Denke nie gedacht zu haben, denn das Denken der Gedanken ist gedankenloses Denken – wenn du denkst, du denkst, denkst du nur, du hast gedacht – denken tust du nie!

Den obigen Spruch habe ich zur Grundschulzeit von meiner Mutter gelernt. Meine Mutter war eine kluge Frau. Nicht nur im Alltag und im Umgang mit meinem Vater – sondern auch was die Vorgänge im Gehirn eines Menschen anbetrifft. Sie sprach kritische Dinge nie spontan aus, sondern wog sie stets einige Zeit ab, bis sie sie intern geprüft hatte. Aus meiner Sicht war sie ein Vorbild für unsere Zeit.

Erst denken, dann Meinung machen!

Heute stellt sich angesichts der Botschaften, die es in die Medien auf die ersten Plätze schaffen, die Frage, ob Menschen heute denken, bevor sie reden, schreiben, simsen, chatten, bloggen oder posten. Oft scheint es dem kritischen Leser solcher Meinungsmache, als würde der Mainstream aus einer Art Gedankenlosigkeit erwachsen, die mehr und mehr Raum greift in unserer Gesellschaft. Je spontaner eine Äußerung auf den Markt geworfen wird, umso heftiger fallen die Reaktionen der Leser aus.

Es kommt uns so vor, als würde Deutschland den ganzen Tag gebannt aufs Handy oder Tablet starren, um das wirkliche Leben nicht zu verpassen, während dieses sich abseits aller Medien still und leise abspielt – auf jeden Fall zunächst unbemerkt. Alle sind jeweils für sich allein mit den Reaktionen anderer Menschen im Netz beschäftigt und machen als Einzelne Meinung für viele, die das noch nicht mitbekommen haben. Die bekommen die Nachricht nicht mehr neutral entsprechend der Faktenlage, sondern gleich mit Kommentar geliefert, wobei Letzteres das Wichtigste ist, denn es sucht Gleichdenkende, Gleichgesinnte – Meinung wird produziert. Ohne Prüfung, ohne Korrektur, ohne kritische Denke. Einfach so – ungeschützt. Schnell, laut, mitreißend, gedankenlos – per Schnellschuss!

…und die Herde folgt

Die Follower sind jetzt entscheidend – und sie folgen. Das erregt Aufsehen, Aufmerksamkeit – auch der Medien. Und diese suchen die lauten Töne – und folgen ihnen ebenfalls, weil es Quote bringt. Weil es Mehrheiten anspricht und weitere schafft. Über Menschen werden Urteile gefällt, die weder Hand noch Fuß haben, aber die Öffentlichkeit emotional aufwühlen. »Wow – was ist denn da nur passiert? Das kann ja wohl nicht wahr sein! Wie kann einer nur so … sein!« Recherche kommt zu kurz, Hintergrundwissen ist nicht gefragt. Es bleibt dafür auch keine Zeit, denn morgen schon oder gar heute noch kommt eine neue Welle, ein neuer Hype, der die Öffentlichkeit aufwühlen will oder soll. Wir erleben täglich mehr Gefaktes als Reales – so kommt es uns oft vor.

Minderheiten bestimmen den Mainstream

Es sind Minderheiten, Minoritäten, die den Mainstream bestimmen und die Mehrheiten dazu bringen, ihm zu folgen und bei diesem ‘Dumm-Sinn’ mitzumachen, ihn unreflektiert weiter zu verbreiten, ihn auszuschmücken, ihm weitere Gerüchte oder spontane Meinungen hinzuzufügen, die einen Menschen ruinieren können oder auch sollen. Dafür gibt es in den letzten Jahren zahlreiche öffentliche Beispiele. Viele Betroffene müssen aber auch jahrelang im Stillen leiden!

Die Meinung kann dabei auch recht schnell umkippen: Das konnten wir bei der Flüchtlingsproblematik gut beobachten. In Deutschland kippte die anfängliche Euphorie einer offenen Willkommenskultur in die unkontrollierte Panik gegenüber Fremden und Andersdenkenden. Die Silvesterereignisse in Köln waren dabei sicherlich ein Meilenstein.

Social Media machen unsozial

Und an dieser Stelle kann man eine neue Entwicklung sehr gut feststellen, nämlich wie Meinungsmache im Netz zu undifferenziertem Denken führen kann. Nordafrikaner wurden in einigen Medien zu Syrern ‘gemacht’, um Erstgenannte nicht zu diffamieren und keine nachteiligen Handlungsweisen in der Bevölkerung zu provozieren. Äußert sich ein Mensch heute kritisch über Zuwanderer aus bestimmten Ländern, wird er in die rechte Ecke gestellt. Eine offen überlegte Meinungsäußerung ist unkommentiert kaum noch möglich – Social Media machen unsozial. Die Wahrheit kommt nicht mehr an jedes Licht und vor allem nicht sofort. Das Volk scheint auch in den Augen einflussreicher Politiker die Wahrheit nicht verdient zu haben. Entweder schützen sie das Volk vor der Wahrheit oder die Wahrheit vor dem Volk. Das können Sie sich als Leser jetzt aussuchen.

Was können wir tun?

Im Bildungsbereich herrscht ebenfalls ein Mainstream. Seine Begrifflichkeiten sind uns allen bekannt – wir leben mit ihnen und mit ihren Auswirkungen täglich. Meist leiden wir unter ihnen. Ihre Hauptbegriffe lauten: PISA-Hörigkeit, Ökonomisierung von Bildung, Absenkung der Qualitätsstandards, Abitur für alle, kein Sitzenbleiben und keine Noten, Lernbegleiter statt Lehrer, digitales Lernen, Einheitsschule, binnendifferenziertes Lernen als Regelfall usw. Setzen Sie die Liste ruhig in Gedanken fort – das ist kein gedankenloses Denken! Wir können mit diesen Begriffen differenziert umgehen – sie kritisch beleuchten und das auch kommunizieren. Und wir können handeln, indem wir täglich unsere Schüler zu kritischem Denken erziehen und ihnen durch uns selbst vormachen, wie man differenziert mit einer Problematik umgehen kann. Wir müssen als Lehrer wieder mehr Vorbilder sein als Vormacher oder Vordenker. Das braucht unsere Gesellschaft.Schulpolitisch gesehen heißt beim Thema Integration, die Sozialisation der Zuwandererkinder in den Blick zu nehmen und sie dort ‘abzuholen’, wo sie sich befinden. Dazu gehört mehr, als gedanklich mit Zahlen oder Obergrenzen oder Verteilungen zu spielen. Es gehört die Zuwendung zu den Menschen dazu, die aus Nöten heraus zu uns gekommen sind und sich hier eine Zukunft erhoffen.Es wird nicht leicht sein, das umzusetzen. Aber es kann helfen, der Diktatur der Minoritäten Einhalt zu gebieten. Wir müssen anfangen, ernsthaft selbst zu denken und dürfen es nicht anderen überlassen.Brigitte Balbach

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