Wir schützen das Curriculum, nicht die Menschen
Der zweite Lockdown verlangt allen Beteiligten einiges ab. Vor allem Lehrkräfte, die eigene Kinder haben, stoßen nicht selten an Grenzen. Ein Gesamtschul-Kollege schildert seine Eindrücke.
Wir müssen bei der Betrachtung des Status Quo unterscheiden zwischen dem Distanz’unterricht’ des ersten Lockdowns im März/April, der letzten Woche vor Weihnachten und der Zeit jetzt im Januar.
Die erste Schulschließung war für das Distanzlernen unvorbereitet und chaotisch, wurde durch großen Einsatz und Improvisation aber aufgefangen. Noch problematischer war die letzte Woche vor den verlängerten Weihnachtsferien: Das Aufheben der Schulpflicht, Distanzlernen ab Klasse 8 und die gleichzeitige Öffnung bis Jahrgangsstufe 7 für jene, die ’Lust’ haben, hat Schulen vor logistische Hürden gestellt, die man im Ministerium wohl kaum erahnen kann.
Jetzt allerdings sind wir alle zu Hause. Was nicht immer ein Vorteil sein muss, wenn von Eltern gleichzeitig das berufliche Homeoffice, die Hausaufgaben der Kinder, das Führen eines Haushalts und technischer Support am Handy/PC/Laptop/iPad etc. geleistet werden soll. Denn wer glaubt, die Kinder schaffen das alles allein, glaubt auch daran, dass man ab Ostern wieder Urlaub machen kann.
Der Anforderungskatalog an die Lehrkräfte ist immens:
- regelmäßige Videokonferenzen mit den Klassen (im Rahmen der Unterrichtsstunden laut Plan);
- regelmäßige persönliche Anrufe bei allen Kindern zur Nachfrage, ob alles auch o.k. sei;
- tägliche Aktualisierungen auf den Plattformen Logineo/Moodle/Teams/BigBlue Button/Youtube/Whatsapp/Anton.App etc. mit Aufgaben für Schüler;
- selbstverständliche Kontrolle der Hausaufgaben und Rückmeldungen an die Schüler, Tipps, Aufmunterung und Support;
- Kontrolle der Anwesenheit von Schülern in digitalen Konferenzen, der Lernaufgaben, Referate etc. mit Rückmeldungen, sollten diese nicht eingehalten werden;
- selbstverständliche Teilnahme an kollegialen Videokonferenzen zur Zeugniskonferenz, Klassenkonferenzen etc. (was bei unserem Gesamtschulsystem tagfüllend ist).
Diese Liste könnte fortgesetzt werden. Die Arbeit hat sich also erwartbar verändert und – vor allem – vermehrt. Wer als Lehrer vorher das exponentielle Wachstum nicht verstanden hat, möge seine Dienstmails der letzten Wochen zählen.
Doch die genannten Punkte sind nur eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite stehen die Schüler (die sich im Arbeitsverhalten erwartbar nicht signifikant verändert haben – einige machen nichts und tauchen ab, viele arbeiten oberflächlich, einige sind motiviert) und vor allem die Eltern.
Mit meinen vier Kindern (an drei Schulformen) und meinem eigenen Job komme ich nach nur einer Woche an einen Punkt, der mich ahnen lässt, was Burnout bedeutet. Ich finde es unverantwortlich, dass unsere Landesregierung Schulen derart im Regen stehen lässt und dieses pandemische Schuljahr weiterhin so verkauft, dass es keinen ’Corona-Malus’ geben dürfe. Das verkauft sich politisch möglicherweise recht gut, geht aber natürlich an der Realität vorbei und setzt Familien massiv unter Druck.
Viele Eltern in meinem Bekanntenkreis (inklusive mir selbst) sind mit dieser Situation überfordert – und ich zähle mich zu jenen, die prinzipiell belastbar sind und Ressourcen haben. Neben beruflicher Ungewissheit, dem Verzicht auf Freunde, Freizeit und Sport sollen die Eltern jetzt quasi auch noch Lehrer spielen. Das bringt fast alle in eine Situation, dass plötzlich zusätzlicher Druck erzeugt wird, weil man die Kinder von einer Online-Konferenz zur nächsten Abgabefrist nötigt.
In unserem Haus gibt es nur noch zwei Themen zwischen den Kindern und uns: Corona und Moodle. Beides sorgt für gereizte Stimmung. Ich ärgere mich, dass ich gerade – von Berufs wegen – dies auch bei anderen Familien erzwingen muss.
Auch beim Homeschooling dürfen feste Arbeitszeiten für die Kinder nicht überschritten werden. Auch dort müssen – wie im Unterricht – Fehler erlaubt bleiben. Nachzudenken wäre über eine Reduzierung des Fächerkanons im Homeschooling auf die Kernfächer. Und die Aussage, dass alle digital eingereichten Aufgaben voll benotet werden müssen, gibt den Druck nur auf eine Schulter: die der Mütter und Väter! Im Moment schützen wir nur noch das Curriculum, nicht mehr die Menschen!
Oliver van Well
Originalausgabe (PDF-Datei)