Die neue IGLU-Studie 2016 unterstreicht, was Lehrer längst wissen.
von Prof. Dr. Hans Peter Klein

 

Die ’Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung/ Progress in International Reading Literacy Study (IGLU/PIRLS)’, die vor einigen Monaten in Berlin vorgestellt wurde, hat aufgrund ihrer wenig positiven Ergebnisse für Deutschland nicht nur für betretene Mienen in der Kultusministerkonferenz, sondern auch im Bundesministerium für Bildung und Forschung gesorgt. Die Kommentare nach der Vorstellung wirkten daher eher hilflos und der Hinweis der Vorsitzenden der Kultusministerkonferenz, man müsse jetzt im Rahmen des Föderalismus innerhalb der Bundesländer voneinander lernen, glich eher einem hohen Maß an Ratlosigkeit als einer möglichen Gegeninitiative mit dem Ziel der Qualitätsverbesserung der bereits mehrfach in die Schlagzeilen gekommenen Grundschulbildung. Denn auch der IQB-Bildungstrend von 2015 hatte für das Fach Deutsch und Mathematik dort einen nicht unerheblichen Leistungsabfall nachweisen können.

Die seit 2001 alle fünf Jahre durchgeführte Studie, an der 47 Staaten teilgenommen hatten – davon 28 Staaten im Bereich der OECD – erfasst nach ihren eigenen Angaben Lesekompetenz durch die Darbietung von Sach- und Erzähltexten, mit denen die Prozesse des Leseverstehens anhand von vier Kriterien bestimmt werden sollen: Angegebene Information abrufen (29 Prozent), einfache Schlussfolgerungen ziehen (30 Prozent), komplexe Schlussfolgerungen mit textunabhängig verfügbarem Vorwissen ziehen (27 Prozent) und Prüfen und Bewerten des Inhalts eines Textes und seiner sprachlichen Gestaltung (14 Prozent). In Deutschland wurden dabei rund 4000 Viertklässler, etwa 3000 Eltern, 200 Deutschlehrkäfte und 190 Schulleitungen befragt.

 

Deutschland auf dem Level von Kasachstan

Die wesentlichen Ergebnisse sind schnell zusammengefasst: Der in Deutschland erreichte Mittelwert von 537 Punkten entspricht in etwa dem von Kasachstan (536) und liegt knapp unter dem Durchschnitt aller teilnehmenden EU-Staaten (540 Punkte) sowie OECD-Staaten (541 Punkte). In zwanzig Staaten erzielen Schülerinnen und Schüler signifikant bessere Leistungen als vergleichbare Grundschulkinder in Deutschland. Im EU-Vergleich schneiden mehr als die Hälfte der Teilnehmer besser ab: Irland, Finnland, Nordirland, England, Lettland, Schweden, Ungarn, Bulgarien, Litauen, Italien, Dänemark und die Niederlande. Vor allem auch die Streuung zwischen den Lesern auf höchster und niedrigster Kompetenzstufe ist mit 78 Punkten in Deutschland besonders stark ausgeprägt. Während die Werte für Deutschland sich seit 2001 (539) nur geringfügig verschlechterten, konnten andere Staaten und Regionen in diesem Zeitraum deutliche Leistungssteigerungen verbuchen: die Russische Förderation (+53), Singapur (+48), Hongkong (+41), Slowenien (+41), Norwegen (+18) und die Slowakei (+17), während Frankreich (-14) und die Niederlande (-9) sowie die Flämische Gemeinschaft in Belgien (-22) deutlich Federn lassen mussten.

Interessant ist auch, dass Kinder in Deutschland signifikant höhere textimmanente (546 Punkte) als wissensbasierte (530) Verstehensleistungen zeigen. Die Betonung von textlastigen Lesekompetenzaufgaben – weitgehend ohne fachlich einzubringendes Basiswissen – scheint nicht nur in der Grundschule nunmehr die entsprechenden Ergebnisse zu liefern. Interessant ist, dass nicht nur die IGLU-Studie diese Entwicklung in Deutschland mittlerweile endlich einmal kritisch betrachtet. In der Studie wird ausdrücklich betont, dass demgegenüber Schülerinnen und Schüler in neunzehn Teilnehmerstaaten bei den wissensbasierten Verstehensleistungen signifikant bessere Ergebnisse erreichen als bei den textimmanenten, darunter alle die, die auch in der Gesamtskala bessere Leistungen erreichen. Mit der Schwerpunktsetzung auf fachunabhängige Schlüsselkompetenzen scheint man wohl den falschen Weg eingeschlagen zu haben. Nicht nur die Chinesen werden jetzt schon erzittern, wenn Deutschland in Zukunft zum Exportweltmeister in Teamarbeit ausgezeichnet wird, die innovativen Produkte aber dort erstellt und weltweit verkauft werden. Eine entsprechende Studie aus dem PISA-Konsortium war kürzlich vorgestellt worden.

 

Eliteförderung bleibt aus

Erschwerend für Deutschland kommt hinzu, dass 2016 knapp zwanzig Prozent der Schüler nicht die Kompetenzstufe III erreicht haben und entweder über nur rudimentäres Leseverständnis verfügen (Stufe I) oder nur explizit angegebene Informationen identifizieren können. Die Studie betont, dass diese Kohorte mit erheblichen Schwierigkeiten beim Lernen in allen Fächern bereits in der Sekundarstufe I konfrontiert sein wird. In dreizehn Staaten, darunter Tschechien, England, Dänemark, Litauen und Italien, ist dieser Anteil signifikant niedriger als in Deutschland. Nur in Frankreich und Belgien fällt der Anteil höher aus. Auch die dringend notwendige Eliteförderung bleibt in Deutschland aus. Mit rund elf Prozent erreicht nur etwa jeder zehnte Schüler die Kompetenzstufe V, ist also in der Lage, aus schwierigeren Texten die wesentlichen Informationen zu entnehmen und entsprechend zu bewerten. Allein schon das Wort Elite traut sich in Deutschland kaum noch jemand in den Mund zu nehmen, da es sofort als ein wesentlicher Grund für die Zunahme sozialer Disparitäten in Verruf gekommen ist. In fast allen anderen Ländern dieser Welt genießt allein schon der Begriff und erst recht das Erreichen dieses Zustandes höchste Anerkennung, gar Bewunderung.

Auch die von der Studie erhobenen Daten zu den Leistungsdisparitäten nach sozialer Herkunft sind offensichtlich: Kinder aus Familien mit mehr als 100 Büchern zu Hause erreichen im Lesen signifikant bessere Leistungen. Der Leistungsvorsprung liegt bei 54 Punkten und entspricht laut der Studie etwa einem Lernjahr und korreliert mit der Herkunft. Dies sei eine Schande für Deutschland, ist vielfach zu hören. Dabei ist die Entwicklung nur konsequent: Bildungsinteressierte Eltern aus den Bildungsschichten kümmern sich meist intensiv nicht nur um die Lesekompetenz ihrer Zöglinge, während Kinder aus bildungsfernen Schichten diese Unterstützung oft nicht erhalten. Kollege Bos, verantwortlich für die Erstellung der Studie, hofft nun darauf, dass obligatorische Ganztagsschulen für alle – auf welche Art auch immer – das Problem der auch hier auseinandergehenden Schere möglicherweise in den Griff bekommen könnten. Ein in der Tat frommer Wunsch.

 

Der Faktor Migration

Betrachtet man die aufgrund der Daten erstellte ’Bundesligatabelle’ bezüglich der vor uns platzierten Staaten, fällt sofort auf, dass diese im Gegensatz zu Deutschland fast ausnahmslos nur gering oder gar nicht mit einem Migrationsproblem konfrontiert sind. Dabei muss berücksichtigt werden, dass zum Zeitpunkt der Erhebung der IGLU-Studie 2016 die meisten Kinder aus dem massiven Flüchtlingszustrom von 2015/2016 noch nicht am Regelunterricht teilgenommen hatten, also von der Studie noch gar nicht erfasst wurden.

Braucht man überhaupt derartige Studien, die etwas feststellen, was Lehrer vor Ort sowieso schon wissen und die zusätzlich nicht einmal eine Lösung anbieten können? Man hätte auch den Aufschrei der Grundschullehrer nicht nur in Hessen nach geradezu katastrophalen Unterrichtsbedingungen vor allem in Gegenden mit hohem Migrantenanteil wahrnehmen können, der nicht nur in Frankfurt am Main in einigen Gegenden bei weit über siebzig Prozent liegt. Eine planlose und finanziell kaum ausgestatte Inklusion und Integration sowie zunehmend auch die Einbindung von Flüchtlingskindern in den normalen Unterricht ohne Berücksichtigung deren sprachlicher Kenntnisse oder anderer Lernvoraussetzungen ließen einen fachorientierten Unterricht kaum noch möglich erscheinen. Die Grundschullehrer seien hier massiv überfordert. Die Heterogenität in den Klassen habe derartige Ausmaße erreicht, der durch Propagandamaßnahmen, wie der Individualisierung von Unterricht, in keiner Weise beizukommen sei. In der F.A.Z. hatte die Leiterin der Grundschule in Frankfurt Griesheim mit Migrantenanteilen von rund neunzig Prozent von schlimmsten sozialen Verhältnissen geredet. Besonders in muslimischen Elternhäusern würden die Kinder geradezu abgeschottet, teilweise radikalisiert und nicht zum Lernen angehalten. Zusätzlich breite sich eine immer größer werdende Respektlosigkeit auch den Lehrern gegenüber aus.

 

Hilferuf von Lehrkräften

Dies steht im Einklang mit dem gerade veröffentlichten Brandbrief von Lehrern aus Saarbrücken an ihre Landesregierung, der in der Saarbrücker Zeitung vom 13. Dezember 2017 unter dem Titel ’Dramatischer Hilferuf von Saarbrücker Lehrern’ abgedruckt wurde. Lehrer der Saarbrücker Gemeinschaftsschule Bruchwiese mit 86-prozentigem Anteil an Schülern nicht-deutscher Herkunft berichteten dort von schwersten Beleidigungen, Gewalt, Drogen und Alkoholexzessen im Schulalltag. Messerattacken, der Einsatz von Pfefferspray, Beschimpfungen und Bedrohungen der Lehrer auch durch Eltern gewisser Schüler seien an der Tagesordnung. Viele Lehrer hätten Angst, bestimmte Schüler noch zu unterrichten. Viele Schüler würden auch nur sporadisch am Unterricht teilnehmen. Von einem regulären Unterricht könne nicht mehr die Rede sein. Die Situation habe sich in den letzten Jahren dramatisch verschärft. Polizeieinsätze seien zur Regel geworden.

Einem politischen Offenbarungseid gleicht die daraufhin vom zuständigen Kultusminister Ulrich Commerçon in Frage gestellte Prozentzahl von 86 Prozent, der im Saarländischen Rundfunk bekanntgab, dass es lediglich 76 Kinder an der Schule seien, womöglich 86. Die Schulleiterin Pia Götten hatte darauf hin noch einmal die gesamten Unterlagen gecheckt und bekannt gegeben, dass von den aktuell 340 Schülern der Migrantenanteil bei rund 75 Prozent liege und im vergangenen Jahr 86 Prozent betragen habe. Hier scheint der kompetenzorientierte Mathematikunterricht bereits auf Ministerebene angekommen zu sein. Vielleicht hat er sich aber auch nur auf seinem Taschenrechner vertippt. Mittlerweile hat der Minister öffentlich zurückgerudert.

Erschwerend hinzu kommen die mehr als fragwürdigen Sprüche einiger ’Reformer’, die zunehmende Heterogenität der Schülerschaft sei eine Chance für alle, da alle voneinander lernen könnten, fragt sich nur was? Auch die vom gleichen Klientel häufig zu hörende Äußerung, je größer die Heterogenität, desto höher der Lernerfolg, wirkt auf viele Praktiker vor Ort als blanker Hohn und widerspricht zudem dem gesunden Menschenverstand, der anscheinend immer mehr Akteuren im Bildungswesen vollständig abhanden gekommen ist.

 

Grundschule als Reformhaus

Zusätzlich erschwert wird ein angestrebter Lernerfolg dadurch, dass gerade die Grundschule – ebenso wie die Gemeinschaftsschule – zum Reformhaus selbst unsinnigster Unterrichtsmethoden und einer Spielwiese für ein bestimmtes Klientel an Reformpädagogen verkommen ist. Auch das haben die Kultusminister zu verantworten, die entsprechende unausgegorene Konzepte, wie beispielsweise das Schreiben nach Gehör, die Lockerung oder gar die Abkehr von der deutschen Rechtschreibung widerstandslos in ihre Schulen haben einführen lassen, obwohl ihnen jede empirische Grundlage fehlt.

Die langsame, aber stetig an Fahrt aufnehmende Abwärtsspirale ist dabei längst nicht auf die Grundschulen begrenzt. Die zunehmende unzureichende Bildung vieler Kinder fängt bereits im Kindergarten an und wird über die Grundschulen bis auf die weiterführenden Schulen weitergereicht, die anscheinend auf politischen Druck zunehmend ein Abitur vergeben, dass für einen immer größer werdenden Anteil ganz offensichtlich keinerlei Studierfähigkeit mehr impliziert. Auch die Hochschulen sind längst zum Zertifizierungsdiscounter geworden. Da es in der Regel rund zehn Jahre dauert, bis sich entsprechende ’Reformen’ auswirken, verheißt diese äußerst bedenkliche Entwicklung nichts Gutes und dürfte den Wissenschafts- und Wirtschaftsstandort Deutschland als Bumerang nachhaltig schwer beschädigen.

 

Zur Person:

Prof. Dr. Hans Peter Klein lehrt Didaktik der Biowissenschaften an der Goethe Universität Frankfurt.

Zur Originalausgabe (PDF-Format)


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