Der Kinder- und Jugendpsychiater Dr. Stefan Battel gibt in seiner Kolumne regelmäßig Antworten auf Fragen aus dem Lehreralltag. Diesmal geht es um das störende Verhalten eines Schülers, das einen unerwarteten Hintergrund hatte.

Neulich im Ersttermin: Etwa achtzig Prozent der Neuanmeldungen für einen Ersttermin in unserer Praxis sind im schulischen Kontext zu verorten. Kurz vor Weihnachten erlebte ich einen Ersttermin, der inhaltlich sehr ähnlich war wie mehrere zuvor 2019. Thematisch ging es bei einem Fünftklässler um ein ’störendes’ Verhalten im Unterricht mit Lernverweigerung, clowneskem Verhalten und einer künstlerischen Verhaltenskreativität, die andere Mitschüler oft im Unterricht beeinträchtigten, sich auf das Lernen einzulassen. Die Beschwerden der einzelnen Fachlehrer häuften sich.

Die dem Kind sehr wohlwollende und zugewandte Klassenlehrerin fühlte sich zunehmend unter Druck, irgendeine Konsequenz, Drohung oder Sonstiges dem Schüler gegenüber auszusprechen. Zunehmend durch die Kollegen in ihrem Erleben in die Enge gedrängt, ’verhängte’ sie einen Schulverweis für drei Tage, nachdem der Schüler einem Fachlehrer mehrere Wörter an den Kopf geworfen hat, die nicht selten irgendwo im künstlerischen Graffiti an U-Bahn-Haltestellen zu finden sind. Das Fass war voll. Die Lehrerin fühlte sich zu einer Handlung verpflichtet. Schulverweis.

Ich frage mich in dem Zusammenhang häufig: Muss das sein? Schulverweis bedeutet Ausgrenzung, »bin nicht willkommen«, »kenn ich schon von zu Hause«, »wie sehen mich die anderen, wenn ich wiederkomme« etc.

Klar, dysfunktionale Verhaltenskreativität bedarf einer Anleitung. Meinem Empfinden nach werden viele Aspekte, die im Erleben eines Schülers im Kontext seiner Umweltvariablen als belastend wahrgenommen werden, im schulischen Kontext ’ausgelebt’. Bei diesem Schüler ist der Vater ein halbes Jahr vorher schwer an Krebs erkrankt, mit ungewissem Ausgang. Gefühle von Trauer, Frustration, Wut über die Erkrankung konnten im Jungen selbst nicht gut verortet werden, sondern wurden von ihm eher verdrängt bzw. geleugnet. Diese gefühlsmäßige Belastung zeigte sich dann im schulischen Kontext. Schön war es jedoch, im gemeinsamen Gespräch mit der Lehrerin und einem Vertreter der Fachlehrer gemeinsam mit der Mutter und dem Vater die emotionale Weltsicht des Jungen darzustellen, um dann die Bedeutung von Schulausschluss in dieser Lebenssituation zu bewerten und andere Lösungen zu finden.

Klar, ich weiß natürlich auch, dass sich nicht immer so ein dramatischer Hintergrund eröffnet. Meiner Einschätzung nach haben Schüler häufig einen ’guten Grund’, sich auf Lerninhalte nicht gut einlassen zu können oder in Gemeinschaften nicht das gewünschte Verhalten zeigen, wie es angemessen wäre etc. Hier würde ich mir mehr wünschen, den Fokus weg von Ausgrenzung hin zur Kooperation zu legen und gemeinsam mit der Familie (und den Kollegen!) zu überlegen, welche förderlichen schulischen Maßnahmen individualisiert bei den betreffenden Schülern sinnstiftend für deren weitere Entwicklung und der Beziehung zwischen Lehrer und Schüler sein könnten. Ja aber… (dazu in der nächsten Kolumne mehr).

Zur Person:

Dr. med. Stefan Battel ist seit 2007 niedergelassener Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie mit eigener Praxis in Hürth bei Köln und seit 2012 systemischer Familientherapeut (DGSF). Im Rahmen des lehrer nrw?-Fortbildungsprogramms greift er in einer Vortragsreihe regelmäßig verschiedene Themen aus dem Bereich der Jugendpsychologie auf.
 

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