»Jedem Menschen ist es gegeben, ein Türhüter und Seelsorger seiner selbst zu sein.«
Martin Schleske aus ’Klangbilder’

Meine Nachbarin ist eine junge, dynamische und lebhafte junge Lehrerin an einem Gymnasium. Sie wirkt sehr zupackend auf mich, und sie spricht schon mal von der Sorge um ihre Schülerinnen und Schüler und deren schulischen Werdegang. Im letzten Schuljahr war ihre große Angst, dass sie ihnen in ihren Fächern nicht genug beigebracht habe, um beim Abitur erfolgreich abzuschneiden. Sie litt mindestens genauso wie die Schüler selbst!

Das kennen wir alle! Und leiden oft mit – mit Schülern und mit Kollegen.

Nicht im Urlaub!

Vor den Osterferien bat sie mich, während ihres Urlaubs ein wenig Acht auf ihre Wohnung und ihre Post zu geben, während sie mit ihrer Mutter und mehreren Stapeln Klassenarbeiten auf eine Insel in Urlaub fahren wollte. Die Mutter wollte ich ihr nicht ausreden – die Klassenarbeiten allerdings schon. Was soll das für eine Erholung sein? Ist man in einer Korrekturphase, kommt man so leicht nicht wieder da raus, man ist ja sooo schön »im Fluss« … es läuft gerade gut … die Kriterien, die die Vergleichbarkeit garantieren, haben sich gerade im Hirn festgesetzt … weiter, weiter … wenn man dran bleibt, hat man es gleich…

Stopp! Nicht in unserer Erholungszeit zum Regenerieren, nicht im Urlaub! Es bleibt letztlich erfahrungsgemäß immer noch genug Platz für Korrekturen im Alltag. Die Erholung sollte jedoch eine deutliche Wertschätzung erfahren – so mein Kommentar. Tage später erhielt ich eine SMS von ihr: »Liebe Grüße aus … ich habe die Korrekturen doch nicht mitgenommen.« Kluges Mädchen!

Plädoyer für Eigenverantwortung

In Deutschland hat es sich mittlerweile ’eingebürgert’ (im wahrsten Sinne des Wortes), nach der Obrigkeit, nach dem Staat, nach der Chefabteilung zu rufen, wenn es eigentlich um eigenverantwortliches Handeln geht: Es wird in politischen Parteien über ein Grundeinkommen, eine Grundrente, eine Enteignung von Hausbesitzern zugunsten ausreichenden Wohnraums für alle Menschen diskutiert und insgesamt um eine Grundversorgung aller Bürger gerungen, die an vielen Stellen aus meiner Sicht der Gratwanderung eines Mauerläufers gleicht. Statt die Menschen per Bildung und ungeschminkter Information über gesellschaftliche Entwicklungen aufzuklären und ihnen Hilfestellungen für ihre eigenverantwortlichen Entscheidungen zu gewähren, hält man die Bevölkerung ’dumm’, stellt ihr gleichzeitig alles für ihr Leben zur Verfügung, was sie benötigt – Eigenleistung, Aufwand für das eigene Leben werden fast unnötig – was der einzelne Bürger oder auch seine Familie nicht schafft, wird zur Verfügung gestellt.

Das nenne ich eine Art der Entmündigung!

Ein gutes Beispiel ist aus meiner Sicht die Absicht des Gesundheitsministers Spahn, die Organspende zum Normalfall zu deklarieren. Jeder Bürger spendet automatisch seine Organe – eine eigene Entscheidung, ob er das bewusst will oder nicht, ist im Vorfeld nicht erwünscht. Der Bürger muss nicht aktiv diesen Wunsch in Handeln umsetzen, sondern er kann der staatlichen Vorgabe nur widersprechen – und das mit einem aktiven Aufwand! Das ist eine neue, recht findige Art der Bevormundung eines jeden mündigen Bürgers. Soweit zum Begriff Mündigkeit und Eigenverantwortung, wie er sich auch in der Politik breit macht.

Entmündigung durch Rundumbetreuung

Ich will damit sagen, dass die Rundumbetreuung des Staates die Entmündigung des Bürgers vom Denkansatz her vorantreibt. Für dieses neue fürsorgliche Denken für den Bürger ist ein gutes Beispiel in unserem Landtag die Diskussion um die erneute Einführung eines Faches Wirtschaft an den Schulen des Landes. Die Opposition aus Grünen und der SPD will das Fach nicht – sie fürchtet eine Einflussnahme von außen (deshalb haben sie das Fach vor Jahren, direkt als sie an die Regierung in Nordrhein-Westfalen kamen, gleich abgeschafft!) Wäre ja auch noch schöner, wenn die Menschen eigenverantwortlich handeln lernten!

Um aber selbstbestimmt leben und lehren zu können, brauchen wir viel Eigenverantwortung und Selbstfürsorge. Das kann auch Mühe machen. Meist haben wir andere im Blick wie Angehörige, Freunde, Nachbarn, Kollegen, Schüler. Machen Sie doch mal den Test für Ihre eigene Person: Malen Sie einen Kreis und tragen dort in einer Kreisteilung (wie in einem Tortendiagramm) Flächen ein, die Sie mit den Begriffen füllen, die Ihren Alltag mit Aufgaben und Beschäftigungen umschreiben, und dies je nach prozentualem Anteil Ihres normalen Alltags von 100 Prozent. Und dies tun Sie bitte unter Berücksichtigung eines wichtigen Feldes, in dem das Wort ICH steht.

Dem ICH Raum geben

Das Ergebnis wird Sie vielleicht überraschen oder erfreuen – Ziel ist es, Sie auf sich selbst aufmerksam zu machen. Nämlich darauf, ob Sie sich um sich kümmern und wenn ja, ob dies ausreichend geschieht. Denn wenn jeder Mensch sich ausreichend um sich selbst und seine Bedürfnisse nach Erlebnissen, Begegnungen, Events und nach Ruhe und Besinnung (auch mal für sich allein) sorgen und zwischen Arbeits- und Ruhephasen bewusst wechseln und auch sein ICH einmal ins Zentrum seiner inneren Achtsamkeit stellen würde, dann müssten wir weniger nach unserem Dienstherrn rufen. Das wäre eine deutliche Verbesserung unserer eigenen Lebensqualität. Und es wäre der Beginn einer fruchtbaren Eigenverantwortung, die im Zentrum die Achtsamkeit für MICH selbst hat!

Kümmern Sie sich doch auch einmal ausgiebig um sich selbst! Das kann der Beginn einer ganzheitlichen Gesundung sein! Nebenbei erhält und fördert es auch unseren gesunden Menschenverstand!

Brigitte Balbach

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