Über den Wandel der politischen Kultur
Neuer Vorsitzender, tradierte Werte, klare Ziele
Gestatten Sie mir, liebe Leserinnen und Leser, ein paar Worte vorweg in eigener Sache. Am 24. November wurde ich zum Vorsitzenden unseres Verbandes lehrer nrw gewählt. Ich freue mich auf diese Aufgabe, gehe sie aber auch mit einer Portion Demut an. Denn die Fußstapfen, in die ich trete, sind sehr groß. Meine Vorgängerin Brigitte Balbach hat nicht nur in unserem Verband, sondern auch in der Bildungslandschaft in Nordrhein-Westfalen Spuren hinterlassen. Als leidenschaftliche Streiterin für Bildungsqualität hat sie politische Freunde wie Gegner gleichermaßen beeindruckt. Im Hauptpersonalrat Realschulen lebte sie mir stets eine absolute Rollenklarheit vor. »Wir stehen unverbrüchlich an der Seite der Beschäftigten und sind ausschließlich hier, um gegenüber dem Haus deren Interessen bestmöglich zu vertreten!« So lautete ihr Credo. Ich durfte an einigen Sternstunden teilhaben, in denen sie die Dienststelle an die Wand geredet und den Schreibtischtätern die Welt außerhalb der Völklinger Straße 49 erklärt hat.
Klare Kante zeigen
Als Vorsitzender des Hauptpersonalrats durfte ich schon 2018 Brigitte Balbachs Nachfolge antreten – und nun also auch im Verband. lehrer nrw hat ein klares, unverwechselbares Profil, das ich weiter schärfen möchte. Dabei gilt es, gegenüber der Politik klare Kante zu zeigen, aber auch, alte und neue Mitglieder mit einem umfassenden Serviceangebot zu überzeugen. Um konkurrenzfähig zu bleiben, müssen wir Interessenvertretung und Dienstleister in einem für unsere Lehrkräfte sein. Und um einzigartig zu bleiben, müssen wir das, was unseren Verband immer schon ausgemacht hat, bewahren. Dazu zählen neben unseren christlichen Werten und der Liebe zum Kind ein klares Bekenntnis zur Leistung und zur Lehrerpersönlichkeit als Ausgangs- und Endpunkt aller Lehr- und Lernprozesse.
Wer als Verband in einer Bildungslandschaft bestehen will, die sich in einem rasanten Tempo wandelt, der darf sich aber nicht nur auf seinen Traditionen ausruhen, sondern muss selbst innovativ sein. Wir müssen Antworten geben und Positionen besetzen, zum Beispiel im Hinblick auf die Frage, inwiefern wir es zulassen wollen, dass die Digitalisierung künftig Lehr- und Lernprozesse steuert – und eben nicht mehr die Lehrkraft. Um hier mit einer Stimme zu sprechen, ist es unerlässlich, dass wir jede Stimme unserer Mitglieder kennen. Der Schlüssel dazu sind Vernetzung und Kommunikation. Hier gilt es in einen engeren Austausch zu treten und Strukturen zu schaffen, die das ermöglichen – auf allen Ebenen. Meiner Überzeugung nach werden wir nur dann erfolgreich sein, wenn Arbeit und Verantwortung nicht auf wenigen, sondern auf vielen Schultern ruhen. Denn nur dort, wo viele mittun und einbezogen werden, ist auch die Identifikation mit der gemeinsamen Sache gegeben.
Herausfordernde Zukunftsaufgaben
An Zukunftsaufgaben mangelt es wahrlich nicht. Im Zentrum unseres Personalratswahlkampfes stand die enorme Arbeitsbelastung unserer Lehrkräfte, die sich auf die Formel bringen lässt »Zu viele Pflichtstunden, zu große Klassen, zu wenig Personal, zu wenig Systemzeit«. Konträr zur Belastung steht die Bezahlung. Während unsere Kolleginnen und Kollegen an den Real- und Hauptschulen mehr Pflichtstunden ableisten müssen, erhalten sie trotz gleicher Qualifikation und gleicher Ausbildung weniger Geld als die Gymnasiallehrkräfte. Die Angleichung der Besoldung ist deshalb eine Gerechtigkeitsfrage und längst überfällig.
Dies gilt in gleicher Weise für unsere Fachleiterinnen und Fachleiter im SekundarstufeI-Bereich. Sie haben dieselbe Qualifikation und erledigen dieselbe Arbeit wie ihre Kolleginnen und Kollegen aus dem SekundarstufeII-Bereich, werden aber deutlich schlechter bezahlt. Konsequenz daraus ist, dass eklatanter Fachleitungsmangel für die SekundarstufeI herrscht.
Und dass unsere Schulleitungen für alles, aber auch wirklich alles zuständig sind und verantwortlich gemacht werden, ohne von den Aufsichtsbehörden ausreichend unterstützt und entlastet zu werden, zeigt die Coronapandemie gerade jetzt überdeutlich.
Seiteneinsteiger und multiprofessionelle Teams unterstützen
Lehrkräfte, Schulleitungen, Fachleitungen werden von uns seit Jahrzehnten vertreten. Wir werden uns in Zukunft aber auch intensiv um weitere Personengruppen kümmern müssen, die verstärkt in unsere Schulen strömen. Dazu zählen die Seiteneinsteiger sowie die multiprofessionellen Teams. Durch den eklatanten Lehrkräftemangel sind wir zurzeit auf den Seiteneinstieg angewiesen. Das Ministerium tut aber bis heute viel zu wenig dafür, diese Menschen nachzuqualifizieren. Im Hinblick auf die multiprofessionellen Teams stehen wir vor einem Paradoxon der besonderen Art: Die Kolleginnen und Kollegen werden gerade wegen ihrer Berufserfahrung an unseren Schulen eingestellt, aufgrund tariflicher Vorgaben kann ihnen diese Berufserfahrung aber angeblich nicht auf die Stufenzuordnung angerechnet werden, da nur Vortätigkeiten im selben Beruf anrechnungsfähig seien und dieser ja nun mal ganz neu sei – ein Unding!
Landesregierung muss endlich liefern!
Besonders frustrierend ist für unseren Verband, dass die Landesregierung trotz anderslautender Wahlversprechen und eindeutiger Aussagen im Koalitionsvertrag im Hinblick auf die Schulformen, die wir maßgeblich vertreten, nicht geliefert hat. Anders verhält es sich bei den Grundschulen, die mittlerweile ihren ’Masterplan Grundschule’ haben. Anders verhält es sich bei den Berufskollegs, die mittlerweile ihre ’Agenda zur Stärkung der Beruflichen Bildung’ haben. Anders verhält es sich bei den Gymnasien, die mittlerweile ihr G9 und ihre Vorgriffsstellen haben. Wie aber sieht es mit der Stärkung der Haupt- und Realschulen, der Gesamt- und Sekundarschulen aus? Ich möchte daran erinnern, dass es genau diese Schulformen waren, die in der jüngsten Vergangenheit die Herkulesaufgaben Inklusion und Integration maßgeblich geschultert haben – und nicht etwa die Berufskollegs und die Gymnasien! Ich möchte auch daran erinnern, dass die rot-grüne Vorgänger-Regierung vor allem über ihre verfehlte Schulpolitik gestolpert ist.
Das Mantra vom Präsenzunterricht
Das Thema ’Schule in Pandemiezeiten’ beherrscht derzeit alle schulpolitischen Diskussionen. Den Bildungsauftrag vor Ort zu erfüllen und gleichzeitig den Gesundheitsschutz aller daran Beteiligten zu wahren, erscheint mir immer mehr die Quadratur des Kreises zu sein. Die von der Landesregierung mantraartig wiederholte Formel, den Präsenzunterricht so lange als möglich aufrecht erhalten zu wollen, ist angesichts einer steigenden Zahl von Corona-Fällen und Quarantäne-Anordnungen bei Lehrkräften und Schülern nicht ausreichend. Schulen sind heute immer weniger sichere Orte. Deshalb darf es keine Denkverbote mehr geben. Wir brauchen dringend passgenaue, auf den jeweiligen Standort, die Region und die Schulform zugeschnittene Lösungen. Dabei muss den Schulen auch ein Spielraum gegeben werden, der ihre individuelle Situation, die räumlichen Gegebenheiten sowie die Personaldecke
berücksichtigt – denn die Experten sitzen vor Ort und nicht in den Ministerien!
Sven Christoffer
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