Der bekannte Kinder- und Jugendpsychiater Michael Winterhoff stellt in seinem neuen Buch eine schonungslose Diagnose: »Deutschland verdummt«. Dies ist zugleich auch der Titel des Werks, aus dem wir hier einige Thesen vorstellen.

Kinder sind keine kleinen Erwachsenen!

»Wir schaffen Lehrer und Erzieher als Bezugspersonen ab und degradieren sie zu Lernbegleitern – und das finden einige auch noch toll und fortschrittlich.«

Schule ist zu einem Spielfeld für Ideologen verkommen, die sich eine Lernmethode nach der anderen einfallen lassen. Der gemeinsame Nenner: Kinder sollen autonom lernen. Doch genau das ist ihnen definitiv nicht möglich. Was die Kinder am dringendsten brauchen, wird ihnen verweigert: Erwachsene, die sie an die Hand nehmen und ihnen den Weg in die Selbstbestimmtheit zeigen. Ohne diese Unterstützung kann sich ihre Psyche nicht entwickeln. So werden aus auf sich gestellten Kindern beziehungs- und arbeitsunfähige Erwachsene, ohne Chance auf ein erfülltes Leben. Sie werden zu einer Gefahr für die mühsam erkämpften Errungenschaften einer funktionierenden Solidar-Gesellschaft.

Die Grundschule muss eine digitalfreie Zone sein!

»Je früher Kinder mit Smartphones, Tablets und Computern konfrontiert werden, desto autistoider werden sie, von den narzisstischen und egomanischen Verhaltensweisen eines Kleinkindes kommen sie dann nicht los.«

Was mir als Kinder- und Jugendpsychiater besonders wichtig ist: Kindergärten und Grundschulen müssen digitalfreie Oasen sein; wir müssen Kinder bis zum zehnten Lebensjahr möglichst umfassend vor Digitalisierung schützen, statt sie auch noch willentlich hineinzustoßen. Sie werden nicht nur von Bewegung, direkten Erfahrungen und direkter Kommunikation abgehalten, sie werden auch in ihrem Kleinkind-Weltbild bestätigt: Ich wische, also passiert etwas. Das Internet sorgt für permanente Lustbefriedigung. Nicht entwickelte Kinder und Jugendliche werden in ihrer Kleinkind-Vorstellung bestätigt, sich jederzeit bedienen und alles steuern zu können. Gleichzeitig werden sie durch die Reizüberflutung völlig überfordert und rutschen in eine Parallelwelt ab. Wir brauchen keine Kinder, die mit Computern umgehen können, sondern Kinder, die über eine entwickelte Psyche verfügen. Ein Mensch mit entwickelter Psyche kann sich mit jeder Technik auseinandersetzen, für die er sich interessiert. Viel mehr brauchen wir Erwachsene, die Ideen haben, die umsichtig sind, weitsichtig, im Voraus und kreativ denken.

Ohne Anleitung keine Entwicklung

»Skandalös ist: die Ideen kommen nicht von Lehrern, sondern von der OECD, Wirtschaft und Ideologen. Über die Köpfe von Eltern und Lehrern hinweg wurde von Bildungspolitikern unser gesamtes Bildungswesen verändert zum großen Schaden unserer Kinder.«

Auch wenn die Anhänger des ’offenen Unterrichts’ dies nicht wahrhaben wollen – vor die Wahl gestellt, suchen sich Kinder meist das aus, was sie schon können (das tun wir Erwachsenen übrigens auch). Damit ein Kind Fortschritte macht, braucht es die Aufforderung des Erwachsenen: »Komm, versuch das mal! Ich denke, du schaffst das!« Die Ideologen, die uns das aktuelle Bildungssystem mit seinem Konzept des ’offenen Unterrichts’ eingebrockt haben, und ihre Fans glauben ganz aufrichtig, die Kinder damit zu befreien. Möglich ist dieser Irrtum nur durch eine Beziehungsstörung, die in der Psychoanalyse Projektion genannt wird: Ein Erwachsener projiziert seine eigenen Wünsche und Gefühle auf das Kind. Das heißt, er sieht das Kind gar nicht als Kind, das eigene Bedürfnisse hat und auf seinen Schutz angewiesen ist, sondern sozusagen als Avatar, den er mit eigenen Wünschen und Bedürfnissen ’füllt’. Kurz gesagt: Das Kind muss einen Pullover anziehen, weil die Mutter schnell friert.

Emotionale und soziale Intelligenz

»Auch der heute vielerorts zur Normalität gewordene Schullärm ist ein unübersehbares Zeichen dafür, dass die verfehlte Bildungspolitik der letzten Jahrzehnte ihre Schutzbefohlenen allein lässt – genau das ist eine unglaubliche Katastrophe.«

Wenn ich also sage: Deutschland verdummt, dann meine ich damit nicht nur, dass die Kinder in der Schule immer weniger lernen und immer weniger über die emotionale und soziale Intelligenz verfügen, die sie für ein Miteinander in der Gesellschaft dringend benötigen würden. Dass es so ist, ist ein großes Versagen der Erwachsenen. Doch die Sache mit der Dummheit und Verwahrlosung geht ja noch viel weiter. Aus Kindern mit nicht entwickelter Psyche werden Erwachsene mit nicht entwickelter Psyche. Es ist eine große Not, in der sich unsere Gesellschaft in zehn, zwanzig Jahren befinden wird. Ein soziales Miteinander kann nur einen begrenzten Anteil an Menschen vertragen, die sich wie Autisten, Narzissten, Egomanen benehmen. Wird nicht umgehend die Bildungspolitik wieder auf die Bedürfnisse des Kindes eingestellt und mit der Irrlehre aufgeräumt, dass ein Kind weder Bindung noch Beziehung braucht, ist das gesamte Gefüge unserer Gesellschaft in Gefahr. Wenn wir es so weiterlaufen lassen wie bisher, wird gegen das, was auf uns zukommt, der heutige dramatische Fachkräftemangel nur ein laues Lüftchen vor dem Sturm sein.

Leistung nicht erreicht? Anforderungen senken!

»An einer mir bekannten Hauptschule lautete die Begründung für die Abschaffung der Hausaufgaben: ‘Die Kinder machen sie ja sowieso nicht.‘«

Es ist immer dasselbe: Leistungsanforderungen werden heruntergesetzt oder gar ganz gestrichen, weil man sie unter den gegebenen Bedingungen gar nicht mehr durchsetzen kann, und man redet sich ein, es wäre viel besser so. Basierend auf diesem Ansatz wurden zuletzt die Verbundschreibschrift und die Rechtschreibung in den Grundschulen abgeschafft. Und weil die Leistungen der Kinder immer weiter abrutschen, lautet die Devise: »Der Unterricht ist eben noch nicht offen genug, die Erwachsenen müssen sich noch mehr aus dem Lernprozess herausnehmen, damit sich der Erfolg einstellt!« Das ist so, als wenn ein Arzt seinem Patienten, dem er wegen einer Fehleinschätzung ein falsches Medikament verschrieben hat und dem es immer schlechter geht, immer höhere Dosen des gleichen Medikaments verabreichen würde. »Irgendwann muss es doch wirken!«

Reden ist nur Silber

»Das Wichtigste, was wir Menschen in der Gesellschaft brauchen (wichtiger als Lesen, Schreiben und Rechnen zu erlernen), ist die Entwicklung der emotionalen und sozialen Psyche. Nur wenn das Kind angeleitet und begleitet wird, wenn ihm viele Dinge abverlangt und eingeübt werden, kann sich die Psyche bilden.«

Es ist ein Trugschluss, man könne Kindergarten- und Grundschulkindern die Welt übers Reden und Erklären begreiflich machen. Die Grundvoraussetzung des Lernens ist die Entwicklung der Psyche, welche allein über Bindung und Orientierung der Kinder geschieht. Ohne diese Grundvoraussetzungen jeder Pädagogik kann keine Entwicklung der kindlichen Psyche stattfinden. Durch das heute an Schulen vorgeschriebene ’autonome Lernen’ wird sie sogar aktiv verhindert.

Deutschland verdummt – eine Leseprobe

Vor der Jahrtausendwende konnte ein Kind mit hoher Wahrscheinlichkeit noch darauf zählen, dass seine Psyche in Elternhaus, Kindergarten und Schule durch Bindung und Beziehung entwickelt und es so fit fürs Leben gemacht wurde. Die Erwachsenen erschlossen ihm intuitiv den Zugang zu gedanklichem Reichtum und geistiger oder handwerklicher Kreativität. Heute dagegen sieht es für die meisten Kinder ganz anders aus. Sie müssen viel Glück mit ihren Eltern, Erziehern und Lehrern haben, damit sie zu selbstständigen Erwachsenen werden, die gut mit sich selbst und anderen Menschen zurechtkommen und zum Erfolg der Gesellschaft beitragen. Diejenigen, die dieses Glück nicht haben, finden sich auf einem ganz anderen Gleis wieder:

  1. Sie werden sich selbst überlassen und sind auf sich allein gestellt.
  2. Sobald sie als Jugendliche Elternhaus und Schule verlassen, zeigt sich, dass sie nicht in der Lage sind, sich in der Welt zurechtzufinden.

Diese beiden Feststellungen will ich in diesem Kapitel ausleuchten. Zuerst zum ersten Punkt. Wenn ein Kind – wie in modernen Bildungskonzepten gewünscht – autonom lernen soll, werden Bindung und Beziehung zu Erziehern und Lehrern aktiv unterbunden. Gerade in Kindergarten und Grundschule sind Kinder jedoch sehr stark an Erwachsenen orientiert. Ohne Gegenüber haben sie weder Halt, noch Orientierung, noch Sicherheit. Der große Irrtum der Erwachsenen, die Kinder als kleine Erwachsene sehen, die ihre Hilfe nicht benötigen, überfordert das Kind und führt zu abstrusen Situationen. Eine Begebenheit, von der mir eine Mutter berichtete, soll hier als Beispiel dafür dienen, welche völlig überzogenen Erwartungen schon an die Kleinsten gestellt werden:

In einer Kita geht ein zwei Jahre und drei Monate alter Junge bei Regenwetter in den Garten. Als die Mutter ihn nachmittags abholt, sind seine Schuhe zum Auswringen nass. Auf ihre Frage an die Kita-Leiterin, warum denn niemand darauf geachtet hat, dass ihr Sohn die Gummistiefel anzieht, bekommt sie die Antwort: »Er hat es selbst so entschieden.«

Genau das, was das Kind von Natur aus braucht, nämlich liebevolle Zuwendung und Schutz, bekommt es heute vielerorts nicht. Es wird in seiner Bedürftigkeit nicht gesehen, emotional vernachlässigt und ist auf sich allein gestellt. Ich weiß, für all jene engagierten Lehrer und Erzieher, denen in ihrer Ausbildung fälschlich beigebracht wurde, dass Kinder sich von ganz allein genau das holen, was sie brauchen, ist diese Aussage ein Tiefschlag. Ihre Schüler emotional zu vernachlässigen ist das Letzte, was sie im Sinn haben. Und doch muss ich als Kinderpsychiater sagen: Der Rückzug der Lehrer aus der Beziehung zum Kind, so wie er heute vor allem in der Grundschule stattfindet, gibt den Kindern keine Chance auf eine Entwicklung in ihrer emotionalen und sozialen Psyche oder auch Intelligenz. […]

Wenn nicht umgehend wieder die Beziehung zwischen Lehrer und Schüler in den Mittelpunkt des Unterrichts gesetzt wird, dürfen wir uns darauf einstellen, dass Schulen, an denen Lehrer sich nicht mehr durchsetzen können und sogar Angst vor den Schülern haben müssen, vollends zur Normalität werden. Die Sicht, dass Schüler in vieler Weise auf sich gestellt sein sollen und der Lehrer nur noch begleitet, verbunden mit der Ignoranz, die hohe Anzahl an problematischen nicht schulreifen Kindern berücksichtigen zu wollen, und die damit verbundene Gewalt an den Schulen sind die Ernte, die die Schulpolitik der letzten zwanzig Jahre gesät hat. Natürlich stehen auch die Eltern in der Pflicht. Doch gerade dann, wenn Eltern ihren Kindern kein orientierendes Gegenüber mehr sind, dürfen die betroffenen Kinder nicht allein gelassen werden. Wenn immer weniger Kinder in den Familien eine kindgerechte Förderung erfahren, müssen die Schulen dringend die Pflichten der Eltern mit übernehmen. Aber das tun sie nicht. Ganz im Gegenteil. Indem auch sie die Kinder alleinlassen, nehmen sie ihnen ihre letzte Chance auf eine Entwicklung.

Das Buch:

Bildung in Deutschland: eine Katastrophe. Kinder und Gesellschaft nehmen Schaden! In seinem neuen Buch redet Bestsellerautor Michael Winterhoff Klartext, zeigt anhand vieler Beispiele aus seiner langjährigen Praxis als Kinder- und Jugendpsychiater, aber auch aus zahlreichen Rückmeldungen zu seinen Büchern und Vorträgen, was heute in Kitas und Schulen falsch läuft – so falsch, dass in seinen Augen die Zukunft unserer Gesellschaft gefährdet ist. Leidtragende sind für ihn die Kinder, die man quasi sich selbst überlässt. Winterhoff verharrt nicht bei der Bestandsaufnahme und Analyse, er zeigt konkrete Lösungen und Maßnahmen auf und fordert unter anderen eine groß angelegte Bildungsoffensive: Weg von Kompetenzorientierung und den unfreiwillig zu Lernbegleitern degradierten Lehrern, hin zu echter Bildung und Pädagogen, die den Kindern wieder ein Gegenüber sein dürfen. Denn nur die Orientierung an Bezugspersonen ermöglicht die Entwicklung von emotionaler und sozialer Psyche.

Michael Winterhoff: Deutschland verdummt. Wie das Bildungssystem die Zukunft unserer Kinder verbaut, 20,00 Euro (empfohlener VK-Preis)
ISBN: 978-3-579-01468-5

Der Autor:

Dr. Michael Winterhoff, geboren 1955, Dr. med., ist Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie Psychotherapie in Bonn. In seinen bisherigen sehr erfolgreichen Büchern analysiert er gesellschaftliche Entwicklungen mit Schwerpunkt auf den gravierenden Folgen veränderter Eltern-Kind- Beziehungen für die psychische Reifeentwicklung junger Menschen und bietet Wege aus diesen Beziehungsstörungen an. Winterhoff lebt und arbeitet in Bonn.

Über sein neues Buch und über die Situation des Bildungswesens in Deutschland spricht Winterhoff als Referent beim Mülheimer Kongress am 27./28.11.2019.

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