… so lautete das Thema des diesjährigen Mülheimer Kongresses.
Rund 170 Gäste erlebten ein ebenso informatives wie kurzweiliges Programm.
Warum das Schreiben lernen mit Stift und Papier wichtig ist
Ein Highlight gab es gleich zu Beginn: »Warum Handschrift?« fragte Prof. Dr. Markus Kiefer von der Universität Ulm provokant. Warum die Schüler mit dem Erlernen und Verfeinern einer Handschrift quälen, wenn digitale Helferlein doch den Alltag längst durchdrungen haben? Eine schwedische Grundschule habe das Schreiben mit der Hand sogar bereits abgeschafft. Dass das kontraproduktiv und mit Blick auf den Bildungserfolg sogar fatal sein kann, legte der Psychologe und Hirnforscher eindrucksvoll dar. »Alle unsere Sinnes- und Handlungserfahrungen hinterlassen Spuren im Gehirn und prägen unser Gedächtnis und Denken«, betonte Kiefer.
Bezogen auf die Handschrift heißt das: Das durch das Schreiben mit Hand und Stift ausgelöste motorische Programm (Schreibbewegung) reproduziert die Form des zu schreibenden Buchstabens. Demgegenüber bleibt beim Tippen auf einer Tastatur das motorische Programm (Tippbewegung) unabhängig von der Form des zu schreibenden Buchstabens. Beim Handschreiben wird also eine zusätzliche motorische Gedächtnisspur zur visuellen Gedächtnisspur gelegt, erläuterte der Wissenschaftler. Das wiederum fördere das Buchstabenerkennen, visuo-räumliche Fähigkeiten sowie das inhaltliche Verständnis. Kiefers Fazit: Das Schreiben mit Stift und Papier hat seine Berechtigung und ist kein Relikt aus längst vergangenen Jahrhunderten. Das sei keine generelle Absage an die Nutzung von Tablets oder anderen Medien im Unterricht, aber: Der Einsatz digitaler Geräte im Schulunterricht sei kein Selbstzweck, sondern erfordere ein pädagogisches Konzept.
Ein gebildeter Mensch ist einem Algorithmus überlegen
Prof. Dr. Hans-Ulrich Baumgarten knüpfte an Kiefers Vortrag an – wenn auch aus ganz anderer Perspektive, nämlich der des Philosophen. Er erörterte zunächst, was ein geistiges Wesen wie den Menschen überhaupt ausmacht und wählte dafür das Beispiel einer Melodie. Rein technisch sei diese Melodie lediglich eine Aneinanderreihung von Tönen – beim zweiten Ton ist der erste schon verklungen, beim dritten der zweite und so weiter. Eine Melodie entsteht im Kopf erst durch die geistige Leistung, die einzelnen Töne zu etwas Eigenem zu verbinden. Das erfordert Erkenntnis, und Erkenntnis erfordert Bildung.
Baumgarten vertrat keinen technikfeindlichen Standpunkt. Ein gebildeter Mensch aber sei einem Algorithmus überlegen, weil ein gebildeter Mensch bewusste Entscheidungen auf Basis selbst gewählter Werte treffen könne. Gefahr drohe durch die Digitalisierung nur, wenn der Mensch seine Selbstbestimmung abgibt und sich nicht an eigenen, sondern an algorithmisierten Werten ausrichtet – etwa an den Vorgaben einer Gesundheits-App oder an den Bewertungen einer Dating-App. Die Formung der Selbstbestimmtheit sei daher ein wesentlicher Faktor im Bildungsprozess. Hier komme den Lehrenden entscheidende Bedeutung zu: Denn Wissen sei mehr als die Vermittlung von Wissen und Kompetenzen. Freude am Lernen habe nur der Schüler, der die Freude am Fach durch einen anderen Menschen erhält – den Lehrer.
Datenschutz und Urheberrecht, unterhaltsam verpackt
Wie man dem Publikum ein ’dröges’ Thema wie Datenschutz und Urheberrecht höchst unterhaltsam näherbringen kann, demonstrierte der Jurist und Lehrer Dr. Günther Hoegg. So erfuhren die Kongressteilnehmer vom ’Bildungsprivileg’, das im Urheberrechtsgesetz verankert ist und das es erlaubt, aus Büchern, Zeitschriften oder musikalischen Werken – egal ob analog oder digital – kleine Teile (Richtwert maximal fünfzehn Prozent) im Unterricht zu verwenden.
Wem gehören eigentlich Klassenarbeiten? Auch darauf hatte Hoegg eine Antwort: Bei einer selbst entwickelten Klassenarbeit sei die Lehrkraft zwar Urheber, aber das Nutzungsrecht an sogenannten ’Pflichtwerken’ (Protokolle, Prüfungsaufgaben, Klassenarbeiten, Materialien für Vertretungsunterricht) liege beim Dienstherrn.
Beim Datenschutz ist die Sachlage im Prinzip unkompliziert: »Alles, was nicht ausdrücklich erlaubt ist, das ist verboten«, so der Experte. Die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) lässt grüßen. Er erläuterte unter anderem, was auf eine DSGVO-konforme Schulhomepage gehört und was nicht. Eine Liste typischer Datenschutz-
Irrtümer nach Hoegg:
- Das ist nicht mein Problem, sondern eines der Schulleitung.
- Meine Daten sind doch nicht interessant.
- Wenn ich ein Schadprogramm auf meinem Laptop habe, merke ich das doch und kann noch reagieren. Deshalb kann ich in der Schule mit meinem Gerät arbeiten.
- Bei Daten in der Cloud brauche ich kein Back-up.
- Wenn ich Daten lösche und den Papierkorb leere, ist alles weg.
- Daten per E-Mail zu schicken, ist sicher.
- Wenn andere von mir Daten anfordern, dann tragen die doch die Verantwortung.
- Die DSGVO gilt nur für digitale Daten.
Beim Stichwort ‘Bring your own device’ vertrat Hoegg eine klare Meinung: »Mobile persönliche Notebooks, Tablets, Smartphones, einfache USB-Sticks sind sehr problematisch!«
Hattie gibt keinen Anlass zu Digitalisierungs-Euphorie
Welche Konsequenzen die Digitalisierung des Unterrichts hat, erörterte der Pädagoge und Publizist Michael Felten, der dazu die berühmte Hattie-Studie abklopfte. Das Thema bewegt sich zwischen Verheißungen und Warnrufen. Felten formulierte drei zwingend einzuhaltende Voraussetzungen für die Digitalisierung an der Schule:
- Nur, wenn die Ausstattung stimmt!
- Nur, wenn Datenbewusstsein und -schutz existieren!
- Nur, wenn die Lehrerexpertise gesichert ist!
Wie es um diese drei Punkte an der eigenen Schule bestellt ist, darf jeder für sich selbst ermessen?…
Die Hattie-Studie gibt laut Felten übrigens keinen Anlass zu überbordender Digitalisierungs-Euphorie. Denn die Teilaspekte der Studie, die den Einsatz technischer Hilfsmittel oder digitaler Geräte untersuchen, zeigten nur schwache oder bestenfalls durchschnittliche Lerneffekte durch solche Unterrichtsmethoden.
IT-Nutzung im Unterricht könne zum Beispiel dann effektiv sein, wenn sie kein Ersatz, sondern Ergänzung der Lehrperson sei und wenn durch sie die Vielfalt der Lerngelegenheiten steige. Feltens Folgerung: »Das Digitale ist nur ein Teil des Schulischen«.
»Deutschland verdummt«
Den Höhepunkt und Schlusspunkt des Kongresses setzte Dr. Michael Winterhoff, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie Psychotherapie. »Deutschland verdummt«, lautete seine gewagte These, die auch Titel seines aktuellen Bestsellers ist. Winterhoff konstatierte eine ’desaströse Bildungspolitik’ und einen ’Digitalisierungs-Wahn’ mit noch nicht absehbaren Schäden für die betroffenen Schülerinnen und Schüler. Eine permanente Reizüberflutung durch digitale Medien führe dazu, dass sich die Psyche von Kindern und Erwachsenen nicht mehr regenerieren könne.
Vor diesem Hintergrund müsse die Schule einen überschaubaren und verlässlichen Rahmen für die kindliche Entwicklung bieten. Der Experte plädierte in diesem Zusammenhang für eine starke Rolle der Lehrkraft und machte das an einem Beispiel deutlich: »Wenn ist Tennis lernen will, brauche ich einen Tennistrainer als Lehrer, nicht als Lernbegleiter.«
Info:
Der nächste Mülheimer Kongress wird am 25. November 2020 wie gewohnt in der Tagungsstätte ’Die Wolfsburg’ in Mülheim an der Ruhr über die Bühne gehen. Am Tag zuvor findet die Delegiertenversammlung von lehrer nrw mit Neuwahlen statt.
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Starkes Team für die Personalratswahl 2020
Einen Ausblick auf den Wahlkampf zur Personalratswahl 2020 gaben die lehrer nrw-Vorsitzende Brigitte Balbach und ihr Stellvertreter sowie HPR-Vorsitzender Sven Christoffer.
lehrer nrw geht mit einer starken Mannschaft an den Start: 172 Kandidatinnen und Kandidaten schickt der Verband in die Wahl – so viel wie nie zuvor. »Darauf können wir stolz sein«, so Christoffer. Ziel ist es, im Realschul-Bereich stärkste Kraft zu bleiben und die Präsenz in den Gesamtschul-Personalräten auf- und auszubauen. Erstmals wird lehrer nrw? für alle sechs Gesamtschul-Personalräte Kandidaten aufstellen.
Einige der inhaltlichen Schwerpunkte skizzierte Brigitte Balbach. Bei der Lehrerbesoldung bleibt lehrer nrw bei der Forderung, dass alle grundständig ausgebildeten Lehrkräfte nach A13 besoldet werden müssen, unabhängig von der Schulform. Für Bestandslehrkräfte muss es einen Stufenplan zur schrittweisen Besoldungsanpassung geben. Und Seiteneinsteiger müssen Möglichkeiten zur Nachqualifizierung erhalten. Zur dringend notwendigen Attraktivitätssteigerung des Lehrerberufs sei es zwingend erforderlich, nicht nur die Besoldung, sondern auch die Rahmenbedingungen zu verbessern. Denn immer mehr Verwaltungstätigkeiten und andere Zusatzaufgaben lassen immer weniger Zeit für das Kerngeschäft – guten Unterricht. Zudem werden die Lehrkräfte mit Herausforderungen wie Inklusion und Integration allein gelassen, weil es an professioneller Unterstützung und zeitlichen Ressourcen fehlt.
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Spaß, Musik und ein Überraschungsgast
Nicht nur das Vortrags-Angebot, sondern auch das Rahmenprogramm waren beim Mülheimer Kongress wie gewohnt hochkarätig. Begeisterung löste einmal mehr die Big Band der Erich-Klausener-Realschule aus Herten aus, die fast schon zum Inventar des Mülheimer Kongress gehört. Es ist beeindruckend, jedes Jahr aufs Neue zu erleben, wie die Schule immer wieder tolle Musiker und Sänger hervorbringt. Das Spektrum reichte von Balladen bis Rock, von Blues Brothers bis Lady Gaga. Gesanglich sorgten die Neuntklässlerin Shari (’Time after Time’) sowie die Zehntklässlerinnen Lina und Antonia (’This is me’) sowie Alisha und Mika (’Shallow’) für Gänsehaut-Momente.
Beim abendlichen Get-Together war das ’Loreley Ginster Tanztee Terzett’ für Partystimmung zuständig. Passend zum Nonsens-Bandnamen sorgte das Terzett, das eigentlich ein Quartett war, für jede Menge Spaß und eine stets gut gefüllte Tanzfläche.
Und einen Überraschungsgast zauberte lehrer nrw auch noch aus dem Hut: Weil es wegen der langen Tagesordnung der Plenarsitzung im Düsseldorfer Landtag nicht früher möglich war, kam Schulministerin Yvonne Gebauer kurzerhand zur Abendveranstaltung nach Mülheim. Sie mischte sich unters Volk und diskutierte angeregt mit vielen Kongressgästen, die es genossen, mit der Ministerin so ungezwungen ins Gespräch zu kommen.
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