Beim Dialog mit der FDP im Landtag am 5. Juli 2016 bestätigte sich, dass sich Inklusions-Ideologen und Betroffene unversöhnlich gegenüberstehen. Die selbsternannten Apostel der Einheitsschule treffen auf Elternvertreter, die Förderschulen nicht schließen lassen wollen, auf ehemalige Förderschüler, die über ihre Exklusion an allgemeinen Schulen klagten, und auf Lehrer, denen fehlendes Engagement vorgeworfen wird, weil sie 100 Prozent Doppelbesetzung und fortlaufende Fortbildungen fordern.

Im März 2016 hat sich der Arbeitskreis Inklusion des Bundes der Freien Waldorfschulen, der Vereinigung der Waldorfkindergärten und des Bundesverbandes anthroposophisches Sozialwesen mit der Frage beschäftigt, wie bei der Verwirklichung der Inklusion die allzu deutliche Kluft zwischen den großen Zielen und den tatsächlichen Gegebenheiten verringert werden kann.

Die Autoren (Dr. Reinald Eichholz und Manfred Trautwein) sehen eines der größten Hindernisse in der gegenwärtigen Diskussion darin, dass Inklusion in der Schule zu einer durch äußere Vorgaben eingeengten Unterrichtsform geschrumpft sei. In den Empfehlungen der Kultusministerkonferenz vom 20. Oktober 2011 werde im Blick auf das Ziel, gemeinsames Leben und Lernen zu ermöglichen, zwar ausdrücklich hervorgehoben, dass den »individuellen Bildungs- und Erziehungsbedürfnissen sowie dem Leistungswillen Rechnung zu tragen« sei. Maßgebend blieben aber »für die schulische Bildung und Erziehung aller … allgemeine Bildungsstandards und Lehrpläne?…«.

Systemwandel nicht durch Mindestgrößenverordnung

Dadurch entstünde ein Bild eines gemeinsamen Unterrichts, bei dem letztlich von den Abschlüssen her gedacht wird – das genaue Gegenteil der Forderung, dass nicht die Kinder sich ans System, sondern das System sich an die Kinder anzupassen habe. Gemeinsamen Unterricht in diesem Verständnis mit Inklusion gleichzusetzen, greife deshalb zu kurz. Von der ‘Regelschule’ zu erwarten, Kinder und Jugendliche mit Behinderungen – stundenweise von Förderlehrern unterstützt – mit zu unterrichten, sei weltfremd. Diese ‘Regelschule’ werde nie bieten können, was heute Fördereinrichtungen leisten. Die derzeitige politische Tendenz, die ‘Regelschule’ in den Mittelpunkt zu stellen und den Fördereinrichtungen zwar verbal eine Bestandsgarantie zu erteilen, zugleich aber über die Vorgabe von Schülerzahlen zu bewirken, dass immer mehr Einrichtungen aufgäben, sei nicht der von der Behindertenrechtskonvention angestrebte Systemwandel.

UN-Konvention wird falsch interpretiert

Ähnlich schrieb bereits im Jahr 2011 Dr. Gisela Friesecke für den Elternverein Nordrhein-Westfalen, die Abschaffung der Förderschulen entspräche nicht der Intention der UN-Konvention. Sie befasse sich nicht mit bestimmten Schulformen oder Arten von Schulsystemen, sondern nur allgemein mit dem Schulwesen. Der Begriff ‘inclusive education system’ sei also gleich zu setzen mit einem alle einbeziehendes Schulsystem und nicht mit einem Schulwesen, das auf ein inklusives System umgestellt werden muss.

Wir von lehrer nrw stehen also nicht allein, wenn wir weiter für den Erhalt von Schwerpunktschulen plädieren, eine durchgängige Doppelbesetzung aus Fachlehrer und Sonderpädagoge einfordern, die Mindestgrößenverordnung ‘kassieren’ wollen und vom Finanzminister echte Ressourcen (und nicht nur zinslose Darlehen) für die klammen Kommunen verlangen. Wie sonst wollen wir den Herausforderungen des Inklusionsprozesses gerecht werden?

Heribert Brabeck

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lehrer nrw klagt auf Angleichung der Pflichtstundenzahl

lehrer nrw hat ein Gerichtsverfahren gegen die Ungleichbehandlung von Lehrkräften an Sekundarschulen gegenüber Haupt- und Realschulen auf den Weg gebracht. In dem Verfahren, das derzeit beim Verwaltungsgericht Gelsenkirchen anhängig ist, klagt eine Lehrerin auf Angleichung des Pflichtstundendeputats im Realschulbereich (28) an die im Sekundarschulsektor geltende 25,5 Stunden-Regelung.

Die Argumente, die die Bezirksregierung Arnsberg als Vertreterin des beklagten Dienstherrn – dem Land Nordrhein-Westfalen – bisher im Verfahren vorgetragen hat, sind aus Sicht von lehrer nrw nicht stichhaltig. Gerechtfertigt werden soll die ungleiche Pflichtstundenzahl durch die angeblich höhere Arbeitsbelastung der Kolleginnen und Kollegen an Sekundarschulen – hervorgerufen unter anderem durch eine vermeintlich größere Heterogenität der Sekundarschulklassen und vermeintlich gymnasiale Standards an Sekundarschulen.
Beides trifft aber auch auf Realschulen zu, die seit jeher eine große Integrationsleistung für Kinder mit unterschiedlichsten Lernvoraussetzungen erbringen und obendrein in nicht unerheblichem Umfang Schüler an die gymnasiale Oberstufe heranführen. Eine Entscheidung in der Sache wird Anfang 2017 erwartet.Jochen Smets

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Wenn aus 2,5 Stunden 4.000 werden

Es ist kein Geheimnis – und damit eine noch frappierendere Ungerechtigkeit – dass Lehrkräfte an Sekundarschulen nur 25,5 Pflichtstunden haben, während Kollegen zum Beispiel an Realschulen und Hauptschulen 28 Stunden ran müssen. Diese 2,5 Stunden Differenz können sich im Laufe eines Lehrerlebens ganz schön summieren, wie das folgende kleine Zahlenspiel zeigt.

Bei einer Differenz von 2,5 Stunden pro Woche bedeutet dies (ausgehend von einer Arbeitszeit von vierzig Unterrichtswochen/Jahr) eine Mehrarbeit von einhundert Unterrichtsstunden, gerundet also einem Arbeitsmonat pro Jahr. Gehen wir von einer vierzigjährigen Diensttätigkeit aus (100 x 40) kommen wir auf eine Differenz von 4.000 Unterrichtsstunden!

Eine Lehrerin oder ein Lehrer mit 25 Stunden Unterrichtsverpflichtung arbeitet demnach also (4.000/25) 160 Wochen, das entspricht 3,8 Arbeitsjahren, weniger als ein Kollege oder eine Kollegin mit 28 Stunden Unterrichtsverpflichtung! (Bitte beachten Sie, dass sich die Zahlen bei einem Perspektivwechsel etwas ändern.)

Wenn es besonders wehtun soll, dann multiplizieren Sie diesen Wert doch mal mit Ihrem Jahreseinkommen, oder Sie berücksichtigen die schulformspezifisch unterschiedlichen Besoldungsgruppen …Vielleicht sollten Sie das aber auch besser nicht tun – die gute Stimmung zum Schuljahresbeginn soll ja noch etwas erhalten bleiben!

Eine Hausaufgabe für Sie: Berechnen Sie die Differenz des Einkommens der unterschiedlichen Schulformen, bezogen auf eine angenommene Dienstzeit von vierzig Jahren (Differenzierung der Aufgabe nach oben: Unterscheiden Sie zwischen Beamten und Angestellten).

Hardi Gruner

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Fatales Signal

Pünktlich zum Beginn des Unterrichts hat ein Strafverfahren vor dem Amtsgericht Neuss bundesweit für Aufsehen gesorgt: Der Musiklehrer einer Kaarster Realschule musste sich wegen angeblicher Freiheitsberaubung und Körperverletzung verantworten. Die Signalwirkung des Urteils ist fatal.

Der Lehrer hatte den Schülern seiner sechsten Klasse aufgrund des den Unterricht störenden, zu hohen Geräuschpegels aufgegeben, Auszüge des Wikipedia-Eintrags über den Geigenvirtuosen Paganini abzuschreiben. Einige Schüler verstanden das bereits als kollektive Strafe. Nach dem Unterricht mussten die Schüler ihre Arbeiten einzeln abgeben – und der Lehrer hinderte Schüler daran, ohne Abgabe des Blattes den Raum zu verlassen, da er mit seiner Gitarre quer vor der Klassentür saß. Ein Schüler rief daraufhin per Handy die Polizei.

Verwarnung mit Strafvorbehalt

Der Lehrer musste sich wegen Freiheitsberaubung und Körperverletzung vor dem Gericht verantworten, nachdem ein weiterer Schüler ihn angezeigt und behauptet hatte, er habe ihn in den Bauch geboxt. Im Zeugenstand wollte der Schüler seinem Lehrer keine Absicht unterstellen und betonte, es habe auch nicht lange wehgetan. Der Amtsrichter verwarnte den Lehrer deshalb wegen einer, wenn auch kurzen Freiheitsberaubung (Az. AG Neuss Ds 333/16). Die Verwarnung mit Strafvorbehalt unterstreicht das aus Sicht des Richters geringfügige Fehlverhalten des Lehrers, dem er die Auflage erteilte, sich im Umgang mit undisziplinierten Schülern fortzubilden. Vom Vorwurf der Körperverletzung wurde der 50-jährige Pädagoge hingegen freigesprochen.

»Ich habe volles Verständnis für Sie und Ihren Job«, begann der Richter die Urteilsbegründung, »heutzutage ist es vielfach so, dass die Autorität in vielen Bereichen unterlaufen wird. Das geht der Polizei so und auch den Lehrern.« Schüler erlebten heutzutage eine regelrechte ‘Verwöhnpädagogik’, meinte der Richter, sprach von kleinen ‘Prinzen und Prinzessinnen’ und zielte damit vor allem auf die Rolle der Eltern ab: »Zu meiner Zeit haben meine Eltern bei Ärger mit dem Lehrer noch gesagt: Na, da wird Dein Lehrer wohl Recht gehabt haben.«

Urteil untergräbt Lehrer-Autorität

Der Verteidiger, der mit der Rechtsabteilung von lehrer nrw eng zusammengearbeitet hat und die schulrechtlichen Rahmenbedingungen in seinem Plädoyer deshalb gekonnt einbinden konnte, zeigte sich von dem Urteil überrascht: »Meiner Meinung nach fördert ein solches Urteil nicht die Autorität von Lehrern an unseren Schulen.« Das Dilemma der Lehrkräfte, der Aufsichtspflicht gerecht werden zu müssen, wenn sie minderjährige Schülerinnen und Schüler nicht am Verlassen des Unterrichtsraumes hindern dürften, werde nicht genügend berücksichtigt, sagte der Verteidiger und kündigte nach Prozessende bereits an, die Berufung vorzubereiten.

Wie ich es sehe

Das Urteil von Neuss wirft Fragen auf. Nicht der Gong eröffnet oder beendet die Unterrichtsstunde, sondern der Lehrer. Es ist keine rechtswidrige, da kollektive Strafarbeit, wenn Schülerinnen und Schüler im Unterricht einen Text abschreiben müssen: Stillarbeit ist keine Strafarbeit. Und einen Lehrer der Freiheitsberaubung schuldig zu sprechen, wenn er Schüler einer sechsten Klasse am Verlassen des Unterrichtsraumes hindert, lässt seine unmittelbare Dienstpflicht, die Schüler zu beaufsichtigen, faktisch leerlaufen.

Wie die Aufsicht im Einzelnen wahrzunehmen ist, hängt von den Umständen des Einzelfalles ab. Dies hat jede Lehrkraft nach ihrer pädagogischen Erfahrung und nach der allgemeinen Lebenserfahrung verantwortungsbewusst zu beurteilen, vgl. Jülich u.a., Schulrechtshandbuch Nordrhein-Westfalen, R 21. Zeitlich ist die Aufsichtspflicht des § 57 Absatz 1 SchulG NRW zwar beschränkt durch den Unterricht einschließlich der zwischen den Unterrichtsstunden liegenden Pausen.

Die Aufsichtspflicht umfasst aber auch eine angemessene Zeit vor und nach Unterrichtsende. Dazu gehört auch, auf eine gewisse Ordnung beim Verlassen des Unterrichtsraumes zu achten und dafür Sorge zu tragen, dass nicht alle Schüler gleichzeitig aus dem Raum stürmen. Zudem ist eine aktive Aufsicht zu gewährleisten, die nur dann gegeben ist, wenn Lehrkräfte sich nicht auf verbale Warnungen beschränken, sondern das ihnen mögliche tun, um Unterrichtsstörungen und Gefährdungen auszuschließen.

Entfernt sich ein Schüler unerlaubt, liegt eine Aufsichtspflichtverletzung jedenfalls dann vor, wenn der Lehrer nicht alles ihm Zumutbare unternommen hat, um dies zu verhindern. Es ist schwer vorstellbar, dass er dabei nicht auf nonverbale Kommunikation und physische Präsenz setzen dürfte, ohne sich strafbar zu machen.
Das Oberverwaltungsgericht Schleswig hat schon 1992 entschieden, dass Lehrer ihre Schüler kurzzeitig aus pädagogischen Gründen auch nach dem Unterrichtsende am Verlassen des Klassenraumes hindern und sogar einsperren können, ohne dass der Tatbestand der Freiheitsberaubung erfüllt wäre (vgl. OVG Schleswig, Urteil vom 5. November 1992, Az. 3 L 36/92).
Besonders interessant ist, dass ‘kurzzeitig’ einen Zeitraum von rund fünfzehn Minuten umschrieb und nicht nur wenige Minuten wie im Fall des Pädagogen aus Kaarst.

Das Signal, dass von der Neusser Entscheidung ausgeht, ist fatal: Der Richter hat nicht nur Strafarbeiten, Nachsitzen und ähnliche Erziehungsmethoden in der Schule infrage gestellt, sondern die Wahrnehmung der Aufsichtspflicht als Ganzes. Auch Drittklässler glauben jetzt, dass sie nichts und niemand mehr aufhalten kann – schon gar nicht ihr Lehrer. Allein deswegen ist die zwischenzeitlich eingelegte Berufung gegen die Neusser Entscheidung dringend geboten!

Michael König

Nachtrag:

Das Verfahren gegen den Lehrer der Kaarster Realschule geht in die nächste Runde. Sein Mandant werde in Berufung gehen, kündigte dessen Anwalt Andreas Vorster an. Der Jurist weist auf die problematische Signalwirkung hin: »Das geht über den Einzelfall weit hinaus«, zitiert ihn die ‘Westdeutsche Zeitung’.

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