Die zweite Auflage der Tagung ‘Time for Change’ am 4. Mai 2019 in Wuppertal thematisierte kontraproduktive Bildungsreformen. Hochkarätige Referenten hinterfragten kritisch den politisch forcierten Reform-Aktionismus, der Schulen und Lehrkräfte enorm unter Druck setzt, aber nichts besser macht.

Lehrer stöhnen heute oft über Überlastung: Unterricht und Erziehung würden immer anspruchsvoller und schwieriger. Und viele Lehrpersonen fühlen sich durch Reformmaßnahmen nicht unterstützt, sondern noch mehr wie ’im Hamsterrad’. Eine so betitelte Tagung an der Bergischen Universität Wuppertal fragte genauer nach. Auf Einladung von Prof. Dr. Jochen Krautz kamen nach einer ersten Tagung im letzten Jahr erneut fast 400 Teilnehmer aus Schule, Wissenschaft, Schulverwaltungen und weitere Interessierte wie Eltern und Ärzte an der Bergischen Universität Wuppertal zusammen. Die Teilnehmer aus ganz Deutschland, der Schweiz und Österreich diskutierten: Was geht vor in den Schulen? Helfen bildungspolitische Maßnahmen, Unterricht und Erziehung zu verbessern? Warum empfinden viele Lehrerinnen diese Dauerreformen als kontraproduktiv? Und warum sehen sie sich in ihrer pädagogischen Freiheit und Verantwortung gegängelt statt unterstützt? So wurden insgesamt bedenkliche Entwicklungen in Bildungspolitik, Schulpraxis und Wissenschaft erörtert, die mit subtilen Steuerungsmaßnahmen Lehrpersonen und auch Wissenschaft auf einen gewünschten Kurs zu bringen versuchen.

Überlastung als Change-Management

Zur Eröffnung fragte Jochen Krautz, Professor für Kunst-pädagogik an der BUW und Vorsitzender der Gesellschaft für Bildung und Wissen, kritisch, ob die empfundene Überlastung von Lehrerinnen und Lehrern tatsächlich allein an den größeren Herausforderungen in Bildung und Erziehung liege, oder ob sie nicht auch gezielt gefördert werde, um Lehrpersonen in ihren Überzeugungen aufzubrechen und bereit für bestimmte Reformmaßnahmen zu machen. Hierzu verwies er auf eine Technik des sogenannten ’Change-Managements’: Man ’taue’ Menschen auf, indem man sie unter inszenierte Überlastung und Stress setze. So verunsichere man sie in ihren Haltungen und Überzeugungen und mache sie bereit, den Imperativen scheinbar alternativloser Reformen zu folgen.

Das Hamsterrad als ’Partizipationsattrappe’

Insofern, so Krautz, hätte das schulische ’Hamsterrad’ verschiedene Ausprägungen: Es führe zum Burnout und sorge dafür, die strukturellen Defizite als eigene zu erleben. Dies führe zur Entpolitisierung von Lehrerinnen und Lehrern, weil sie die ’Schuld’ für ein erlebtes Versagen bei sich suchten. So sei das Hamsterrad zugleich ’Partizipationsattrappe’, das durch Steuergruppen, Schulentwicklungsgremien oder andere Instrumente Mitbestimmung suggeriere, ohne dass diese im demokratischen Sinne aber gewünscht sei. Dafür sei vor allem anfällig, wer sich selbst als ’innovativ’ verstehe. Doch sei auch zu erwähnen, dass Lehrerinnen und Lehrer auch schlicht mit Aussichten auf ’Karriere’ für das Mitmachen geködert würden.

Die weiteren Referate beleuchteten vor diesem Hintergrund grundsätzliche Fragen und beispielhafte Phänomene, gaben aber immer auch konstruktive Ausblicke auf Bildungsarbeit und Schulführung, die nicht auf Drangsalierung und manipulatives ’Change-Management’ setzt, sondern Lehrerinnen und Lehrer in ihrem pädagogischen Ethos und ihrer pädagogischen Freiheit ernst nehmen und unterstützen.

Besinnungsloses Rotieren

So zeigte Prof. Dr. Silja Graupe (Cusanus Hochschule) auf, dass und wie Überlastung die Zeitwahrnehmung beschleunigt: Aus dem zyklischen Zeiterleben der Vormoderne sei in dieser die getaktete Zeit geworden. Diese würde sich aber heute zur beschleunigten Zeit entgrenzen, was besinnungsloses Rotieren nach sich ziehe. Doch sei es auch in einer getakteten Zeit wie der des schulischen Stundenplans sehr wohl möglich, im Unterricht Momente der erfüllten, entschleunigten Zeit zu ermöglichen, worin Bildung überhaupt erst möglich wird. Dabei sei der Widerstand gegen das Machtinstrument der Beschleunigung nicht als individuelle ’Achtsamkeit’ möglich, sondern nur als gemeinsames und solidarisches Handeln.

Dr. Claudia Schadt-Krämer trug danach aus ihrer langen Berufserfahrung als Deutsch- und Philosophielehrerin vor, dass und wie auch heute ganz konkret mit Schülerinnen und Schülern solche Momente bildenden Unterrichts möglich sind. Wenn man ihnen dies zutraue, nähmen junge Menschen auch heute Angebote der Sinnbildung etwa durch Literatur an und können sehr wohl auch selbst formulieren, was sie unter Bildung im Gegensatz zu Kompetenz verstehen, nämlich, so ein Schüler prägnant, »dass man nicht verarscht wird«.

Kreative Zerstörung zugunsten permanenter ’Innovation’

Das Steuerungsarsenal der sogenannten ’Schulentwicklung’ entfaltete Dr. Matthias Burchardt, Universität zu Köln: Gewachsene Strukturen von Kollegialität und Vertrauen würden heute zunehmend durch Mittel managerialer Steuerung ersetzt. Schleichend würden dazu alte durch neue Begriffe und Konzepte ersetzt: Aus Kollegien würden Teams, die dann im ’Teambuilding’ mit gruppendynamischen Techniken nacherzogen würden. Statt in kollegialer Führung würden daher Schulleitungen in Personalentwicklung ausgebildet, wozu Fortbildungen dezidiert und ungefragt die Veränderung der Persönlichkeit von Lehrerinnen und Lehrern anstrebten. Und auch die Institution Schule insgesamt sei als sogenannte ’lernende Organisation’ dem Dauerbeschuss durch Reformen aller Art ausgesetzt und verliere so ihre eigentlich stabilisierende und alle Beteiligten schützende Funktion. Insofern wertete Burchardt Schulentwicklung in Anschluss an Josef Schumpeters Charakterisierung des Kapitalismus als ’kreative Zerstörung’ zugunsten permanenter ’Innovation’. Ob dieses ’Neue’ aber tatsächlich besser ist, sei hier wie dort mehr als fragwürdig.

Humane Energie erwächst aus Freiheit

Im Anschluss plädierte daher Prof. Dr. Carl Bossard aus der Schweiz für pädagogische Freiheit und Verantwortung als Elixier lebendiger Pädagogik: Um Verantwortung wahrzunehmen, brauche es Freiheit. Darum dürfe Freiheit in den Schulen nicht ersticken. Mit zwei ’W’ (Wilhelm Tell und Wilhelm von Humboldt) für ’F’ wie Freiheit zeigte Bossard, dass Freiheit nicht nur Freiheit von etwas bedeutet, sondern eben Freiheit zu: Hier zu pädagogischer Verantwortung. Er plädiere also nicht für Schlendrian, sondern dafür, besser Freiheitskonflikte zu wagen, als in der Konformität friedlich zu verkümmern. Mit dem auch in der Schweiz grassierenden diagnostischen Kompetenzfetischismus etwa könne man Schülerinnen und Schülern nicht gerecht werden, denn humane Energie erwachse aus Freiheit, nicht aus lehrmethodischen Direktiven und operativ engen Vorgaben.

Schulinspektion als ’Erziehung der Uneinsichtigen’

Dass daher auch die Kontrolle durch umstrittene ’Schulinspektionen’, in Nordrhein-Westfalen als ’Qualitätsanalyse’ (QA) bekannt, wenig hilft, sondern eher weitere kontraproduktive Bürokratie produziert, wies Prof. Dr. Karl-Heinz Dammer von der PH Heidelberg nach. Er zeigte, dass die Versprechungen der empirischen Bildungsforschung, Schule durch Messen und entsprechende Steuerung besser zu machen, erkenntnistheoretisch haltlos und uneinlösbar sind: Durch Messen weiß noch niemand, wie denn besserer Unterricht auszusehen hat und umzusetzen sei. Das sollten daher die Schulinspektionen lösen, die gewissermaßen diejenigen Daten liefern, mit denen sich Schulen selbst verbessern, also sozusagen am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen sollen. ’Schulgovernance’ bedeute demnach, dass sich Schulen gemäß den Vorgaben selbst kontrollieren und steuern sollen, aber eben nicht in Freiheit und Verantwortung selbst gestalten. Schulinspektion ziele daher auf die ’Erziehung der Uneinsichtigen’, indem diese lernen, »aus freien Stücken das Richtige zu sagen«. Im Ergebnis solle so deren Praxis umprogrammiert werden. Dies scheitere unter anderem aber an der schon immer unüberbrückbaren Kluft zwischen der Logik der Verwaltung und der der Pädagogik. Die faktische Nutzlosigkeit dieser Verfahren führe in einigen Bundesländern bereits zum Umdenken.

Erziehung und Unterricht im Mittelpunkt

Michael Rudolph, Schulleiter der Berliner Bergius-Schule, machte aus seiner Erfahrung an der ’Brennpunktschule’ klar, dass und wie Erziehung und Unterricht im Mittelpunkt von Schulführung zu stehen haben und wie Schulleiter die Kollegien dabei unterstützen können. Rudolph, der für seine erfolgreiche Arbeit von der Berliner Schulinspektion negativ bewertet wurde, weil es an seiner Schule zu wenig Teamarbeit, keine erweiterte Schulleitung, zu viel Frontalunterricht und keine Schulentwicklung gebe, machte als Ausgangspunkt klar, dass nur eine Schule, die Erziehung und Unterricht in den Mittelpunkt stellt, sozial schwachen Schülerinnen und Schülern eine Möglichkeit bieten würde, sich aus ihren Verhältnissen zu emanzipieren. Dazu sei zuallererst eine klare Stellungnahme gegen jede Gewalt nötig, sonst könne niemand lernen. Schülerinnen und Schüler seien sowohl im Unterricht wie im sozialen Verhalten zu fordern, doch dazu müsse man sie jederzeit ernst nehmen. Eine so positive Entwicklung wie die seiner Schule, die kurz vor der Schließung stand, sei aber nur durch eigenständigen Entschluss der ganzen Schulgemeinschaft möglich, niemals durch von außen gesetzte Vorgaben, Reformen oder Druck.

Irrwege in der Lehrerbildung

Abschließend analysierte Prof. Dr. Volker Ladenthin, Universität Bonn, dass und wie mittlerweile vorgefasste Normierungen von internationalen Organisationen die Wissenschafts- und Lehrfreiheit im Lehramtsstudium unterlaufen und künftige Lehrerinnen und Lehrer immer weniger lernen, wissenschaftlich zu denken und eigenständig zu urteilen. So führe derzeit etwa das ’Praxissemester’ dazu, dass Universitäten nun lehren sollten, was von staatlicher Seite gewünscht wird. Das aber widerspreche der Freiheit von Forschung und Lehre fundamental. So sollten nun Universitäten bestimmte Leitbilder wie etwa die Inklusion nicht mehr systematisch nach Begründung befragen und auch kritisch untersuchen, sondern Lehrerbildung solle ’neue Sichtweisen’ als ’positiv’ vermitteln, also in eine vorgegebene Weltsicht einüben. Das unterlaufe aber den Auftrag wissenschaftlicher Lehrerbildung in der Moderne. Die viel beschworene ’Verzahnung von Theorie und Praxis’ erweise sich daher nur als möglich, wenn die Zähne der Zahnräder in eine bestimmte, normierte Form geschliffen würden. Damit aber sei es mit der Autonomie beider Bereiche vorbei.

Daran anschließend und die Tagung abschließend warf ein künstlerischer Beitrag des Berliner ’Art Coaches’ Arno M. Feld einen satirischen Blick auf die Absurditäten der auch im Referendariat eingesetzten Rhetorik des ’Change-Managements’. Und so wechselten sich bei den Zuschauern seiner Performance beklemmende Irritation und befreiendes Lachen beständig ab.

Schule braucht Freiheit, nicht Gängelung

Für die von regen und auch kontroversen Diskussionen begleitete Tagung fasste Prof. Krautz im Ausblick zusammen, dass Schule nicht Gängelung, sondern Freiheit brauche, damit Lehrerinnen und Lehrer der ihnen anvertrauten heranwachsenden Jugend möglichst optimal gerecht werden können. Ein Bildungswesen in der Demokratie könne nicht durch sachwidrige Reglementierung und Kontrolle gesteuert werden, sondern müsse Lehrpersonen das gewähren, worauf Unterricht zielt: Selbstbestimmung in Verantwortung.  Ein Tagungsband, der die Vorträge dokumentiert, ist in Vorbereitung.

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