Die ‘Neue Lernkultur’ erobert Deutschlands Klassenzimmer. Das Konzept, das nach Reformpädagogik und Selbstverwirklichung klingt, weckt übertriebene Hoffnungen. Skepsis sei angebracht, sagt der Pädagoge Karl-Heinz Dammer.

Professor Karl-Heinz Dammer, Pädagogen verstehen unter der ‘Neuen Lernkultur’, dass Lehrer im Unterricht zurücktreten sollen, um die ‘selbstständige Lernaktivität’ der Schüler zu fördern. Selbstständigkeit klingt doch erst einmal gut.

Karl-Heinz Dammer: Der Begriff ist eigentlich trivial, denn ein Mensch kann nur selbst und für sich lernen. Für viele Pädagogen klingt ‘selbstständige Lernaktivität’ gut, weil sie sich an die meist positiv konnotierte Reformpädagogik erinnert fühlen, in der die Selbsttätigkeit der Schüler eine große Rolle spielt. Reformpädagogische Methoden sind aber nicht an sich gut, sondern abhängig davon, in welchem fachlichen Kontext und mit welchen Schülern sie zu welchem Zweck angewandt werden. Wenn es eine sichere Erkenntnis der Unterrichtsforschung gibt, dann die, dass es keinen Königsweg zu gutem Unterricht gibt. Insofern ist Skepsis angebracht.

Wie sieht denn die alltägliche Praxis aus?

Dammer: Idealtypisch funktioniert die Neue Lernkultur so: Die Lehrkraft erarbeitet möglichst differenzierte Unterrichtsmaterialien, die sich an den individuellen Lernständen und Fähigkeiten der Schüler orientieren sollen, so dass diese sie in einer vereinbarten Zeit selbstständig bearbeiten können. Kontrolliert wird das Ganze mithilfe so genannter Lernkontrakte, in denen Schüler und Lehrer gemeinsam festlegen, was in welchem Zeitraum erledigt und überprüft werden soll. Die Lernenden sollen ihren Lernprozess reflektieren und evaluieren, um das ‘Lernen zu lernen’. Ermöglicht wird das alles durch inhaltlich immer offener formulierte Bildungsstandards, die den Lehrern nur noch grobe Kompetenzziele vorgeben.

An welchen Schulen und in welchen Bundesländern finden wir die ‘Neue Lernkultur’ hauptsächlich?

Dammer: Schwer zu sagen. Angesichts der ‘Großreformen’ im Gefolge von PISA und der Inklusionsdebatte herrscht momentan eine große Unübersichtlichkeit. Tendenziell steht die Neue Lernkultur in den Schulen hoch im Kurs, die es mit einer besonderen Heterogenität der Schülerschaft zu tun haben, also in den neu gegründeten Schulformen jenseits des Gymnasiums, die ja nach Bundesland unterschiedlich bezeichnet werden, und in den Schulen, die Inklusion betreiben. Die Prinzipien der ‘Neuen Lernkultur’ erscheinen hier manchen als das beste Mittel, angemessen mit der Heterogenität umzugehen, da sie auf einer möglichst weit gehenden Individualisierung der Lernprozesse beruhen.

Der althergebrachte Frontalunterricht in unseren Schulen hat doch eigentlich ganz gut funktioniert – Deutschland ist ein innovatives und leistungsfähiges Industrieland. Allerdings beschweren sich Arbeitgeber aus Handwerk und Industrie seit etwa zwanzig Jahren über ein abfallendes Niveau von Absolventen.

Kann die ‘Neue Lernkultur’ hier Abhilfe schaffen?

Dammer: ‘Frontalunterricht’ ist inzwischen eine Art ‘dunkler Lord’ der Unterrichtsmethodik und wird daher häufig unreflektiert abgelehnt, auch von Lehramtsstudenten, wie ich immer wieder in Prüfungen und bei der Begleitung von Praktika feststelle.

Das Problem der mangelnden Qualifikationen besteht seit knapp vierzig Jahren. Ein erstes Indiz dafür war die Einrichtung von so genannten Übergangsklassen in den beruflichen Schulen, in denen ein Hauptschulabschluss nachgeholt werden kann. Die Ursache dafür sehe ich vor allem in der wachsenden Diskrepanz zwischen Qualifikationserwartungen an eine berufliche Ausbildung einerseits und der Leistungsfähigkeit, Leistungsbereitschaft und Motivation der Schüler andererseits, die stark vom Herkunftsmilieu abhängt. Diese Kluft zu überbrücken, fällt den Schulen zunehmend schwerer. Sie können soziale Benachteiligung nicht völlig ausgleichen. Man kann also den klassischen Frontalunterricht weder für den Erfolg Deutschlands als Industrienation noch für das abfallende Leistungsniveau verantwortlich machen.

Was kann denn die ‘Neue Lernkultur’ besser machen?

Dammer: Der Lernerfolg unter diesen Bedingungen ist bisher kaum erforscht. Einig ist sich die Forschung aber darüber, dass lernschwächere Schüler weitaus mehr auf die Unterstützung durch Lehrkräfte angewiesen sind als stärkere. Da es hier gerade um die schwächeren Schüler geht, kann man skeptisch sein, ob die Neue Lernkultur das Problem lösen wird. Zugespitzt gesagt: Wer schon zu Hause mit der Bewältigung schulischer Aufgaben allein gelassen wird, sollte dies nicht auch noch in der Schule bleiben.

Welche Folgen der ‘Neuen Lernkultur’ erwarten Sie – für den Bildungsstandort Deutschland, die Berufswelt, die Schulen und die Schüler?

Dammer: Ich betrachte Deutschland nicht als ‘Bildungsstandort’, da der Begriff unterstellt, Bildung diene allein der Sicherung volkswirtschaftlicher Leistungsfähigkeit. Die Bildungsidee lässt sich aber nicht darauf reduzieren.

Über die Folgen der ‘Neuen Lernkultur’ kann man nur spekulieren. Ich möchte zwei zentrale Faktoren herausgreifen, die eng miteinander verknüpft sind, nämlich die wachsende Heterogenität der Schülerschaft und die wachsende gesellschaftliche Akzeptanz unterschiedlichster Lebensentwürfe einerseits und die Funktion allgemeiner Bildung und damit die Aufgabe der Schule andererseits.

Selbstverständlich muss die Schule der gewachsenen Heterogenität Rechnung tragen, aber das geht nicht mit beliebiger Individualisierung des Unterrichts. Das ist weder zu leisten, noch gesellschaftlich ratsam. Die Politik wird nicht umhin kommen, sich für bestimmte Differenzmerkmale – kulturelle Herkunft, Geschlecht, bestimmte Behinderungen – zu entscheiden, damit die Schule gezielt darauf eingehen kann. Eine diffuse Form der Individualisierung ist mit Sicherheit nicht das Patentrezept. Denn dabei gerät die Verbindlichkeit von Bildung aus dem Blick: verstanden als bestimmte Fähigkeiten, aber auch als kulturell, gesellschaftlich, politisch und wissenschaftlich relevantes Wissen, mit dem sich die künftige Generation die Welt erschließen kann. Diese Verbindlichkeit durchzusetzen, gegebenenfalls auch unabhängig von den Befindlichkeiten und Interessen der einzelnen Kinder, bleibt eine wesentliche Funktion von Schule.

Haben Sie konkrete Beispiele für Gefahren?

Dammer: Die Gefahr kann man zum Beispiel an ebenso gängigen wie unsinnigen Phrasen der Art »Man braucht nichts mehr zu wissen, sondern nur noch zu wissen, wo etwas steht« ablesen. Das führt dazu, dass der Unterricht sich am Erwerb von ‘Methodenkompetenz’ orientiert und darüber die Erschließung von Inhalten vernachlässigt. Ein Beispiel dafür: Mein Kollege Klein von der Universität Frankfurt gab Neuntklässlern eine Abiturklausur im Fach Biologie, die sie mangels fachwissenschaftlicher Kenntnisse normalerweise nicht hätten lösen können. Erstaunlicherweise bestanden aber fast alle diese Klausur, einige sogar besser als ausreichend. Des Rätsels Lösung war, dass die Antworten auf die Fragen praktisch alle dem umfangreichen Klausurmaterial zu entnehmen waren, die Schüler brauchten also nur eine ausreichende Lesekompetenz, um zu bestehen.

Das Beispiel hat natürlich nicht direkt mit ‘Neuer Lernkultur’ zu tun, es besteht aber die Gefahr, dass mit der Fokussierung individueller Lernprozesse statt fachlicher Anforderungen den Schülern der Stoff vorenthalten wird, an dem sie sich bilden könnten. Dabei erscheint es mir gerade angesichts wachsender Heterogenität unerlässlich, in der Schule ein für alle Schüler verbindliches kulturelles Fundament zu schaffen.

Politik ist ja meist – oder sogar immer – interessengeleitet. Welche bildungspolitischen Ziele, abseits von den offiziellen, vermuten Sie hinter der ‘Neuen Lernkultur’?

Dammer: Alle Menschen waren den Zwängen der Schule ausgesetzt und haben diese als mehr oder minder belastend empfunden, weswegen eine Pädagogik, die vorgibt, ‘nun endlich’ den einzelnen Menschen und seine Bedürfnisse in den Mittelpunkt zu stellen, leicht auf Beifall stößt. Dieser Humanismus ist aber nur vordergründig. In der ‘Neuen Lernkultur’ ist meist von ‘selbstgesteuertem’ Lernen die Rede, was leicht mit aufklärerischen Vorstellungen von Mündigkeit und Autonomie verwechselt werden kann, aber nichts damit zu tun hat. Im Gegenteil: ‘Selbststeuerung’ ist ein Begriff aus der Kybernetik, bezieht sich also ursprünglich auf technische Systeme, die mit einer entsprechenden Programmierung und bestimmten Zielvorgaben technische Prozesse ohne weiteres menschliches Zutun abwickeln können.

Der ‘kybernetische Mensch’?

Dammer: Mit diesem Begriff wird der Lerner implizit zu einem technischen System und das Lernen zu einem technischen Vorgang erklärt, der sich auf der Basis von Vorgaben präzise selbst steuert. Das verkennt nicht nur die Komplexität von Lernprozessen. Darin zeigt sich auch ein problematisches Menschenbild. ‘Selbstgesteuert’ als technische Metapher bedeutet, dass die Schüler sich aus eigenem Antrieb Fremdbestimmung unterwerfen und damit auch verantwortlich fühlen sollen für eine erfolgreiche Umsetzung der Erwartungen.

Sind die Erwartungen denn heute andere?

Dammer: Als Motiv für dieses Konzept wird meist die Notwendigkeit zu lebenslangem Lernen in der Wissensgesellschaft und ihrer Ökonomie genannt, die so dynamisch sei, dass künftige Arbeitnehmer in der Lage sein müssten, sich immer wieder dem raschen Wandel anzupassen. Sie werden damit, wie der Soziologe Bröckling es nennt, zu einem ‘Unternehmerischen Selbst’ erklärt, das sein eigenes Leben quasi als Managementprojekt zur Optimierung des individuellen Humankapitals betrachtet und eventuelles Scheitern als sein persönliches Versagen interpretiert.

Wirtschaft und Politik werden also aus der Verantwortung für Bildung entlassen?

Dammer: So betrachtet, steht hinter der ‘Neuen Lernkultur’ ein Menschenbild, von dem man annehmen könnte, dass es der Wirtschaft und ihren Vertretern entgegenkommt. Aber tut es das wirklich? Mir erscheint hier eher neoliberale Ideologie am Werke zu sein, soweit sie sich in dem Bestreben erschöpft, möglichst alle Bereiche der Gesellschaft Marktregeln zu unterwerfen. Ein Bestreben, das der Schweizer Ökonom Binswanger in seinem Buch ‘Sinnlose Wettbewerbe’ überzeugend entzaubert. Es springt ins Auge, dass ein allein seiner Selbststeuerung überlassener Markt seinen Zweck langfristig ebenso wenig erfüllt wie ein selbstgesteuerter Mensch, wie ja gerade die Freiburger Schule des Ordoliberalismus wusste, aus der die soziale Marktwirtschaft hervorgegangen ist.

Eine Schule, die sich dieser Ideologie andient, möglicherweise ohne dass die in ihr Handelnden dies durchschauen, hat in meinen Augen versagt, denn sie sollte ein Schonraum für Lern- und Entwicklungsprozesse sein und ihren Schülern verschiedene Zugänge zur Welt eröffnen, statt sie zu ‘Selbstunternehmern’ abzurichten.

Axel Göhring

Zur Person:

Karl-Heinz Dammer ist heute Professor an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Er hat zuvor zehn Jahre in der Schule gearbeitet und ist Mitglied der Gesellschaft für Bildung und Wissen e.V.

Info:

Dies ist ein Nachdruck des Artikels ‘An Schulen herrscht ein problematisches Menschenbild’ von Axel Göhring aus der Wirtschaftswoche Online-Ausgabe vom 29. September 2016.
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