Eine Würdigung

Deutschland feiert sich selbst, genauer gesagt: Politik und Gesellschaft huldigen einer Sammlung von mehr als 146 Rechtsnormen, die unsere Verfassung bilden. Anlass ist der 23. Mai 2019, als sich zum 70. Mal der Tag jährte, an dem das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verkündet wurde. Ursprünglich war es nur als provisorische Lösung gedacht, weil die sowjetische Besatzungsmacht für den Ost-Teil Deutschlands andere Vorstellungen hatte, und wurde daher bewusst nicht Verfassung genannt. Seit der Wiedervereinigung hat es jeden Übergangs-Charakter verloren – seinen Namen Grundgesetz dennoch behalten.

Das Grundgesetz – ein Exportschlager

Das Grundgesetz findet dabei nicht nur in Deutschland höchste Akzeptanz; es untermauert sogar den Ruf unseres Landes als ’Exportweltmeister’, weil auch andere Demokratien auf unterschiedlichsten Erdteilen Elemente davon übernommen haben. Bereits in den sechziger Jahren des vorherigen Jahrhunderts adaptierte Südkorea Aspekte der Grundrechte und unserer Verfassungsgerichtsbarkeit. Auch Taiwan, Griechenland und Spanien orientierten sich daran.

Die Redakteure des Nachrichtenmagazins ’Der Spiegel’ haben zum Jubiläum über fünf ihrer Ansicht nach besonders wichtige Wertentscheidungen des Grundgesetzes geschrieben unter der Überschrift ’Diese fünf Artikel müssen Sie kennen’, darunter die Unantastbarkeit der Menschenwürde, der Gleichheitsgrundsatz und das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit.

Artikel 7: der Schulartikel

lehrer nrw betrachtet noch einen weiteren Artikel als bedeutend: Artikel 7 Grundgesetz, den ’Schulartikel’. Obwohl sich seit 1949 sowohl das Land als auch die Gesellschaft in Deutschland teils massiven Wandlungen und Entwicklungen unterworfen sahen, meistert diese eine Norm noch immer Herausforderungen, denen sich das Schulwesen ausgesetzt sieht.

Dies liegt nicht zuletzt daran, dass der Schulartikel aus mehreren Bestimmungen besteht, die unterschiedlichen Charakter und Inhalt aufweisen.

Artikel 7 Absatz 1 Grundgesetz ist eine organisatorische Regelung. Mit ’Aufsicht des Staates’ ist dabei nicht nur die Rechts-, Fach- und Dienstaufsicht gemeint, sondern der umfassende staatliche Auftrag, das Schulwesen inhaltlich zu gestalten. Dieses ist unabhängig von den elterlichen Erziehungsrechten nach Artikel 6 Absatz 2 Grundgesetz, so dass die allgemeine Schulpflicht durchaus mit Elternrechten in Einklang zu bringen ist.

Gerade Konflikte mit Vorstellungen der Eltern über Unterricht und Schulveranstaltungen können mannigfaltig sein. In den wohl umfangreichsten Fällen, wenn Eltern ihre Kinder komplett zu Hause unterrichten wollen, konnten diese ihre Pläne bislang nicht gegenüber der allgemeinen Schulpflicht durchsetzen. Dies führte wie im Falle einer hessischen Familie sogar so weit, dass aufgrund besonderer gefährdender Umstände das Sorgerecht für die Kinder entzogen wurde.

Das Gestaltungsrecht ist dabei ein fortlaufendes und nicht eines, das mit der erstmaligen und einmaligen Arbeit abgeschlossen sein musste. Dies kann man beispielsweise daran erkennen, dass nicht schon vor siebzig, sondern erst vor fünfzig Jahren der erste schulische Sexualkunde-Atlas erschienen ist.

Artikel 7 Absatz 2 Grundgesetz bestimmt das elterliche Erziehungsrecht für den Religionsunterricht näher. Die Erziehungsberechtigten legen danach fest, ob ihr Kind am Religionsunterricht teilnimmt.

Religionsunterricht als Wertentscheidung

Artikel 7 Absatz 3 Grundgesetz beinhaltet die Garantie des Religionsunterrichts an staatlichen Schulen (soweit nicht gemäß Artikel 141 Grundgesetz anderweitiges Landesrecht schon am 1. Januar 1949 bestand, wie in Bremen und Berlin).

Diese Norm zeigt, wie umfassend und vorausschauend Wertentscheidungen für unseren Staat im wahrsten Sinne des Wortes ’verfasst’ wurden: Schon damals waren ausweislich der Formulierung nicht nur die Kirchen der beiden christlichen Konfessionen gemeint. Aber bereits damals wurde von einer Religionsgemeinschaft verlangt, eine ausreichende Organisationsstruktur zu besitzen und die Aufgaben für die Identität der Gemeinschaft allseitig leisten zu können. Schließlich müssen Glaubensgemeinschaften die Gewähr dafür bieten, anstelle des neutralen Staates Verantwortung für bekenntnisgebundenen Unterricht zu übernehmen, religiöse Grundsätze zu formulieren und gegenüber Schülern zu lehren.

Unproblematisch war dies – damals wie heute – für die christlichen Kirchen. Unklar ist heutzutage aber immer noch im Endeffekt für Muslime, wer als Vereinigung und Partner dem Staat gegenübertreten kann. Gerade in Nordrhein-Westfalen ist diese Thematik hoch aktuell, denn nach Auslaufen einer Übergangsvorschrift debattiert der Landtag zur Zeit über eine neue dauerhafte gesetzliche Grundlage, die umfassend alle Fragen klärt, damit islamischer Religionsunterricht auch mit in Deutschland ausgebildeten Lehrkräften allgemein eingeführt werden kann.

Privatschulen und das Grundgesetz

Artikel 7 Absatz 4 bis 6 Grundgesetz enthalten ebenfalls Freiheiten mit integrativen Grenzen, diese jedoch in gänzlich anderer Hinsicht. So erlaubt das Grundgesetz Privatschulen, es muss allerdings gewahrt sein, dass eine Sonderung nach Besitzverhältnissen der Eltern nicht gefördert wird. Tatsächlich aber besuchen ausweislich von Studien Kinder von Eltern mit hohem Einkommen häufiger Privatschulen als solche aus einkommensschwächeren Familien. Es stellt sich daher die Frage, inwieweit hinsichtlich des Verfahrens der Schülerauswahl (Schulgeld, Stipendien u.a.) die Behördenaufsicht und die unter dem Grundgesetz stehenden Normen dem Grundgesetz hier gerecht werden. Der Schulartikel bietet damit auch ein Anschauungsbeispiel dafür, wie auch der Staat selbst immer wieder gefordert sein kann, das Grundgesetz mit Leben zu füllen.

Christopher Lange

Originalausgabe (PDF-Datei)


 

Nach oben