lehrer nrw ·
5/2018
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S
CHULE & POLITIK
?
Welche Veränderungs- und Ent-
wicklungsprozesse halten sie aktu-
ell in Schule für erforderlich bzw. wün-
schenswert?
BURCHARDT:
Die Frage gibt mir die Gele-
g
enheit, ein Missverständnis auszuräu-
men: Wenn ich gegen Change-Manage-
ment argumentiere, heißt das nicht, dass
ich Veränderungen von Schule ablehnen
würde. Es geht zunächst einmal nur um
den Modus operandi. Wer Psychotechniken
einsetzt, gerät unter Verdacht,
keine guten Argumente zu ha-
ben oder sich nicht diskursiv mit
dem Kollegium auseinanderset-
zen zu wollen. Nach meinem
Eindruck ist die Schule in den
letzten Jahrzehnten auf dem Rü-
cken von SchülerInnen und Lehre-
rInnen beinahe kaputt reformiert
worden. Und in Anbetracht des-
sen, dass sie auch schon vorher so
manche Mängel aufgewiesen hat,
grenzt es schon an ein Wunder,
dass sie überhaupt noch funktio-
niert.
Was also muss sich ändern? Alles
pädagogische Handeln muss am hu-
manistischen und aufklärerischen Ge-
danken der Bildung orientiert sein.
Allgemeine Menschenbildung und be-
rufsqualifizierende Ausbildung dürfen nicht
gegeneinander ausgespielt werden, die
akademische Laufbahn nicht gegen die
duale Ausbildung. Die Kompetenzorientie-
rung darf nicht zu Lasten der Fachlichkeit
gehen. Klassenunterricht und die Rolle der
Lehrkraft müssen aufgewertet werden, oh-
ne dass dabei die didaktisch begründete
Methodenvielfalt auf der Strecke bleibt.
Die Lehrerbildung an den Hochschulen
muss entideologisiert werden – in einer
produktiven Balance von empirischer Un-
terrichtsforschung und geisteswissen-
schaftlicher Bildungstheorie. Aus der Schul-
verwaltung sollten die ökonomistischen
Steuerungsmodelle der Governance ver-
schwinden, und die lächerlichen Rituale
der Qualitätsanalyse gehören abgeschafft.
?
Die pädagogische Freiheit der
Lehrperson ist ein Begriff, der heu-
te Abend vielfach genannt wurde. Was
verstehen sie konkret unter dieser
Freiheit und wo endet diese Freiheit
nach ihrer Einschätzung?
BURCHARDT:
Pädagogische Freiheit ist
kein Privileg, das Lehrkräfte fordern, um
unkontrolliert ihren Launen nachgehen zu
können, sondern die conditio sine
qua non jeg-
licher pädagogischer Tätigkeit. Sie schafft
Spielräume für angemessenes Handeln un-
ter prinzipiell unwägbaren Rahmenbedin-
gungen. Kinder sind eben keine Objekte
oder beliebig formbares Rohmaterial in ei-
nem schematisierbaren Produktionszyklus,
sondern Individuum, Subjekte der Würde
und der Freiheit. Auf der anderen Seite gibt
es verbindliche Normen, die an die Kinder
herangetragen werden müssen, damit die-
se nicht der Unbildung anheimfallen: Ethi-
sche Wertorientierungen, fachliche Wis-
sensgehalte, kulturelle Fertigkeiten und ei-
ne demokratische Gesinnung sind der Will-
kür aller Beteiligten enthoben. Nur die pä-
dagogische Freiheit kann zwischen beidem
durch wertgeleitete und zugleich situative
Entscheidungen eine Brücke bauen. Aus
guten Gründen war bisher die Ausübung
dieser Freiheit an gewisse Voraussetzun-
gen gebunden: eine fachliche und pädago-
gische Ausbildung und die Selbstverpflich-
tung auf die Verfassungsziele. Sicher ge-
hört auch dazu, dass die Lehrperson selbst
e
in gebildeter Mensch ist, über Selbster-
kenntnis und Urteilskraft verfügt.
Ihre Grenze findet diese Freiheit in der
pädagogischen Verantwortung für die Bil-
dung der anvertrauten Kinder und Jugend-
lichen. Dafür sorgen Gesetze, Verordnun-
gen als äußere Rahmungen und das eige-
ne Gewissen als Prüfstein verantwortli-
chen Handelns. Die meisten LehrerInnen,
die ich kenne, gehen übrigens sehr beson-
nen mit dieser Freiheit um.
?
Die heutige Veranstaltung war
sehr gut besucht, und ihre letzte
Veröffentlichung verkaufte sich dort
gut. Bitte skizzieren Sie ihre typi-
schen Leser und Zuhörer.
BURCHARDT:
Ich weiß gar nicht, ob es
einen bestimmten Typus gibt. Generell
spüren inzwischen alle Beteiligten, dass
etwas im Bildungswesen gewaltig
schiefläuft. Das Realitätsprinzip kann
weder durch wohlklingende ideologi-
sche Verheißungen nach durch ver-
meintliche Erfolgsstatistiken dauer-
haft außer Kraft gesetzt werden. Unsere
Publikation dient einerseits der Aufklärung
über die Abläufe hinter den Reformkulis-
sen und schafft andererseits Spielräume
zur Formulierung von Alternativen. Bil-
dungspolitik ist eben nicht alternativlos
den Sachzwängen von Ökonomisierung
oder Digitalisierung ausgeliefert, sondern
kann auf der Basis von pädagogischer Evi-
denz und klarer Werteorientierung demo-
kratisch gestaltet werden. Insofern möch-
ten wir Leser/innen stärken und ermutigen,
an diesem Gestaltungsprozess teilzuneh-
men. Denn auch das soll nicht verschwie-
gen werden: Die Change-Prozesse haben
erhebliche Verletzungen gerade in den
Seelen von engagierten Pädagog/inn/en
hinterlassen.
Das Interview führte Frank Görgens