Über die Karriere eines Kampfbegriffes

Mit welcher Leichtigkeit der Begriff Bildungsgerechtigkeit immer wieder in Anträgen des Landtags auftaucht! So, als würde die Gesellschaft grundsätzlich über eine bestimmte Grundmasse an Bildung verfügen, die nur endlich einmal an unsere Schülerinnen und Schüler in gleichem Maße verteilt werden müsste. Genau das aber hätte die jeweilige Regierung und/oder hätten gar die Lehrkräfte vor Ort bis dato verhindert. Vielleicht ja auch nur unbedacht: Sie wissen es halt nicht besser. Die Armen!

Mein persönliches Unwort

Und so wurde in den Jahren meiner Streifzüge als lehrer nrw Sachverständige in und um den Landtag oftmals erbittert um den Begriff gestritten, gerungen und gefeilscht, bis er zu meinem persönlichen Unwort wurde. Stellen wir uns doch einmal folgende Fragen, um der Sache auf den Grund zu gehen: Kann man Bildungsgerechtigkeit in einer Gesellschaft wirklich herstellen? Ist eine annähernd gleiche Verteilung von Bildung möglich? Wird Bildung wirklich zugeteilt (von wem auch immer?!), oder kann sie auch erworben werden? Kommen wir eventuell mit einem nur unzureichenden Potenzial an Bildung auf die Welt? Kann da erfolgreich nachgesteuert werden? Wird Bildung zunächst bei der Geburt zugeteilt, und kann sie im weiteren Leben per Eigeninitiative mit viel Motivation vom Einzelnen erworben werden? Hindert gar, wie viele Anträge im Landtag immer wieder mal suggerieren, dass Regierende ihre Untergebenen absichtlich an der Bildung nicht oder nicht vollumfänglich teilhaben lassen wollen?! Ist es die Aufgabe der jeweiligen Opposition, darauf zu achten, dass die Bildung insgesamt gleich auf die Schülerinnen und Schüler im Land verteilt wird? Wie das? Wie?

Politiker können naturgemäß nur wenig zur Bildung der Menschen in einem Land beitragen (entsprechende Anträge geraten immer wieder bei den Menschen in Vergessenheit, so dass sie öfter wiederholt werden müssen, siehe Bildungsgerechtigkeit)!

Lehrer wollen Kinder schlau machen

Politiker können aber entsprechende Weichen stellen, die fiskalischer oder inhaltlicher Natur sein können – immer sind es jedoch nur Rahmenbedingungen, die angemahnt oder gar vorgeschrieben werden können. Inhaltliche Vorschriften können sich auf dem Verordnungswege nur selten durchsetzen, zum Glück für die Kinder und Jugendlichen: Denn solange dies so ist, bestimmen in der Regel wissenschaftlich ausgebildete Fachkräfte das Unterrichtsgeschehen in der Klasse. Lehrer haben dadurch schon größere Möglichkeiten: Sie müssen zur Bildung ihrer Schüler nicht genötigt und immer wieder daran erinnert werden, sondern es ist ihr intrinsischer Auftrag, ihre Motivation, ihr innerer Kern, das, weshalb sie Lehrkräfte geworden sind: Sie wollen Kinder schlau machen. Es ist ihr ureigenes Anliegen, Schüler zu bilden. Und dieses reicht naturgemäß immer so weit, wie diese Menschen selbst über Bildung verfügen. Deshalb ist die Lehrerausbildung von höchstem Wert für alle Menschen in der Gesellschaft. Genau aus diesem Grund! Und deshalb muss man bei der Einstellung von Seiteneinsteigern deren Qualifikation sowie ihre Nachqualifizierung und eine adäquate Aufstiegsmöglichkeit für diese Gruppe mitdenken. Ansonsten entsteht ein Ungleichgewicht in Kollegien, das die notwendige Zusammenarbeit im Lehrerzimmer empfindlich stören kann. Und Missstimmungen in der Lehrerschaft führen immer auch zu Verstimmungen in Kollegien, in der Schülerschaft, in der Elternschaft bis hin zu gesamtgesellschaftlichen, sensiblen Stimmungstiefs, die es in schwierigen und kritischen Zeiten deutlich zu vermeiden gilt.

Wer Gleichheit fordert, negiert Verschiedenheit

Wer Gleichheit der Menschen fordert, negiert ihre Verschiedenheit und setzt ein Paradigma, das festlegt, was jeder Mensch erreichen können sollte. Er signalisiert mit dieser Festlegung gleichzeitig, was besser und was schlechter ist und deshalb damit auch, dass seine Sicht die allwissende ist. Ein weiteres Phänomen im Landtag zeigt, dass meine Darstellung nicht so ganz abwegig ist. Es gibt einen neuen Textbaustein in der Einladung zu einer Anhörung, die deutlich macht, dass eine Auseinandersetzung auf Augenhöhe mit den geladenen Sachverständigen jetzt nicht mehr oberste Priorität hat. Folgender Textbaustein ist in den Anschreiben fester Bestandteil der förmlichen Einladung:

»Für den Fall Ihrer Teilnahme mache ich zum organisatorischen Ablauf der Anhörung darauf aufmerksam, dass ein mündliches Statement zu Beginn der Anhörung nicht vorgesehen ist. Vielmehr werden die Abgeordneten in Kenntnis der von Ihnen eingereichten Stellungnahme direkt Fragen an Sie richten. Bitte beantworten Sie dann ausschließlich die an Sie gerichteten Fragen.«

Soweit zur freien Meinungsäußerung von Sachverständigen in unserem Landtag (offizielle Verlautbarung). Das ist der Beweis für einen Verlust des demokratischen Wertes »Debattieren auf Augenhöhe«! Ich weise an dieser Stelle der Fairness halber darauf hin, dass ich bei der letzten von mir besuchten Anhörung im Mai keine Stellungnahme abgegeben habe, aber trotzdem befragt wurde. Das tröstet!

Die Elternhäuser in den Blick nehmen

Das, was Politiker und Lehrkräfte zur Bildung von Schülerinnen und Schülern beitragen, beitragen wollen und beitragen können, habe ich ansatzweise umrissen.

Es gilt jetzt, die andere notwendige Seite der Bildung von Kindern und Jugendlichen zu beleuchten, nämlich die der Elternhäuser. Auch dort gibt es Entwicklungen, die es notwendig machen, das Bilden und Erziehen von uns Lehrkräften neu zu überdenken. Es müssen meiner Erkenntnis nach neue Formen der Zusammenarbeit zwischen Schulen und Elternhäusern gefunden werden, die das Kind, den Schüler, den Jugendlichen gemeinsam mit den Eltern oder Erziehern in den Blick nehmen und eine gemeinsame Pädagogik entwickeln, also vereinfacht gesagt: Wir müssen im gesamtgesellschaftlichen Interesse wieder an einem Strang ziehen. Müssen! In unser aller Interesse! Einen Gedankenansatz dazu offeriert Ihnen Thorsten Schmalt in seinem folgenden Artikel. Lesenswert!

Bleiben Sie wachsam auch oder gerade in Zeiten von Corona! Kinder umarmen sich nach der Zwangstrennung, koste es, was es wolle. Was sagt uns das denn? Wir haben eine Zukunft! Auch eine pädagogische! Packen wir sie an! Die Zeichen stehen gut!

Brigitte Balbach

Zur Originalausgabe (PDF-Format)

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