…und was das mit den Kindern macht!
Ich streite gern in der Sache. »Das wissen wir«, werden viele von Ihnen sagen und weiterblättern wollen. Bleiben Sie doch eine kleine Weile bei mir, um zu hören, welch wichtige Erkenntnis ich kürzlich nachts um rund 1 Uhr hatte, der meine Liebe zum Kleist‘schen Aufsatz ‘Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden’ zugrunde liegt. Und genau diese Intention habe ich für mich und auf meine Art weiterentwickelt: Ich rede gern in der Sache: Klartext! Das hat oft Überraschungen zur Folge – man stimmt mir oft vehement zu – oder man bekämpft nicht nur meine Thesen zur Streitfrage, sondern auch mich persönlich. Ich liebe das! Auf diese Art und Weise störe ich oft in kleinen und auch großen Gruppen die vermeintlich harmonische Gruppendynamik, unter der es schon vorher unterschwellig zu oft laut grummelt … ohne dass jemand etwas sagt. Unterschiede werden gern zugedeckt.
Wo ist die Streitkultur geblieben?
Im Landtag zum Beispiel erfuhr ich während dieser Legislaturperiode gelebte (vermeintliche?) Harmonie über alle Parteigrenzen hinweg. Jede Streitkultur scheint ein grundsätzliches Einvernehmen als Ziel zu haben. Von einer gewünschten, gewollten und notwendigen Streitkultur der Abgeordneten unterschiedlicher Parteien ist aus meiner Erfahrung heraus kaum etwas zu merken – rudimentäre Reste einer solchen sind dort dann vorhanden, wenn man Menschen aus Parteien auf ihre politischen Leistungen festlegen möchte, seien es die der Vergangenheit oder die der Zukunft. Nichts scheint dort von allen MdLs weniger erwünscht zu sein, als mit vergangenen Taten oder Aussagen etwa der letzten Legislaturperiode konfrontiert zu werden.
Ja, man mag sich untereinander nicht so gern bekämpfen (leben und leben lassen!), sondern liegt sich äußerst gern harmonisch in den Armen, am liebsten mit politischen Gegnern! Frei nach dem Motto: Wir wissen alle nicht, was morgen kommt – mit wem wir zusammenarbeiten und leben müssen. Damit agieren Politiker aber mit dem ständigen Blick in die scheinbar verheißene Zukunft und vergessen leicht darüber die Gegenwart, in der sie zunächst das umsetzen sollten, wofür sie gewählt worden sind.
Harmonie statt Klartext
In den Kollegien in Schulen ist dieses Phänomen auch anzutreffen, wird mir berichtet. Harmonie kommt besser an als Klartext und Auseinandersetzungen, die ja auch bei Teilhabe von Vehemenz lautstark und unharmonisch wirken können. Dennoch ist es nach dicker Luft eines Streites möglich, dass die be- und gereinigte Luft zu inspiriertem gemeinsamem Tatendrang führt! Das ist keinesfalls selten der Fall! Meine Erkenntnis war und ist bisher in meinem Leben, dass nur wenige Menschen Leidenschaft beim Austausch unterschiedlicher Meinungen schätzen. Die meisten Menschen lieben es harmonisch, ausgeglichen, liebevoll. Sie wollen unbelastet nach Hause gehen, nicht über Gesagtes grübeln wollen oder mit Verletzungen, die ihnen zugefügt wurden oder die sie selbst initiiert haben, in den nächsten Tagen leben müssen. Belastungen dieser Art sind unerwünscht! Sie bedrücken unsere Seele, unser Leben, unsere Arbeit oder unser privates Leben. Nur das nicht – ist alles schon kompliziert genug! Also setzen wir grundsätzlich auf Zustimmung.
Hass wird salonfähig
Zeitgleich begegnet uns ein zweites gesellschaftliches Phänomen unter jüngeren und älteren Menschen: der Hass. Ob im Internet, per Handy, ob persönlich oder in Chatgruppen – der Hass ist allgegenwärtig, laut, ungehobelt, er wütet geradezu und schreckt auch vor dem intimsten Privatleben eines Menschen nicht zurück. Er macht Menschen Angst und behindert ihre freie innere Entwicklung, er bedroht ihren Seelenfrieden; dennoch scheint er bis hinein in deutsche Parlamente salonfähig geworden zu sein! Finden Sie das nicht auch unglaublich? Der Hass kann mittlerweile so weit gehen, dass Menschen an der Ausübung ihres Berufes gehindert werden. Was bedeutet das für unser Zusammenleben? Wer hasst, siegt? Unterdrückter Hass schont das eigene Herz? Nicht hassen führt zu Magengeschwüren? ‘Alles hinnehmen’ ist die neue Strategie? Nur keinen Ärger? Alle sollen mich lieb haben?
Nehmen wir einmal an, wir würden uns für die grundsätzliche Strategie des Raushaltens entscheiden. Was hieße das? Unser Gegenüber sagt etwas – wir stimmen sofort zu, erst nach einem Nachdenken zu, verzögert zu, wir schweigen, wir entfernen uns lokal? Wir lächeln und schütteln freudig die Hand nach ein paar freundlichen Floskeln? Erbärmlich, oder? Das führt aber auf jeden Fall nicht zu unliebsamen Auseinandersetzungen – versprochen. Was macht das mit einer Gesellschaft?
Die geistig entleerte Gesellschaft
Wir verarmen! Wir entleeren uns geistig! Wir bemühen uns, unbedarft zu werden und lassen die erlebte Vielfalt in unserer Gesellschaft verdorren! Dafür liegen wir dumm und beglückt in den Armen eines vermeintlichen, aber unechten Verständnisses füreinander, das wie weggeblasen ist, sobald unser Gegenüber aus unseren Augen und Ohren und damit unseren einzigen noch übrig gebliebenen Sinnen entschwunden ist. Zurück bleibt – nichts! Naja, im besten Fall wie nach zu viel Alkohol – ein schaler Geschmack, der ein paar Stunden nachwirken kann. Für die Zukunft ein leichtes Winken mit der Hand so über die Straße hinweg. Eine Meinungsvielfalt wird damit jedoch definitiv verhindert. Eine Auseinandersetzung in der Sache und ein tiefes Interesse an der Meinung des anderen Menschen sind nicht mehr möglich.
Die Vernichtung der Vielfalt…
Ich lese zurzeit ein kleines interessantes, sehr lesenswertes Reclam-Heftchen mit dem Titel ‘Die Vereindeutigung der Welt’ von Thomas Bauer, Untertitel: ‘Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt’. Darin zeigt er auf, wie die Vielfalt in der Natur deutlich zurückgeht. Seine Sichtweise ist die, dass mit den Einschränkungen der Vielfalt in der Natur auch die des Menschen verbunden ist. Bauer spricht von einer Tendenz zu einem Weniger an Vielfalt, einem Rückgang an Mannigfaltigkeit. Als Ursachen dafür nennt er die Verstädterung, die größere Mobilität, die Globalisierung überhaupt, die Belastung durch den Verkehr, die industrialisierte Landwirtschaft, den Klimawandel, die Monopole der großen Lebensmittelkonzerne – die kapitalistische Wirtschaftsweise. Den Menschen sieht er heute mit einer Disposition zur Vernichtung der Vielfalt. Die Bereitschaft zur Vielfalt sei dem Menschen abhandengekommen. Wir sind unwillig, so Bauer, die Vielfalt zu ertragen, zum Beispiel die Vielfalt ethnischer Diversitäten, die Vielfalt von Lebensentwürfen und die vielfältiger Wahrheiten.
…und das Erstarken des Fundamentalismus
Die Welt sieht er heute uneindeutig – das kann der Mensch kaum ertragen, die zahlreichen Möglichkeiten einer jeweiligen Interpretation erscheint vielen Menschen unklar, diffus, sich widersprechend. Bauers Aussage lautet: Die Welt ist voll von Ambiguität. Der Mensch kann alles so oder anders sehen oder deuten. Uns fehlt in seinen Augen eine Ambiguitätstoleranz, die jedoch dringend notwendig ist, um Schlimmeres zu verhindern, nämlich die Vereindeutigung der Welt, wie sie der Fundamentalismus betreibt oder gar die Gleichgültigkeit gegenüber der Welt!
Ich glaube, dass auch in Schule unsere Ambiguitätstoleranz geschult werden kann, unsere eigene und die unserer Schülerinnen und Schüler. Das wird in keinem einzigen Fall von Nachteil sein. Der Fundamentalismus in der Welt wächst überall – in diesem Sinne eine Vereindeutigung der Welt zu verhindern, kann für uns Lehrer eine Lebensaufgabe sein oder werden!
Packen wir es an – überall dort, wo wir leben.
Brigitte Balbach
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