Erfolgreicher Mülheimer Kongress
Der 47. Mülheimer Kongress war einmal mehr ein voller Erfolg. Rund 150 Besucher und zahlreiche Ehrengäste erlebten ein spannendes, abwechslungsreiches Programm.
Die lehrer nrw-Vorsitzende Brigitte Balbach stimmte die Besucher mit ihrer kämpferischen Rede auf das Motto des Kongresses ein: „Ich bin Lehrer – holt mich hier raus!“. Sie wies darauf hin, dass viele Lehrkräfte inzwischen am System Schule leiden: „Was uns eint, sind Frust, Angst, Überdruss, Wut bin hin zu Leid, weil unsere Handlungs-Spielräume immer enger werden, die Aufgabenflut stetig anwächst und vor allem weil wir Aufgaben aufgebürdet bekommen, für die wir nicht aus- und weitergebildet sind und werden.“ Balbach machte das insbesondere an den drei „Großbaustellen“ der nordrhein-westfälischen Schullandschaft fest: Inklusion, Integration und der Umbau der Schulstruktur hin zum längeren gemeinsamen Lernen.
Prof. Dr. Peter J. Brenner (TU München) konstatierte in seiner gewohnt präzisen Analyse zum Status quo des Lehrerberufs, dass der einzelne Schüler, das atomisierte Individuum, in den Fokus der Schulpolitik gerückt ist. Dagegen löse sich die Schulklasse als Sozialverband langsam auf. Statt des klassischen Unterrichtsgesprächs entstünden Lernstationen und Lerngelegenheiten. „Man geht davon aus, dass Schüler selbst lernende Wesen sind, die es sich schon selbst beibringen“, sagte Brenner und machte aus seiner Skepsis keinen Hehl: „Es wird eher selbst fahrende Autos als selbst lernende Schüler geben.“
Daran knüpfte auch der Gymnasiallehrer und Autor Michael Felten in seinem Vortrag über individuelle Förderung an. Er warnte, dass individuelle Förderung in total heterogenen Lerngruppen kaum funktionieren könne – erst recht, wenn die Unterstützung durch eine zweite Lehrkraft im Klassenraum fehle. Felten folgert: „Nicht Vielfalt macht schlauer, sondern guter Unterricht.“
Einen pessimistischen Ausblick auf die Chancen und Risiken digitaler Medien in Schule und Unterricht gab Prof. Dr. Ralf Lankau von der Hochschule Offenburg. Medienkompetenz werde heute fast ausschließlich auf digitale Medien und ihre Bedienung bezogen. Lankau sprach von „technologischem Totalitarismus: Der digital entmündigte Mensch sitzt am Display und wartet darauf, dass die Maschine sagt, was als Nächstes zu tun ist.“
Das Thema Inklusion rückte am zweiten Kongresstag gleich zweimal in den Fokus. Dabei zeigte sich Dr. Stefan Nessler („Ich bin Idealist“) überzeugt, dass Inklusion möglich und umsetzbar ist. Er schilderte eine Fortbildung für Lehrer und Sonderpädagogen über naturwissenschaftlichen Unterricht in inklusiven Klassen an der Uni Köln. Sie habe viele positive Ansätze gezeigt. Sehr viele Zuhörer im Saal hielten Nesslers Schilderungen indes für weltfremd.
Auch in der von lehrer nrw-Vorstandsmitglied Frank Görgens moderierten Podiumsdiskussion, die den zweiten Kongresstag eröffnete, diskutierten Nessler, Felten, Dr. Matthias Burchardt (Uni Köln) und Yvonne Gebauer (schulpolitische Sprecherin der FDP-Landtagsfraktion) kontrovers über Inklusion. Der in NRW vorherrschende Inklusions-Gedanke enthalte „viele Naivitäten, die praktisch nicht umsetzbar und politische katastrophal“ seien, meinte Burchardt. Gebauer betonte, dass – auch unter dem Aspekt des Wahlrechts für Eltern – unbedingt ein wohnortnahes Förderschulsystem erhalten bleiben müsse.
„Bildung kann keine soziale Gerechtigkeit herstellen“, stellte Prof. Dr. Jochen Krautz (Uni Wuppertal) in seinem Referat fest. Eine Nivellierung der Anforderungen führe dazu, dass alle immer weniger können, ohne dass dadurch mehr Bildungsgerechtigkeit entstehe. Im Gegenteil: Gerade Kinder aus bildungsfernen Familien würden dadurch eher noch benachteiligt.
Sehr aufschlussreich und mit vielen Tipps für die schulische Praxis zeigte die Studiendirektorin und Autorin Ingvelde Scholz, „wie der Umgang mit Heterogenität in Schule und Unterricht gelingen kann“. Am Beispiel des Friedrich-Schiller-Gymnasiums (FSG) im baden-württembergischen Marbach, in dem sie tätig ist, gab Scholz viele Anregungen.
Eher enttäuschend verlief hingegen der mit Spannung erwartete Auftritt von Schulministerin Sylvia Löhrmann, die in dieser Funktion zum ersten Mal beim Mülheimer Kongress war.
Ob nun Flüchtlingskrise, Inklusion oder Umbau des Schulsystems: Es knirsche zwar an einigen Stellen, aber insgesamt sei NRW auf einem guten Weg. Konkrete Zusagen für mehr Unterstützung für die ob der Aufgabenflut chronisch überlasteten und wütenden Lehrkräften gab die Ministerin nicht. Auch Maulkörbe gegen kritische Lehrkräfte gibt es in Löhrmanns Welt nicht – auch wenn entsprechende Berichte eingeschüchterter Lehrkräfte immer wieder an den Verband herangetragen werden. Völlig unmissverständlich – sehr zum Unmut des Publikums – war Löhrmanns Position zur personellen Ausstattung im Inklusionsprozess: „Doppelbesetzung immer und überall geht nicht. Das kann kein Mensch finanzieren.“
Neben dem prall gefüllten Fachinformationsprogramm gab es beim Mülheimer Kongress wie immer Raum für Kurzweil: Anlässlich des Sessionsauftakts im Rheinischen Karneval hatte lehrer nrw für seinen Chef-Karnevalisten Ulrich Brambach ein Funkemariechen engagiert – die zwölfjährige Michelle begeisterte mit einer tollen Tanzeinlage den ganzen Saal. Das galt auch für die Big Band der Erich-Klausener-Realschule Herten, die mit wunderbaren Arrangements und tollen Gesangsdarbietungen das Publikum von den Sitzen riss. Im Abendprogramm trieb die Tom-Brown-Band die Kongressbesucher auf die Tanzfläche.