54. Mülheimer Kongress
Der 54. Mülheimer Kongress bot eine stimmige Mischung aus intellektuellem Gehalt, Fachinformation, Unterhaltung und Zusammengehörigkeitsgefühl. Die Referenten gaben den rund 130 Besucherinnen und Besuchern faszinierende Einblicke in die Entwicklung der Bildung.
Schon der erste Kongresstag bot extrem spannende Gegensätze: hier der dezidierte Digitalisierungs-Optimist Prof. Dr. Olaf-Axel Burow, dort der ausgewiesene Digitalisierungs-Skeptiker Prof. Dr. Jochen Krautz. Beide trafen nicht im direkten wissenschaftlichen Disput aufeinander, sondern konnten das Publikum nacheinander von ihren Argumenten überzeugen.
Revolution des Lernens
Burow gehörte die Bühne am Vormittag. Und er nutzte sie zu einem schonungslosen Ausblick auf die Zukunft der Bildung. Seine Eingangsthese: „Im 21. Jahrhundert werden wir eine Veränderung der Lebensbedingungen, Anforderungen und Möglichkeiten des Menschen erleben, die in ihrer Intensität etwa dem Wandel der zurückliegenden 20.000 Jahre Menschheitsgeschichte entsprechen.“ Die Konsequenz: „Eine zukunftssichere Schule muss auf schnellen Wandel eingestellt sein“, betonte Burow. Daher müssten Schulen eine neue Lehr- und Lernkultur unter kreativer Nutzung digitaler Medien und von Künstlicher Intelligenz (KI) proaktiv entwickeln, um personenbezogen Talente und Neigungen zu fördern.
KI-Agenten und interaktive Lernplattformen bedeuten aus Burows Sicht nicht weniger als eine Revolution des Lernens. So könne eine Software automatisch individuell passende Übungs-Aufgaben generieren, die so aufgebaut sind, dass der Schüler nach zehn richtigen Lösungen automatisch auf die nächste Schwierigkeitsstufe geführt wird. Eine im Hintergrund mitlaufende Analyse- und Dokumentationssoftware ermögliche es der Lehrkraft, die Arbeitsweise und die Lernschwierigkeiten des Lernenden nachzuverfolgen, um passgenau Hilfen geben zu können. Der Lernstoff werde in Kompetenzraster gegliedert, die die Schülerinnen und Schüler selbstständig bearbeiten.
Die Rolle der Lehrkraft in der von Burow skizzierten Schule der Zukunft blieb indes eher vage. Es wird jedoch eine grundlegend andere sein. Burow sprach von KI als „Gamechanger“: Digitale Assistenten könnten als Coaches genutzt werden, um „passgenau“ bzw. „personengemäß“ zu lernen. Dadurch gewännen Lehrerinnen und Lehrer mehr Zeit, um Talente und Neigungen zu entdecken und zu fördern.
„We will rock you“
Nach dieser einerseits faszinierenden, andererseits aber auch äußerst disruptiven Zukunftsvision fesselte die Big Band der Erich-Klausener-Realschule Herten auf ganz andere Weise. Mit ihrem warmen und zugleich ungeheuer kraftvollen Sound begeisterte die Band das Mülheimer Publikum einmal mehr restlos. Vom sanften „Smooth Operator“ bis zum treibenden „We will rock you“, reichte das Spektrum der Arrangements. Einen Sonderapplaus erhielt die 16-jährige Emilia für ihre wunderbare Gesangseinlage zu „Can you feel the love tonight“ aus „König der Löwen“. Mit Standing Ovations wurde die EKS Big Band verabschiedet.
„Chat GPT und KI kennen keine Empathie und keine Wertschätzung“
Der Nachmittag des ersten Kongresstages gehörte dann Prof. Dr. Jochen Krautz. Sein Plädoyer „Für eine Renaissance der Schule“ war zugleich ein Gegenentwurf zur Burowschen Zukunftsvision. Der Annahme, dass die heutige Schule unmodern sei oder sich gar dem Fortschritt verweigere, sei falsch, so Krautz: „Denn die pädagogischen Aufgaben von Schule bleiben die gleichen.“ Der Vision von Lehrkräften als Moderatoren selbstgesteuerter Lernprozesse erteilte er ebenfalls eine Absage, weil Schülerinnen und Schüler mit einer realen Person in Beziehung treten möchten, um sich an ihr zu orientieren und auch mal zu reiben. „Chat GPT und KI kennen keine Empathie und keine Wertschätzung. Sie können weder selbst verstehen, noch andere verstehen lehren. Selbstgesteuertes Lernen ohne Anleitung sorgt dafür, dass schwache Schülerinnen und Schüler schwach bleiben.“
Natürlich mache die Digitalisierung vor der Schule nicht Halt, weiß Krautz. Demzufolge sollten digitale Medien darin eine angemessene Rolle spielen, aber eben keine zentrale. Aus Sicht des Bildungsforschers muss Schule auch ein Schutzraum sein, der Kinder vor den Verlockungen digitaler Medien bewahrt, die in vielen Fällen auf Abhängigkeit designt seien. Krautz‘ Fazit: „Die Schule der Zukunft ist eine analoge Schule mit realen Menschen – oder sie wird keine Schule mehr sein.“
Es gab also schon am ersten Kongresstag reichlich Diskussionsstoff, der in vielen Gesprächen in kleineren und größeren Runden vertieft wurde. Auch das macht den Mülheimer Kongress aus: das Miteinander, der Austausch, die Gemeinschaft. Das galt natürlich auch für die traditionelle Abendveranstaltung in familiärer Atmosphäre und bester musikalischer Unterhaltung durch die „Doris D Band“.
Nicht die Schule erzeugt ungleiche Bildungschancen, sondern der Staat
Ein weiteres Highlight des von Thorsten Schmalt exzellent moderierten Kongresses war der faszinierende Vortrag „Mythos Bildung“ des Integrationsforschers Prof. Dr. Aladin El-Mafaalani zum Auftakt des zweiten Tages. Er schlug den Bogen vom Humboldtschen Bildungsbegriff bis zur heutigen superdiversen Gesellschaft mit ihren mannigfaltigen Nationalitäten, Kulturen und Sprachen. El-Mafaalani berichtete von deutschen Schulen, in denen in nur einer Klasse zwölf und mehr unterschiedliche Sprachen gesprochen würden. Dass das für Schulen und Lehrpersonal eine immense Herausforderung ist, der sie gerade in Zeiten des Lehrkräftemangels kaum gerecht werden können, liegt auf der Hand. Insofern sei es wenig verwunderlich, dass die Zahl der Jugendlichen ohne Schulabschluss stetig wachse. „Eine Gesellschaft, die darin das riesige Potenzial an ungenutzten Ressourcen erkennen würde, hätte das niemals zugelassen“, erklärte El-Mafaalani. Daher sei es auch nicht die Schule, die ungleiche Bildungschancen erzeuge, sondern der Staat.
Podiumsdiskussion mit erlesener Expertenriege
Den Schlusspunkt bildete eine von lehrer nrw-Pressesprecher Jochen Smets moderierte Podiumsdiskussion mit einer erlesenen Expertenriege. Dabei hob Dr. Urban Mauer, Staatssekretär im NRW-Schulministerium, erste Erfolge des Handlungskonzepts zur Unterrichtsversorgung hervor, zum Beispiel eine Erhöhung von Abordnungen oder Rückgänge bei der voraussetzungslosen Teilzeit. Dass diese vermeintlichen Erfolge aus Sicht von lehrer nrw teuer erkauft sind – nämlich mit einem Attraktivitätsverlust des Lehrerberufs und einer unvermindert hohen Arbeitsbelastung der Bestandslehrkräfte – blieb jedoch nicht verborgen.
Christoph Pienkoß, Geschäftsführer des Verbandes Bildungsmedien, sah digital und analog als zwei Seiten derselben Medaille. Das gedruckte Schulbuch habe weiterhin einen hohen Stellenwert, und ergänzend dazu böten die Verlage heute eine große Vielfalt an digitalem Lehr- und Lernmaterial. „Wir hören hin, was die Lehrkräfte brauchen“, so Pienkoß.
Martin Hüppe, Geschäftsführer von IServ, einem führenden Anbieter von Schulplattformen, hatte eine klare Haltung zur schulischen Nutzung solcher Plattformen: „Es kann nicht sein, dass Supportfragen und Administrationsthemen vielfach immer noch bei den Lehrkräften abgeladen werden. Wir sehen es auch als unsere Aufgabe an, das zu ändern.“
Jochen Smets
Rund 130 Teilnehmende erlebten beim 54. Mülheimer Kongress am 22. und 23. November ein spannendes Programm.
Die Big Band der Erich-Klausener-Realschule Herten begeisterte einmal mehr mit tollem Sound und verdiente sich Standing Ovations.
Die 16-jährige Emilia verzauberte das Publikum mit ihrer Version des Welthits „Can you feel the love tonight“.
Digitalisierungs-Optimist: Prof. Dr. Olaf-Axel Burow
Digitalisierungs-Skeptiker: Prof. Dr. Jochen Krautz
Der Integrationsforscher Prof. Dr. Aladin El-Mafaalani zeigte schonungslos auf, vor welchen Herausforderungen unser Bildungssystem steht.
Moderator Thorsten Schmalt führte ebenso souverän wie unterhaltsam durch das Kongressprogramm.
Alle Fotos: Smets
Prof. Dr. Olaf-Axel Burow hat uns die PowerPoint-Unterlage (ca. 250 MB) seines Vortrags freundlicherweise zur Verfügung gestellt.