverzüglich. Warum die Zeit mit
Sommerferien verplempern? Die Kids
waren so lange zu Hause, die freuen
sich auf sechs Wochen Ferienprogramm
in der Schule. Außerdem kommen sie
dann, anders als ihre Eltern, nicht in
Versuchung, Urlaub in Corona-Mutati-
onsgebieten zu machen und als Super-
spreader zurückzukehren. Also: Macht
die Schulen auf!
Jochen Smets
Macht die Schulen auf!
Über Feedback zu meinen Gehirnjogging Übungen würde ich mehr sehr freuen: mail@heike-loosen.de Heike Loosen
Lösung Aufgabe 1: Weiße Felder: 30 | Blaue Felder: 34
Visuelle
Konzen-
tration
Aus wie vielen blauen und wei-
ßen Quadraten besteht diese 8x8
Felder große Fläche, wenn Sie
immer zwei halbe Felder zu
einem Quadrat ergänzen?
Wörter ergänzen
Ergänzen Sie die
vorgegebenen
Buchstabenkom-
binationen zu
neuen sinnvol-
len Wörtern.
Dazu können Sie
beliebig viele
Buchstaben vor
und hinter die
vorgegebenen
setzen.
HIRNJOGGING
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lehrer nrw
WUN
LUN
ERW
UNG
TUN
SEN
LAM
ONG
POL
AUFGABE 1:
AUFGABE 2:
Mitglied
werden!
Unsere Lehrkräfte stärken!
Ihr direkter Weg
zum Beitrittsformular:
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