‘IT und Lernen’ auf dem Prüfstand der empirischen Unterrichtsforschung

von Michael Felten

Die Zukunft der Bildung hängt angeblich voller Geigen. »Der wahre Mehrwert digitaler Medien besteht also nicht darin, alte Ziele schneller zu erreichen, sondern völlig neue Zieldimensionen erstmals zu erschließen.« So schwärmte etwa der Didaktiker Axel Krommer 2018 im ’Magazin Sprache’ des Goethe-Instituts.

Schaut oder hört man sich nach Konkreterem um, begegnen einem etwa die folgenden Verheißungen: »iPad statt Bücher – der Ranzen wird leichter«, »Etherpad – endlich Texte kollaborativ verfassen«, »die Expo-App – Wachstum auf einen Blick«, »per Escape-Room unbekannte Dichter erkunden« oder »auf digitaler Schnitzeljagd die Natur erkunden«. Mithin eine lockere Mischung aus für Fachunterricht wie Alltag interessantem Handwerkszeug (Expo-App), aufgelockerten Rahmenbedingungen des Lernens (Escape-Room) und unter dem Gesichtspunkt Bildung eher fragwürdigen Methodiken (kollaborativ Texte verfassen). Etwas ’völlig Neues’ ist dabei eher nicht erkennbar – aber wir können ja die Augen weiterhin offen halten …

Andererseits gibt es kräftige Warnrufe: Rund um das Thema IT herrsche eine »geradezu religiös anmutende Euphorie«, da sei eine »unfassbar erfolgreiche Reklame der Digitalindustrie« am Werk, dabei sei das Digitale ein »Leistungskiller besonders für Jungen«, überhaupt würden die »Risiken von Nutzungsquantität und Manipulation« weithin unterschätzt, es drohe die »Steuerung von Bildungsprozessen durch Big Data«.

Die Jahrestagung 2019 des Verbands deutscher Wissenschaftler (Thema ’Die Ambivalenzen des Digitalen’) sah »Mensch und Technik zwischen neuen Möglichkeits(t)räumen und (un)bemerkbaren Verlusten« und bilanzierte in einem Positionspapier: »Digitalisierung, Vernetzung und KI können neuartige, langfristige und unvorhersehbare, tiefgreifende Abhängigkeiten für Einzelpersonen, Institutionen und Staaten schaffen.«1

What works – in general?

Mich interessiert hier und zunächst nur die Frage: What works? Gibt es – jenseits subjektiver Hoffnungen, Befürchtungen und Interessen – bereits objektives Wissen über den Nutzen von IT in der Schule? Und wie wäre diese partielle Expertise einzuordnen in den Gesamtstand der empirischen Unterrichtsforschung zum Thema Lehren und Lernen? Die derzeit größte verfügbare Datenbasis über Unterrichtseffekte ist bekanntlich die XXL-Metastudie visible learning von John Hattie. Nach ihrem fulminanten Erstaufschlag (2009/dt. 2013) hat der Neuseeländer weiteres Material zusammengetragen, Kategorien ergänzt und verfeinert – und in der 2017 veröffent- lichten Liste visible learning plus auch explizit technologies behandelt.2

Zunächst: Was ist die Grundbilanz von Hatties Riesenstreifzug durch die Unterrichtsforschung?

Zentralbotschaft I: Auf die Lehrer kommt es an

Wie gut ein Jugendlicher aktuell lernt, das hängt am stärksten (nämlich zur Hälfte) von dem ab, was er bereits mitbringt, was also nicht mehr zu verändern ist – seine genetischen Dispositionen, seine Vorerfahrungen, sein bislang prägendes Milieu. Von den akuten Einflussgrößen (also der anderen Hälfte) ist der Anteil der Lehrpersonen der größte (dreißig Prozent) – wie sie über Schüler denken, welche unterrichtlichen Methoden sie praktizieren etc. Das bedeutet: Sechzig Prozent des überhaupt Beeinflussbaren hat der Lehrer in der Hand. Der Einfluss von Gleichaltrigen, gegenwärtigem Elternhaus, Schulorganisation und Schulleitung fällt demgegenüber eher gering aus – jeweils fünf bis zehn Prozent.

Zentralbotschaft II: Methodisch gibt es keinen Königsweg!

Hattie hat nun interessiert: Welches Lehrerhandeln sieht nicht nur gut aus, sondern ist auch tatsächlich lernförderlich – und welches eher ungünstig oder gar kontraproduktiv? Die Unterrichtsforschung misst dies mit Hilfe der Effektstärke, einem Maß für den Unterschied an Lernleistung, der bei einer bestimmten Maßnahme beobachtet wird, zwischen der Untersuchungsgruppe und einer Kontrollgruppe, oder auch nur zu Beginn und am Ende der Maßnahme. Die mittlere Effektstärke aller einbezogenen Studien (0,4) nahm Hattie als eine Art Benchmark: Unterrichtliche Maßnahmen mit höherer Effektstärke wären demnach (sofern im Alltag praktikabel) besonders erstrebenswert, solche mit geringeren Werten wären weniger bedeutsam (oder gar schädlich).

Aus Hatties Rangliste aller 138 Faktoren hier einige der besonders wirkungsvollen im Bereich der Unterrichtsmethodik:

  • Berücksichtigung der kognitiven Entwicklungsstufe    1,28
  • Klassendiskussionen (fachlich)    0,82
  • besondere Unterstützung für Lernschwache    0,77
  • Feedback    0,75
  • reziprokes Lernen (wechselseitiges Erklären)    0,74
  • metakognitive Strategien    0,69
  • Wortschatztraining und Lesewiederholung    0,67
  • direkte Instruktion (Klassenunterricht)    0,60
  • Hausaufgaben (in weiterführenden Schulen)    0,58
  • kooperative Lernformen    0,34 – 0,59

Es fällt auf, dass eine Reihe von Methoden, die derzeit bildungspolitisch hoch im Kurs stehen und mit großen Hoffnungen behaftet waren, in dieser Auswahl fehlt. Sie schneiden nämlich eher ineffizient ab: Inklusion 0,21; Individualisierung 0,23; Team-Teaching 0,19; Freiarbeit 0,02. Diese niedrigen Effektstärken bedeuten zwar nicht, dass etwa individualisierende Maßnahmen aller Art überflüssig oder gar schädlich wären. Sie verweisen allerdings darauf, wie ungünstig es sich auswirkt, wenn die Lehrperson über längere Phasen auf steuernde Impulse oder vernetzende Aktivitäten zwischen den Schülern verzichtet. Hilbert Meyer sah guten Unterricht als Mischwald – dank Hattie wissen wir jetzt mehr darüber, welche Baumsorten häufiger vorhanden sein sollten und welche seltener.

Überlegenheit von direkter Instruktion

Unter den Grobverfahren des Unterrichtens fällt die Überlegenheit von direkter Instruktion auf. Das ist aber etwas anderes als die viel gescholtene Frontalpaukerei. Es handelt sich vielmehr um eine abwechslungsreiche Form des Klassen- oder Plenumsunterrichts, bei der Lenkung und Eigenaktivität stark verzahnt sind. Sie ist hochgradig aktivierend und adaptiv – man kann sie sich etwa so vorstellen (vgl. Themenheft ’Pädagogik’ 1/2014):

  • Lehrperson erklärt den neuen Lerninhalt bzw. erschließt ihn gemeinsam mit der Klasse.
  • Schüler erproben individuell erste Aufgabenstellungen.
  • Austausch und Debatte der Erfahrungen im lehrermoderierten Klassengespräch.
  • Schüler festigen und vertiefen ihr Wissen bzw. Können an vielfältigen Übungen, Anwendungen und Transferproblemen (einzeln, als Tandems oder in Gruppen).

Offenbar gibt es keinen methodischen Königsweg – viele Wege führen nach Rom, aber keineswegs alle. Die Frage stellt sich, ob all’ diese zielführenden Wege etwas Gemeinsames eint, ob es eine Art Himmelsrichtung des guten Unterrichts gibt. Hattie selbst hat seine Studie ja visible learning (Lernen sichtbar machen) genannt: Lernerfolg hängt vorrangig davon ab, dass den Schülern klar genug ist, was der Lehrer von ihnen will, und dass dem Lehrer möglichst deutlich ist, was bei den Schülern von seinen Erklärungen und Aufträgen ankommt – und dass sich beide Seiten darüber in einem ständigen Dialog befinden.

Bildungsforscher wie Andreas Helmke oder Olaf Köller halten vor allem fünf Aspekte für lernwirksam:

  • störungsarmes, lehrergeleitetes Unterrichtsgeschehen (effiziente Klassenführung)
  • hochgradige kognitive Aktivierung der Schüler
  • gut strukturierte, tiefenwirksam angelegte Lehr-Lern-Prozesse
  • lernförderliches Unterrichtsklima
  • vielfältiges Feedback

Besonders prägnant resümiert Ewald Terhart die Neuakzentuierung des Lehrerbildes, die durch die Hattie-Studie nahegelegt wird: Die Befunde von ’visible learning’ bedeuten ihm zufolge die »Absage an eine naiv- oder pseudokonstruktivistische Ausrichtung des Lehrerbewusstseins, das sich eher in der Beobachter- als in der Aktivatorrolle gefällt. Durch dieses aktive, herausfordernde Lehrerbild rehabilitiert Hattie den dominanten, redenden Lehrer – der aber ebenso auch genau weiß, wann er zurücktreten und schweigen muss. Die Perspektive auf den Unterricht ist: lehrerzentriert. Im Zentrum steht ein Lehrer, für den allerdings seine Schüler im Zentrum stehen. Er muss ihr Lernen sehen können, um sein Lehren daran orientieren zu können«.

Damit ist das Primat der Selbststeuerung von Schülern erheblich infrage gestellt, das Hohelied der Eigenverantwortlichkeit von Kindern und Jugendlichen deutlich relativiert. Lehrersteuerung und Schülerorientierung sind kein Widerspruch, sondern bedingen sich geradezu gegenseitig.

Zentralbotschaft III: Die Beziehung macht’s!

Die Hattie-Befunde rehabilitieren den Lehrer also als sorgsame und sachkundige Führungsinstanz, der die Eigenheiten der Schüler und die Facetten des Themas gleichermaßen fokussiert. Dabei spielt auch die personale Ebene des Unterrichts eine gewichtige Rolle, das Emotionale, das Beziehungsmäßige. Auch diese Alltagserfahrung wird durch die Befunde der Hattie-Studie eindrucksvoll untermauert:

  • fachliche Klassendiskussionen    0,82
  • besondere Unterstützung für Lernschwache    0,77
  • Klarheit der Lehrperson    0,75
  • Lehrer-Schüler-Beziehung    0,52
  • Beeinflussung des Klassenverhaltens    0,68
  • Klassenzusammenhalt    0,53
  • Klassenführung    0,52

What works – in technologies?

Vor diesem Hintergrund nun zur Frage der Lerneffekte durch Digitalisierung. Die Abbildung zeigt die Effektstärken verschiedener Teilbereiche des Einsatzes von IT, auch nach Fachbereichen bzw. Altersstufen. Mit einem Maximum von 0,57 und einem Minimum von 0,01 ergibt sich zunächst ein Mittelwert von 0,33, also eine höchstens durchschnittliche Wirkmacht des digitalgestützten Lehrens und Lernens. Interessant sind einige Einzelbefunde: Klassen nur mit Laptops auszustatten (und ansonsten nichts zu verändern), bringt kaum etwas (0,16); mit interaktiven Lernvideos zu arbeiten ist hingegen ziemlich effizient (0,54). Wenn ein Fach oder eine Altersstufe viel geistige Ausein-andersetzung erfordert, fällt der Nutzen von IT gering aus (zum Beispiel in NA-WI 0,23); dient der IT-Einsatz reinem Training, kann der Effekt auch überdurchschnittlich sein (bei Förderbedarf 0,57).

Hattie selbst bilanziert diese Befunde wie folgt: IT im Unterricht bringt dann etwas, wenn

  • dies kein Ersatz, sondern Ergänzung der Lehrperson ist.
  • die Lehrpersonen im Umgang damit geschult sind.
  • wenn dadurch die Vielfalt der Lerngelegenheiten steigt.
  • wenn die Lernenden sich dabei selbst kontrollieren.
  • wenn dadurch das peer-Lernen optimiert wird.
  • wenn dabei das Feedback verstärkt wird.

Mit dieser uneuphorischen Bilanz steht Hattie keineswegs alleine da. Eine Review des Projekts Clearing House Unterricht (CHU) der TU München, eine Art deutsches Mini-Hattie, fand in 2010er Metastudien bei adaptiver Lernsoftware auch nur eine durchschnittliche Effektstärke von 0,34, in Mathematik gar nur schwache 0,16, für kollaborative Prozesse immerhin leicht überdurchschnittliche 0,52. Auch das ebenfalls dort angesiedelte Zentrum für internationale Bildungsvergleichsstudien (ZIB) markierte 2017 in einer kleinen Metastudie Chancen und Grenzen: Manche Schüler zeigten beim Umgang mit Maschinen geringere Lernängste als gegenüber Menschen; aber es dürfe nicht zu viel digital gearbeitet werden, der Lehrer müsse ein ständiger Begleiter sein, und der motivierende Neuheitseffekt ungewohnter Medien sei bei den Schülern schnell verflogen. Eine Forschergruppe an der Uni Paderborn hatte 2014 gar herausgefunden, dass die MINT- Kompetenzen von Grundschülern mit dem Ausmaß der PC-Nutzung im Unterricht zurückgingen.
Solche statistischen Befunde haben natürlich einen qualitativen Hintergrund. Die Neurobiologin und Hirnforscherin Gertraud Teuchert-Noodt formulierte schon 2017 zwanzig Thesen zu digitalen Medien3, darunter unter anderem diese:

(3)    Im Grundschulalter kommt es bei neuronaler Überaktivierung zu Notreifungsprozessen im Gehirn.

(7)    Alleswissende ‚Lernumgebungen‘ führen häufig zu einer Vernachlässigung analog-kognitiver Einprägens- und Konzeptbildungsprozesse.

(9)    Erst ab der Adoleszenz kann das Stirnhirn als übergeordnete Kontrollinstanz agieren.

Salopp könnte man zusammenfassen: Kein Digitalpakt kann den anthropologischen Flaschenhals umgehen! Lernen braucht auch zukünftig Beziehung, benötigt weiterhin Zeit, erfordert nach wie vor Anstrengung. Der Einsatz von digitalen Medien nur um der Medien willen bringe nichts, bilanziert der Erziehungswissenschaftler Klaus Zierer.

Die Forderung, irgendwann alle Schulbücher und Hefte durch Tablets zu ersetzen, sei eigentlich eine bildungspolitische Bankrotterklärung, da sie wissenschaftliche Erkenntnisse ignoriere. Selbst die sogenannten ’digital natives’ könnten sich Unterrichtsinhalte besser merken, wenn sie mit Papier und Bleistift mitschrieben, statt sich ihre Notizen mit einem Laptop zu machen. Dies hätten Tests ebenso nachgewiesen wie das Phänomen, dass sie auf Papier ausgedruckte Texte besser verstehen, als wenn sie nur die digitale Fassung lesen.

What now?

Also: IT in der Schule wird erheblich überschätzt – nicht zu früh einsetzen, nicht zu häufig! Denn die mediale Motivation ist kurzlebig – und die Datenflut überwältigend, man riskiert Scheinbildung. Sinnvolle Anwendungsfelder gilt es sorgfältig auszuwählen – dann ist das Digitale ein wichtiges neues Handwerkszeug.

Unterschätzt wird dagegen anderes. Die Corona-Schulpause hat nicht nur Mängel in der Digitalausstattung eindringlich vor Augen geführt, sondern auch die Unersetzlichkeit (um nicht zu sagen Systemrelevanz) von Lehrpersonen – als sichtbare und einfühlsame Dialog-Gegenüber, als Welterklärer und Wertevermittler…

Ach ja, jede Digitalisierung im Unterricht steht unter einer Generalprämisse: Sie ist sinnvoll und verantwortbar,…

  1. nur, wenn die Ausstattung stimmt!Jede Stunde, bei der Lehrer und/oder Schüler größtenteils mit unausgereiften oder ungepflegten Systemen zu kämpfen haben, ist schlechter als guter IT-freier Unterricht.
  2. nur, wenn die Lehrerexpertise gesichert ist!
  3. Die Schulverwaltung hat sicherzustellen, dass Lehrer für den Umgang mit IT in der Schule angemessene Schulung erhalten. Der sprichwörtliche Schüler, dem es gut tue, wenn er auch einmal etwas besser wisse als der Lehrer, ist als Normalfall entwicklungshinderlich.
  4. nur, wenn Datenbewusstsein und -schutz existieren!

Datenspuren von Schülern wie Lehrern beim Lernen und Lehren sind individuelle Entwicklungszeugnisse und verdienen höchsten Schutz, sie dürfen nicht uneinschätzbaren Datenkraken zur Verfügung stehen und für personalisierte Werbung oder Eignungseinschätzungen missbraucht werden.

  1. vdw-ev.de/wp-content/uploads/2019/09/VDW-Positionspapier-Digitalisierung-Jahrestagung-2019.pdf
  2. visible-learning.org/wp-content/uploads/2018/03/VLPLUS-252-Influences-Hattie-ranking-DEC-2017.pdf
  3. eliant.eu/fileadmin/user_upload/Conference2017/Teuchert_ Noodt_20_Thesen_digitalen_Medien_umg_2017_4.pdf

Literatur:

Andreas Helmke: Unterrichtsqualität und Lehrerprofessionalität (7/2017)
Klaus Zierer: Lernen 4.0: Pädagogik vor Technik (3/2019)
Ralf Lankau: Kein Mensch lernt digital (2017)

Der Autor:

Michael Felten, Jahrgang 1951, Gymnasiallehrer und Publizist, www.eltern-lehrer-fragen.de; kürzlich erschienen: Unterricht ist Beziehungssache (Reclam 2020)

Zur Originalausgabe (PDF-Format)


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