Festrede von Heinz-Peter Meidinger, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, zum 50. Jubiläum des Mülheimer Kongresses.

Ich bin gerne hierher gekommen, um mit Ihnen das 50. Jubiläum dieser traditionsreichen Veranstaltung zu feiern, aus der im Verlauf der letzten Jahre und Jahrzehnte so viele wichtige inhaltliche und konzeptionelle Anstöße gekommen sind, eine Veranstaltung, die aber immer auch dafür bekannt war, dass Klartext geredet wurde und wird. Ich darf deshalb Ihrem Verband meinen großen Respekt für seine wichtige bildungs- und berufspolitische Arbeit bekunden in einem Bundesland, in dem Ihnen immer wieder der politische Gegenwind frontal ins Gesicht blies. Es gebührt lehrer nrw großer Respekt dafür, dass Sie sich als starke Stimme der schulpolitischen Vernunft niemals dem vermeintlichen Zeitgeist angepasst haben.

Fünfzig Jahre Mülheimer Kongresse – kein bisschen leise –, da gibt es auch eine Parallele zur Geschichte des Deutschen Lehrerverbands (DL), des Dachverbands, dem auch Ihr Bundesverband, der VDR, angehört. Der DL feiert nächstes Jahr sein fünfzigstes Gründungsjubiläum. Der gemeinsame Ursprung der Mülheimer Kongresse und des DL liegt also in den späten sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, die gekennzeichnet waren durch die Studentenbewegung, die Gesamteuphorie, die Infragestellung bisheriger Strukturen und Werte. Die Geburtsstunde des DL und der Mülheimer Kongresse bildet also die Überzeugung, dass wir uns stärker in die öffentliche Diskussion einmischen müssen, wenn wir das Handeln nicht anderen überlassen wollen.

Und dieses Einmischen, dieses Mitmischen ist Ihnen, ist auch uns gelungen. Die Bildungspolitik in Nordrhein-Wesfalen hätte einen anderen Verlauf genommen, wenn Sie sich nicht immer wieder nachhaltig zu Wort gemeldet und agiert statt reagiert hätten, und auch die Schulpolitik in Deutschland sähe heute anders aus, wenn es uns gleichzeitig nicht gelungen wäre, den DL zu einer starken Stimme der Lehrkräfte für eine qualitätsorientierte Bildung, zu einer starken Stimme der bildungspolitischen Vernunft in Deutschland zu machen.

Gerade heute ist diese starke Stimme der pragmatischen schulpolitischen Vernunft, ist unser Engagement für reale Bildung stärker denn je gefordert.

Lehrermangel, Arbeitsbelastung und Lehrerimage

Vor etwa zwei Monaten titelte die Bild-Zeitung mit großen Lettern »Krass, wieviel Lehrer verdienen!«. Der Artikel bezog sich auf die neue OECD-Studie ’Bildung auf einen Blick’, wonach deutsche Lehrkräfte nach der Schweiz und Luxemburg die bestbezahlten Lehrkräfte seien. Was die ’Bild’-Zeitung an diesem Tag verschwieg – erst am nächsten Tag brachte sie unsere Stellungnahme, aber natürlich kleiner und im hinteren Teil des Blatts: Deutsche Lehrkräfte haben im OECD-Vergleich mit die höchsten Unterrichtsdeputate und Gesamtarbeitszeiten, mit die größten Klassenstärken und verfügen über nur geringe Beförderungsmöglichkeiten. Der OECD-Vergleich bezog sich nämlich vornehmlich auf Einstiegsgehälter. Außerdem gibt es zwischen den Bundesländern und auch zwischen den Lehrergruppen, wie Sie hier genau wissen, große Bezahlungsunterschiede. Selbst zwischen verbeamteten Lehrkräften der gleichen Besoldungsgruppe und Erfahrungsstufe klaffen die Jahresgehälter um rund zehn Prozent auseinander, dazu kommt die Differenz zwischen Beamten und Angestellten. Ich habe deshalb großes Verständnis für die Forderung von lehrer nrw nach höherer Eingruppierung – wir brauchen aber überdies bessere Berufsperspektiven und Aufstiegschancen an allen Schularten und in allen Bundesländern.

Bezahlung allein ist aber nicht alles. Entscheidend sind zudem die Arbeits- und Rahmenbedingungen unserer Tätigkeit. Gerade erschien der GTSI (Global Teacher Status Index). Demnach würde nur einer von fünf Deutschen seine Kinder dazu ermutigen, Lehrer zu werden. Damit belegt Deutschland im Vergleich mit den größeren EU-Wirtschaften den letzten Platz. Das ist auch kein Wunder. Eine repräsentative Arbeitsbelastungs- und Arbeitszeitstudie in Niedersachsen – und ich bin überzeugt davon, dass die Ergebnisse in anderen Bundesländern nicht anders aussehen würden – kommt ganz aktuell zu dem Schluss, dass unter ausdrücklicher Einrechnung der über den normalen Urlaubsanspruch hinausgehenden Ferienzeiten – Lehrkräfte an den verschiedenen Schularten durchschnittlich bis zu fünf Stunden mehr arbeiten, als es die Regelarbeitszeit im öffentlichen Dienst verlangt. Dazu kommen neue Zahlen über stark steigende Gewaltvorfälle an Schulen, laut GTSI sind nur mehr 23 Prozent der Deutschen der Ansicht, dass Schüler in Deutschland ihren Lehrkräften genügend Respekt entgegenbringen. Da ist es beileibe kein Wunder, dass inzwischen zu wenige junge Menschen in Deutschland diesen an sich so schönen und erfüllenden Beruf ergreifen wollen.

Allerdings hat der massive aktuelle Lehrermangel auch andere, hausgemachte Gründe. Die Politik, in Nordrhein-Westfalen die rot-grüne Vorgängerregierung, hat viel zu spät auf den seit acht Jahren beobachtbaren Geburtenanstieg reagiert. Man hat zugelassen, dass an vielen Hochschulen jahrelang Lehramtsstudienplätze massiv abgebaut wurden, was dazu führte, dass trotz des schmerzhaften Mangels an Grundschullehrkräften noch im letzten Wintersemester bei der Zulassung zum GS-Studium ein drastischer Numerus Clausus bestand. Besonders empörend – und das gilt für andere Bundesländer teilweise noch stärker als in Nordrhein-Westfalen – ja ein Skandal ist die Tatsache, dass bei der notbedingten Einstellung von nicht pädagogisch qualifizierten Quer- und Seiteneinsteigern fast alle bisherigen Qualitätsstandards von den Einstellungsbehörden über Bord geworfen wurden. In Berlin beispielsweise genügt ein einwöchiger Crashkurs, um mit fast vollem Stundenmaß auf Schüler losgelassen zu werden, und in Hessen setzt man auf das Prinzip ’Trial and error’. Quereinsteiger werden sofort an Schulen eingesetzt, um dann nach drei Monaten zu entscheiden, wer wieder entlassen und wer nachqualifiziert wird.

Ich bin nicht grundsätzlich gegen Quereinsteiger, aber dagegen, dass sie weitgehend unvorbereitet in die pädagogische Praxis geworfen werden. Leidtragende sind nämlich unsere Schülerinnen und Schüler, die als Versuchskaninchen missbraucht werden. Mit einer solchen Politik des Löcherstopfens ohne Qualitätsmaßstäbe wird nicht nur den Kindern Schaden zugefügt, sondern letztendlich der Profession und der Professionalität des Lehrerberufs insgesamt.

Gesellschaftliche Überforderung der Schule mit immer neuen Aufgaben und Ansprüchen

Negative Rückwirkungen auf den Lehrberuf und das Lehrerimage ergeben sich aber noch aus einem anderen Problembereich. Es gibt nach meiner Kenntnis kaum ein anderes Land in der Welt, in dem Politik und Gesellschaft die Schule in einem solch großen Ausmaß mit immer neuen Aufgaben belasten und damit überfordern. Schule wird dabei nicht nur als permanenter Reparaturbetrieb der Gesellschaft gesehen, sondern gleichzeitig auch als Angel- und Ansatzpunkt für alle möglichen Konzepte zur Gesellschaftsverbesserung. Rund vierzig neue Fächer haben Politik und Interessensverbände in den letzten fünfzehn Jahren zur Neuaufnahme in die Stundentafeln gefordert. Darin spiegelt sich häufig weniger eine konzeptionelle Weiterentwicklung von Bildungsinhalten wie etwa beim Fach Wirtschaft, sondern es handelt sich oft eher um eine bloße Alibidiskussion, um vom Versagen der Politik in anderen Bereichen abzulenken. Noch stärker als in der Forderung nach immer neuen Fächern kommt aber diese Überforderung von Schule in den inhaltlichen Vorgaben zum Ausdruck, was Schule und Lehrkräfte heute leisten sollen. Sie sollen neben ihrem Kerngeschäft Wissens- und Kompetenzvermittlung, also dem Unterricht, unter anderem

  • die Integration von Kindern mit Migrationshintergrund zum Erfolg führen;
  • für Bildungsgerechtigkeit sorgen;
  • Kinder individuell fördern;
  • Gewaltprävention betreiben;
  • Jugendlichen und Kindern Werte vermitteln;
  • unsere Schüler für eine von Digitalisierung geprägte Lebens- und Berufswelt vorbereiten;
  • die Inklusion zum Erfolg führen;
  • politische Bildung und Demokratieerziehung intensivieren;
  • Ganztagsschule und Ganztagsangebote gestalten

Das sind alles – und man könnte diese Aufzählung noch lange fortsetzen – sehr wichtige Ziele. Das Problem ist nur: Alles gleichzeitig und ohne die dafür nötigen Rahmenbedingungen personeller und finanzieller Art umzusetzen, ist unmöglich.

Das kann keine Schule, das kann keine Lehrkraft leisten.

Die Folgen sind fatal: Angesichts dieser unerfüllbaren Ansprüche und Forderungen müssen die geweckten Erwartungen zwangsweise enttäuscht werden, was wiederum oft in erster Linie der Schule und nicht der Politik angelastet wird. Und so werden wir von Studien überschwemmt – Gütersloh ist nicht weit – die uns vorzurechnen versuchen, wo und wie oft Schule angeblich scheitert.

Nicht wir und Schule scheitern. Eine Bildungspolitik, die Dinge verspricht und Erwartungen weckt, ohne dafür die Rahmenbedingungen zu schaffen, – die ist grandios gescheitert. Wenn Schule heute in Deutschland vor Ort noch immer gut oder halbwegs gut funktioniert, dann nicht wegen einer klugen Bildungspolitik, sondern wegen des tagtäglichen enormen Engagements unserer Lehrkräfte. Die beste Bildungsreform bestünde meiner Ansicht nach darin, einmal ein paar Jahre keine neue Reform zu machen und es uns Lehrkräften zu ermöglichen, sich wieder mehr auf das Kerngeschäft Unterricht zu konzentrieren. Die neue Landesregierung in NRW hat das offensichtlich erkannt.

Akademisierungswahn – Folgen einer gigantischen Fehlsteuerung des deutschen Bildungswesens

Innerhalb von fünfzehn Jahren hat sich der Anteil der Hochschulzugangsberechtigten von dreißig auf fast fünfzig Prozent erhöht. Es ist dies nicht nur eine Folge der unseligen Orientierung der deutschen Bildungspolitik – und das gilt in Abstufungen für alle Bundesländer – an den Vorgaben der OECD. Vor fünfzehn Jahren galt der Mangel an MINT-Studierenden als größte Gefahr für die deutsche Wirtschaft. Heute wissen wir: Es ist der Mangel an Facharbeitern. Nach der ersten PISA-Studie mit deutscher Beteiligung vor achtzehn Jahren erweckte die OECD den Eindruck, ohne eine massive Steigerung der Abiturientenquote werde Deutschlands Wirtschaft den internationalen Anschluss verpassen. Heute haben in Europa vor allem die Volkswirtschaften Probleme, die mit besonders hohen Akademikerzahlen glänzen, wie etwa Spanien und Italien.

Eine umfassende Studie des IAB (Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung) zeigte 2017 auf, dass durchschnittliche Gehälter von Bachelor-Absolventen genauso hoch oder teilweise sogar niedriger sind als die von gleichaltrigen Personen, die nach der Lehre noch einen weiteren beruflichen Abschluss gemacht haben, also etwa die Techniker- oder Meisterprüfung. Umgekehrt fühlen sich heute über dreißig Prozent der Absolventen geistes- und sozialwissenschaftlicher Masterstudiengänge angesichts ihrer derzeit ausgeübten Tätigkeit überqualifiziert und unterbezahlt. Auch hier hat die Politik Hoffnungen geweckt, letztendlich aber vor allem Enttäuschungen produziert. Ich erinnere in diesem Zusammenhang daran, dass die Realschule in einer Reihe von Bundesländern auf zwei Altären geopfert wurde, erstens auf dem Altar der ’einen Schule für alle’ und zweitens auf dem Altar des Akademisierungswahns. Allerdings mehren sich Gott sei Dank die Anzeichen für eine Renaissance des mittleren Bildungsabschlusses, der Realschule und der beruflichen Bildung. Und das ist gut so.

Letztendlich wurde die Steigerung der Abiturientenquoten erkauft mit einer Niveauabsenkung bei den Abschlüssen, weil es für die Bildungspolitik einfacher war, die Ansprüche zu senken, als die Schulen in die Lage zu versetzen, höhere Leistungen zu erzielen.

Ausblick

Nach all diesen Ausflügen in die Irrungen und Wirrungen der deutschen Bildungspolitik kann ich Sie abschließend nur ermuntern, sich von Ihrem Weg der pragmatischen Vernunft in der Berufs- und Bildungspolitik nicht abbringen zu lassen. Konservativ, d.h. bewahrend zu sein, galt den Bildungsreformern in allen Parteien oft als Schimpfwort.

Das Gegenteil ist wahr: Der Konservative hält am Bewährten fest, bis eine Innovation, ein Konzept, eine Strukturreform, ein Modellversuch bewiesen hat, dass sie, dass er besser ist als die vorhandene Konzeption. Dies ist auch deshalb so bedeutsam, weil sich gerade im Bildungsbereich die negativen Auswirkungen von überstürzt umgesetzten Reformen erst nach Jahrzehnten zeigen und dann leider oft irreversibel sind.

Deshalb halte ich es mit dem Bonmot eines ehemaligen bayerischen Kultusministers, nämlich von Hans Zehetmair, der zu Recht festgestellt hat: »Man muss nur lange genug an seinen Überzeugungen festhalten, bis sie wieder modern werden!«

In diesem Sinne appelliere ich abschließend an den Verband lehrer nrw, an die Veranstalter des Mülheimer Kongresses: Orientieren Sei sich auch weiterhin an Qualität statt Quantität in der Bildung. Bleiben Sie auch weiterhin ein Stachel im Fleisch des Mainstreams bzw. ein Reißnagel im Hintern einer bildungsfeindlichen Politik!

Zur Person:

Heinz-Peter Meidinger war nach seinem Studium der Fächer Deutsch, Geschichte, Sozialkunde und Philosophie in Regensburg als Lehrer an verschiedenen Gymnasien tätig. Zudem war er Seminarleiter für das Fach Deutsch in der Lehrerbildung 1997 bis 2003 und Schulleiter des Robert-Koch-Gymnasiums Deggendorf seit 2003.

Von 2001 bis 2003 war Meidinger stellvertretender Vorsitzender des Deutschen Philologenverbandes und von 2003 bis 2017 Bundesvorsitzender des Deutschen Philologenverbandes. Im Juli 2017 trat er das Amt als Präsident des Dachverbandes Deutscher Lehrerverband an.

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