56. Mülheimer Kongress
Mit Courage gegen Vorurteile

Antisemitismus, Rassismus und Diskriminierung in der Schule begegnen: So lautete das Thema des 56. Mülheimer Kongresses. Keine leichte Kost – doch der Kongress brachte dank hervorragender Referenten einen hohen Erkenntnisgewinn und viele Anregungen für die schulische Praxis.

Eingangs lädt Prof. Dr. Lorenz Narku Laing sein Publikum zu einer kleinen Zeitreise durch die Kulturgeschichte ein. Nennen Sie mir einen Komponisten, der vor 1960 gestorben ist, lautet der erste Auftrag an die Zuhörerschaft. Namen wie Beethoven, Mozart, Brahms schwirren durch die Luft. Und nun nennen Sie mir bitte einige Philosophen. Das Spiel geht weiter. Aristoteles, Rousseau, Descartes, Schopenhauer, Nietzsche ruft es aus dem Publikum. Und nun gerne einige Künstler. Michelangelo, da Vinci, Monet, Rembrandt, van Gogh werden in den Raum geworfen. Zum Schluss bittet der Professor noch um ein paar Autoren, Schriftsteller oder Dichter. Goethe, Schiller, Fontane werden ins Feld geführt. Laing steht vorn und nimmt dieses beachtliche Potpourri abendländischer Hochkultur mit einem Lächeln zur Kenntnis.

Charmant entlarvt

Ob etwas an dieser Liste auffällig sei, fragt der Professor sein geneigtes Publikum. Ratlose Gesichter im Saal. „Sie haben mir ausschließlich weiße Männer genannt.“ Keine Clara Schumann, keine Hildegard von Bingen, keine Frida Kahlo, keine Jane Austen. Die Zuhörerschaft ist sicht- und hörbar verblüfft. Soeben hat jemand auf äußerst charmante Weise ihr männlichkeitsdominiertes, eurozentristisches Weltbild entlarvt.
Der Vortrag von Prof. Laing ist das Highlight des Mülheimer Kongresses 2025. Das liegt nicht zuletzt an der Person des Sozialwissenschaftlers und Rassismusforschers, der an der Evangelischen Hochschule Bochum lehrt. Die Professur trat er 2022 mit nur 30 Jahren an. Außerdem ist er Gründer der Diversityberatung Vielfaltsprojekte GmbH. Dieser Prof. Dr. Lorenz Narku Laing hat eine faszinierende Biografie. Geboren in Mainz als Sohn eines jamaikanischen Vaters und einer ghanaischen Mutter, wächst er unter ärmlichen Bedingungen auf. Alltagsrassismus ist ein ständiger Begleiter in Kindheit und Jugend. Zuhause nennen seine Eltern ihn Narku, aber sie haben ihm in kluger Voraussicht auch einen deutschen Vornamen gegeben. Lorenz ist dein Bewerbungsname, schärft der Vater ihm ein. Den muss er zum ersten Mal benutzen, als er aufs Gymnasium wechselt. Wie er denn heiße, fragt ihn der Klassenlehrer. „Narku.“ – Ob er denn auch einen richtigen Namen habe, fragt der Pädagoge. Alltagsrassismus eben. Seitdem heißt Narku in der Schule Lorenz.

„Wegen solcher Menschen kann ich heute Professor sein“

Laing erzählt das ohne jede Verbitterung. Denn er hat auch andere Lehrerinnen und Lehrer kennengelernt. Frau Weber zum Beispiel. Die war fassungslos, als ihr zwölfjähriger Schüler Lorenz Narku weinend und in Handschellen von zwei Polizisten „zur Klärung eines Sachverhalts“ in der Schule abgeliefert wurde. In dem Gymnasium war an jenem Tag wegen einer Lehrerkonferenz unterrichtsfrei. Das wollten die Beamten dem schwarzen Jungen, den sie in der Stadt angetroffen hatten, nicht glauben – und schon gar nicht, dass er überhaupt Gymnasiast sei. Frau Weber spie den Polizisten entgegen, dass sie Rassisten seien und jagte sie brüllend vor Zorn vom Hof. „Sie ist komplett eskaliert“, erinnert sich Laing, „und ich war glücklich, weil mich da jemand mit Leidenschaft und Herz verteidigt hat.“ Eine Kollegin von Frau Weber zahlte aus eigener Tasche Schulbücher für den Jungen, weil sich seine Familie das zeitweise nicht leisten konnte. „Wegen solcher Menschen kann ich heute Professor sein und zu Ihnen sprechen“, sagt Laing.
Selten hat ein Referent sein Publikum bei einem Mülheimer Kongress derart berührt wie Prof. Dr. Lorenz Narku Laing. Mit profundem Wissen, das er nicht mit erhobenem Zeigefinger, sondern mit Witz und großer Warmherzigkeit präsentiert, sensibilisiert er sein Publikum anhand vieler Beispiele dafür, dass Diskriminierung gesellschaftliche Normalität ist. Antidiskriminierung hingegen sei „eine aktive professionelle Haltung und keine passive Normalität“. Wünschenswert wäre, sagt er, „dass wir in Deutschland Diskriminierung so ernst nehmen würden wie Datenschutz“. Laings mit sehr langem Applaus und begeisterten Reaktionen gefeierter Vortrag setzt den Ton für den 56. Mülheimer Kongress. Er nimmt dem Kongressthema ein wenig die Schwere. Ganz wichtig, betont er in seinem Schlusswort: „Antidiskriminierung muss Spaß machen. Feiern Sie Vielfalt!“

Eine Schule mit Courage

Wie das geht, zeigen am zweiten Tag zum Beispiel einige Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler der Willy-Brandt-Schule in Mülheim. Die Gesamtschule gehört zum mittlerweile bundesweit über 1400 Schulen umfassenden Netzwerk Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage. Dort sind mittlerweile 13 Lehrkräfte sowie 35 Schülerinnen und Schüler in der Courage-Arbeit engagiert, berichtet SV-Lehrer Pascal Heina. Den Stein ins Rollen gebracht, lobt er, habe die inzwischen ehemalige Schülerin Farida. Die frühere Schülersprecherin, die heute studiert, forcierte einen Neustart: „Wir hatten ein Schild an der Fassade, dass wir ‘Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage‘ sind, aber es gab wenig Aktivität.“ Das hat sich nachhaltig geändert: Seither haben zum Beispiel über 40 Workshops stattgefunden. Für das Schulleben sei das eine enorme Bereicherung, hebt Pascal Heina hervor.

Erschütternde Fälle von Antisemitismus

Katja Kuklinski von der Servicestelle für Antidiskriminierungsarbeit / Beratung bei Rassismus und Antisemitismus (SABRA) hat weniger Erfreuliches zu berichten. Sie spricht über Antisemitismusarbeit nach dem 7. Oktober 2023, dem Tag des Hamas-Überfalls auf Israel. Seitdem sei die Zahl und Intensität antisemitischer Vorfälle sprunghaft gestiegen, auch und besonders in Schulen. Sie schildert einige aufwühlende Fälle, etwa den des Schülers Max, der von drei Mitschülern erst gemobbt und wenig später angegriffen wird – weil er Jude ist. Eines Tages reißen sie ihm den Davidstern, den er bei einer Ferienfreizeit für jüdische Kinder geschenkt bekommen hat, vom Rucksack und fordern ihn auf, „Free Palestine“ zu sagen. Als er das verweigert, verprügeln sie ihn so brutal, dass er wegen seiner Gesichtsverletzungen im Krankenhaus operiert werden muss. Für die drei Täter gab es übrigens keine nennenswerten Konsequenzen. Stattdessen muss in fast allen Fällen, das betroffene Kind die Schule wechseln, sagt Katja Kuklinski. So war es am Ende auch bei Max.

Hochsensible Aufgabe

Antisemitismus ist schwer greifbar, erläutert die Medienkulturwissenschaftlerin Ina Holev am zweiten Kongresstag. In den seltensten Fällen basieren antisemitische Hetze oder Straftaten auf realen Erfahrungen mit dem Judentum und seiner Geschichte, sondern auf verzerrten Vorstellungen über „die Juden“, so die Expertin. Wie wichtig und hochsensibel vor diesem Hintergrund die Aufgabe von Bildungsmedien und insbesondere Schulbüchern ist, erklärte Dr. Rüdiger Fleiter, Historiker und Redakteur beim Ernst Klett Verlag. „Wir dürfen keine problematischen Stereotypen zulassen – mehr noch: Unsere Materialien müssen zu deren Abbau beitragen.“ Wie sorgsam Schulbücher gerade beim Thema Judentum und Antisemitismus recherchiert, quergeprüft und lektoriert werden, machte Fleiter anhand zahlreicher Beispiele deutlich.

60 Minuten Unterricht gegen 60 Sekunden TikTok

Nicht leichter wird die Arbeit der Schulen und Schulbuchverlage gegen Antisemitismus durch die „Konkurrenz“ zu Social Media. „Wie sollen wir mit 60 Minuten Unterricht gegen 60 Sekunden TikTok ankommen?“, fragte Dr. Marc Grimm von der Bergischen Universität Wuppertal ebenso plakativ wie provokativ. In der Tat finde Antisemitismus auf Social Media, weil bildbasiert und emotionalisierend, leicht den Weg in die Köpfe.
Gemeinsam mit Grimm umriss Florian Beer (SABRA) daher Grundzüge einer diskriminierungssensiblen Schulentwicklung. Dazu haben die beiden einen praxisorientierten Handlungsleitfaden entwickelt, der in 35 Fragen und Antworten zentrale Aspekte der Prävention, Intervention und Repression von Antisemitismus im schulischen Kontext behandelt. Der Leitfaden richtet sich an Pädagoginnen, Schulleitungen und weitere Akteure im Bildungsbereich und steht zum kostenlosen Download zur Verfügung (https://omp.ub.rub.de/index.php/Empathia3/catalog/book/330).

Jochen Smets

Info
Im nächsten Jahr wird es keinen Mülheimer Kongress geben. Der Grund sind umfassende Renovierungsarbeiten in der Katholischen Akademie „Die Wolfsburg“ in Mülheim. Der nächste MüKo findet dann wieder 2027 am gewohnten Ort statt.

Rund 100 Teilnehmerinnen und Teilnehmer sowie zahlreiche Ehrengäste erlebten beim 56. Mülheimer Kongress ein spannendes Programm.

Beeindruckende Persönlichkeit, herzerwärmender Vortrag: Prof. Dr. Lorenz Narku Laing begeisterte das Publikum.

Dr. Urban Mauer, Staatssekretär im NRW-Schulministerium, warb für eine offene Debattenkultur, um Hass und Hetze etwas entgegenzusetzen.

Katja Kuklinski schilderte einige aufwühlende Fälle von Antisemitismus in Schulen.

Dr. Rüdiger Fleiter vom Klett-Verlag führte aus, wie sich die Darstellung jüdischen Lebens in Schulbüchern verändert hat.

Florian Beer und Dr. Marc Grimm stellten einen Leitfaden für eine diskriminierungssensible Schulentwicklung vor.

Florian Beer und Dr. Marc Grimm stellten einen Leitfaden für eine diskriminierungssensible Schulentwicklung vor.

Schule mit Courage (v.l.): Lehrer Alexander Knöpke, Schülerin Tessa, Lehrer Pascal Heina, Ex-Schülersprecherin Farida, Christian Hüttemeister (Landeskoordinator), Andrea Stern (Regionalkoordinatorin Mülheim), Schülerin Amelie, Lehrerin Daniela Hawes.

Ina Holev erläuterte Merkmale von Antisemitismus und Rassismus.

Thorsten Schmalt moderierte den Mülheimer Kongress gewohnt souverän und streute hier und da eine humoristische Note ein.

Zum Ausklang bot die Big Band der Erich-Klausener-Realschule wieder einige mitreißende Arrangements.

Sängerin Shanai sorgte mit Temperament und fulminanter Stimme für ausgelassene Stimmung bei der Party am ersten Kongress-Abend.

Alle Fotos: Smets