Lehrerdämmerung
lehrer nrw hat bei der Delegiertenversammlung am 16. November in der Mülheimer Wolfsburg und tags darauf beim traditionellen Mülheimer Kongress die Weichen für die Zukunft gestellt – und zwar sowohl in personeller wie auch in inhaltlicher Hinsicht.
So wählten die knapp 100 Delegierten am 16. November den neuen Vorstand, der die Geschicke des Verbandes in den nächsten vier Jahren lenken wird. An der Spitze steht Brigitte Balbach, die mit einem fulminanten Ergebnis wiedergewählt wurde. Sie erhielt von den 94 Delegierten 90 Stimmen – das sind 95,7 Prozent. Den neuen Vorstand bilden neben Brigitte Balbach die drei Stellvertreter Sven Christoffer, Frank Görgens und Ulrich Gräler sowie Jochen Smets (Schriftleiter), Ulrich Brambach (Schatzmeister), Ingo Lürbke (stv. Schatzmeister) und Tina Papenfuß (Vorsitzende junge lehrer nrw).
Der Verband als Orchester
Brigitte Balbach skizzierte in ihrer Eröffnungsrede das Bild von einem Orchester, das nur dann ein stimmiges Ergebnis erreichen kann, wenn es sich als Einheit und nicht als Ansammlung von Solisten versteht. Im Mittelpunkt der Verbandsarbeit stünden die Lehrkräfte: Ziel sei es, den Kolleginnen und Kollegen die Arbeit in den Schulen zu erleichtern, ihnen zu helfen, den Unterrichtstag gut für Bildung und Erziehung der Schüler nutzen zu können, ihre pädagogische Freiheit ausbauen und zu bewahren. Der Verband werde dabei als gewichtige Stimme in Öffentlichkeit und Politik wahrgenommen. „lehrer nrw ist zu einem Markenzeichen geworden“, konstatierte Balbach.
Rückblick und Ausblick
Der Blick richtete sich an den beiden Tagen in Mülheim nicht nur in die Zukunft, sondern auch in die Vergangenheit: Denn der Verband feiert in diesem Jahr sein 70-jähriges Bestehen. Zeitzeuge Jürgen Seidel, langjähriges Vorstandsmitglied und heutiges Ehrenmitglied, erinnerte an die Anfänge des Verbandes: Zehn Kollegen trafen sich im September 1946, um den Zusammenschluss der Lehrerinnen und Lehrer an den Mittelschulen im ganz frisch aus der Taufe gehobenen Bundesland Nordrhein-Westfalen voranzutreiben. Dies war die Geburtsstunde des Realschullehrerverbandes und heutigen lehrer nrw. Das christlich-humanistische Menschenbild, das die Gründer vereinte, prägt bis heute die Arbeit von lehrer nrw
Was die „neue Lernkultur“ anrichtet
Höhepunkt des Kongresses war der Vortrag von Prof. Dr. Christoph Türcke. Unter dem Titel „Lehrerdämmerung“ legte er dar, was die so genannte „neue Lernkultur“ in den Schulen anrichtet. Eindringlich beschrieb der Bildungsforscher, welche Folgen die Reduzierung des Wissens auf standardisierte Kompetenzen hat: Abrufbares Können soll am Ende eines Lernprozesses jederzeit verfügbar und reproduzierbar sein. Kompetenzen seien letztlich nichts anderes als abrufbare Verhaltensmuster. „Bildung auf Kompetenzen zu reduzieren heißt, Menschen programmieren zu wollen.“
Der Schüler werde in diesem Kontext zum selbstbestimmten Lerner und der Lehrer zum Lernbegleiter. Parallel dazu erodieren im Zuge der – politisch gewollten – Digitalisierung der Schulen die Kultur- und Elementartechniken, weil das Kopfrechnen der Taschenrechner ersetzt und die Rechtschreibung ein Rechtschreibprogramm. In geografischen Fragen helfe Google earth und geschichtliche Zusammenhänge erschließe wikipedia. Es geht nicht mehr um Wissen, sondern um das Wissen, wo man Wissen finden kann. Türcke zeichnete die düstere Vision einer womöglich gar nicht so fernen Zukunft, in der die Alphabetisierung am Computer erfolgt und Arbeitsblätter online gestellt werden. Das „Home Office“, das derzeit in der Wirtschaft sehr rege diskutiert und gefördert wird, wäre dann auch für Schüler möglich. Das spart teure Schulgebäude – und die Lehrer gleich mit. Um dieses Szenario zu verhindern, rief der Bildungswissenschaftler die Teilnehmer des Mülheimer Kongresses zum Widerstand gegen die neue Lernkultur auf.
Digitalisierung als Bedrohung
In der anschließenden Podiumsdiskussion unterstützten Prof. Dr. Ursula Frost und Dr. Matthias Burchardt, beide Bildungswissenschaftler an der Universität Köln, den Standpunkt Türckes. „Wir fallen hinter die Aufklärung zurück“, mahnte Frost. Eine Computer gebe Kästchen vor, die der Lerner ausfüllen solle. „Das hat nichts mit Bildung zu tun“, folgerte sie. Vor diesem Hintergrund betonte Burchardt: „Wir brauchen eine Stärkung der Lehrerrolle.“
Die Digitalisierung der Schule sieht Burchardt als ernste Bedrohung. Er habe nichts gegen eine gute Medienausstattung und auch nichts gegen die Nutzung digitaler Geräte, sagte Burchardt, aber: Die wirkliche Agenda der Digitalisierung sei die Herbeiführung der Lehrerdämmung und die systematische Erschließung des Schülers als Datenquelle. Es sei von entscheidender Bedeutung, Lerninhalte nicht Maschinen anzuvertrauen, sondern die menschliche Souveränität zurückzugewinnen.
Abenddämmerung oder Morgendämmerung?
Insofern liege es auch an den Beteiligten selbst, wohin die Entwicklung geht, meinte Türcke: „Die Lehrerdämmung kann eine Abenddämmerung, aber auch eine Morgendämmerung sein.“
Jochen Smets
Alle Fotos: Jochen Smets