Die Corona-Schutzmaßnahmen im Lichte des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes.

Wenige Themenbereiche beschäftigen die Gesellschaft im Zusammenhang mit Maßnahmen in der Corona-Pandemie so sehr wie die Regelungen für Schulen und Kitas. Das zeigt schon die Häufigkeit und Dichte der Medienberichterstattung sowie die Intensität und Emotionalität im öffentlichen Diskurs. Es werden teils hitzige, ins Grundsätzliche gehende, sogar Lager bildende Debatten geführt um Präsenz- und Distanzunterricht, Wechsel- und Schichtmodelle, um Lüftungskonzepte, Maskenpflichten und Quarantäneanordnungen.

Unbeschadet, ob es sich um Maßnahmen der Bundes- oder Landesregierung oder weiterer Behörden, wie auch schulischer Maßnahmen selbst handelt, werden die getroffenen Maßnahmen häufig in der Sache als nicht sinn- oder wirkungsvoll angesehen. Oder sie gehen dem einen nicht weit genug, während sie nach Auffassung des anderen über das Ziel hinausschießen. In vielen Fällen werden Maßnahmen tatsächlich auch korrigiert und Strategien verändert. Nichts ist so stetig wie der Wandel, mag man im Hinblick auf Corona-Maßnahmen häufig denken. Gemeinsam ist dann oftmals, dass die Maßnahmen damit aber auch gegen ein Rechtsempfinden vieler verstoßen beziehungsweise »irgendwie nicht in Ordnung« erscheinen.

Verhältnismäßig ist nicht zwangsläufig praxistauglich

Äußerungen von Politikerinnen und Politikern oder Behördenvertreterinnen und -vertretern oder nicht zuletzt den Medien entnimmt die Bevölkerung wiederum jedoch dann häufig, dass auch nach obigen Maßstäben zweifelhaft erscheinende Maßnahmen rechtlich einwandfrei seien, weil sie – neben der Erfüllung anderer Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen – ‘verhältnismäßig’ seien. Was bedeutet der in diesem Kontext so oft strapazierte Grundsatz der Verhältnismäßigkeit? Wie kann eine Maßnahme, die sich beispielsweise als praxisuntauglich erweist und unter Umständen sogar verändert oder außer Kraft gesetzt wird, dennoch als verhältnismäßig anzusehen sein? Was sagt das aus über das Maß an Sorgfalt, mit dem Recht gesetzt werden kann? Bedeutet das, dass Regierungen und Ämter ‘mit Recht’ einfach mal ins Blaue hinein Maßnahmen erlassen können?

Nein, gemeint ist folgendes: Wenn bei staatlichem Handeln der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt ist, hat das staatliche Organ – bei Beachtung aller anderen Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen – nicht unrechtens gehandelt, selbst wenn die Maßnahme sich in der Praxis beziehungsweise im Nachhinein nicht als goldener Schuss, das heißt als die richtige und erfolgreiche Lösung erweist. Es besteht ein Spielraum zur Einschätzung der jeweiligen Lage, insbesondere, wenn diese neuartig ist.

Legitime Mittel zum legitimen Zweck

Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wird aus dem verfassungsrechtlichen Rechtsstaatsprinzip und den Freiheitsgrundrechten abgeleitet. Er stellt einen übergreifenden Leitsatz für staatliche Handlungen dar. Er betrifft die Zweck-Mittel-Relation, das heißt das Verhältnis zwischen rechtlich maßgeblichen Konsequenzen staatlichen Handelns und seiner Zwecksetzung. Dieses Handeln darf hinsichtlich des verfolgten Zwecks nicht über das erforderliche und geeignete Maß hinaus in die Rechtspositionen der Bürger eingreifen. Kaum bestreitbar kommt die Bedeutung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nirgends deutlicher zum Vorschein als bei den Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie.

Maßnahmen sind – in groben Zügen dargestellt –, verhältnismäßig, wenn sie mit einem legitimen Mittel einen legitimen Zweck verfolgen und geeignet sind, diesen Zweck zu erreichen. Außerdem muss das Mittel erforderlich sein, das heißt es darf kein anderes, ebenso wirksames, aber die Bürger weniger belastendes Mittel ersichtlich sein. Und die Maßnahme muss angemessen sein. Dies ist der Fall, wenn nach einer Gesamtabwägung der Schwere des Eingriffs in Bürgerrechte mit der Bedeutung der Eingriffsgründe die Zumutbarkeitsgrenze gewahrt bleibt.

Es darf nicht außer Acht gelassen werden, dass sich gerade bei Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie die handelnden staatlichen Organe auf unbekanntes Terrain begeben mussten und weiter müssen. Die Hürden für eine verhältnismäßige Maßnahme hängen auch von einer bestimmten Lage ab. Je weniger klar ist, wie die Bürger gegen das Virus zu schützen sind und je mehr darüber hinaus gehende Belange zu berücksichtigen sind, desto größer ist der Einschätzungsspielraum im Hinblick auf zu ergreifende Maßnahmen.

Die Verhältnismäßigkeit des Falls Solingen

Von daher durfte beispielsweise auch das Gesundheitsministerium Nordrhein-Westfalens Anfang November letzten Jahres die Stadt Solingen mit ihrem dem Ministerium unterstehenden Gesundheitsamt anweisen, den für die Schulen Solingens verfügten Wechsel von Distanz- und Präsenzunterricht wieder zu beenden. Das Ministerium hatte erlassweise damit den seinerzeit für Nordrhein-Westfalen angeordneten Präsenzunterricht auch in Solingen wieder durchgesetzt. Dabei wurde auch nicht unverhältnismäßig und damit unrechtmäßig agiert, weil das Ministerium von seinem damaligen Einschätzungsspielraum Gebrauch machen konnte, als es zu berücksichtigende Gesichtspunkte miteinander abwog. Angesichts des Pandemiegeschehens in den ersten Wochen dieses Jahres ist ein genereller Präsenzunterricht wohl eher anders einzuschätzen.

Schulschließung wegen zweier Corona-Fälle

Zweifel an der Verhältnismäßig- und damit Rechtmäßigkeit können sicher auch bei der Maßnahme einer Schule in Berlin aufkommen, die entschieden hatte, vom 4. bis zum 12. November 2020 zu schließen. Wegen zweier Corona-Fälle sollte für 600 Schülerinnen und Schüler bis zur Wiedereröffnung lediglich online Unterricht stattfinden. Vor dem Hintergrund der staatlichen Pflicht zum Schutz der Gesundheit der Bürger und dem dynamischen Pandemie-Verlauf und vor dem Hintergrund der zeitlichen Begrenzung der Maßnahme sowie Fortführung des Unterrichts auf digitalem Wege hatte die Schule zum damaligen Zeitpunkt verhältnismäßig gehandelt. Die Schulschließung hatte damit in einem Eilverfahren vor dem Verwaltungsgericht Berlin Bestand (Beschluss vom 6. November 2020, Az. VG 3 L 623/20).

So müssen Verfahren aber nicht immer ausgehen. Bereits Ende letzten Jahres wurden tausende Fälle von Corona-Beschränkungen deutschlandweit gerichtlich überprüft. Einige Maßnahmen vor allem aus Zeiten, als die Corona-Bekämpfung noch in einer sehr frühen Phase war, wurden insbesondere mangels Befristung als unverhältnismäßig angesehen. Es kommt eben stets auf die konkrete Lage an.

Christopher Lange

Originalausgabe (PDF-Datei)


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