In Hagen sollen im Gebäude einer ehemaligen und inzwischen geschlossenen Förderschule rund 110 Flüchtlingskinder separiert werden. Sie sollen dort auf einen späteren Wechsel in eine Regelschule vorbereitet werden. Vorbild für das Hagener Projekt ist ein ähnliches Modell in Mülheim, das bereits vor einem Jahr gestartet ist und nun – obwohl offiziell nur als Übergangslösung gedacht – schon ins zweite Jahr geht. Hier stellen sich grundlegende Fragen zur schulischen Integration.
Mit Zustimmung der Bezirksregierung Arnsberg und des Stadtrats wurde in dem leerstehenden Schulgebäude zu Beginn des Schuljahres 2017/18 eine Schule gegründet, in der ausschließlich Flüchtlingskinder unterrichtet werden – größtenteils Sinti und Roma.
Die Stadt Hagen argumentiert, dass sie keinen weiteren Schulraum mehr zur Verfügung hat und deshalb diesen Weg gehen musste. Im Rahmen dieser Maßnahme sollen diese Schülerinnen und Schüler zunächst sehr konzentriert Deutschkenntnisse erwerben, um dann ‘gestärkt’ in das deutsche Schulsystem integriert werden zu können. Zudem führt die Stadt an, dass diese Zeit zur Diagnose der Fähigkeiten und Fertigkeiten der Schülerinnen und Schüler dient, um sie im Anschluss zielgerichteter einer passenden Schulform zuteilen zu können.
Diese ‘Flüchtlings-Schule’ soll nach Angaben der Stadt mit ausreichend Personal ausgestattet werden, vornehmlich über Versetzungen von Lehrkräften, die auch über spezielle Kenntnisse im Bereich Deutsch als Fremdsprache verfügen. Ähnliche Modelle der völligen Separierung von Flüchtlingskindern werden in Mülheim bereits praktiziert und sind in Duisburg mit Schuljahresbeginn angelaufen.
Im Widerspruch zu pädagogischen Standards
lehrer nrw ist der Ansicht, dass diese Form der Integration nicht den aktuellen pädagogischen Standards und Ansprüchen entspricht. Erstaunlich ist überdies, dass eine solche Maßnahme mit der expliziten Zustimmung der zuständigen Bezirksregierung als Mittelbehörde ergriffen wird.
An dieser Stelle sei an die Diskussion im letzten Jahr erinnert, als eine Empfehlung aus dem nordrhein-westfälischen Schulministerium zum Unterricht in Klassen mit Flüchtlingskindern für Turbulenzen gesorgt hat. Der Hauptkritikpunkt war vornehmlich die mangelnde Klarheit des ministeriellen Schreibens, wie mit ‘Internationalen Klassen’ weiter zu verfahren sei. Aber sehr deutlich war die Botschaft des damals noch grün geführten Ministeriums, dass eine direkte, vollständige Integration der Flüchtlingskinder in die allgemeinbildenden Klassen anzustreben ist. Und nun geht man in Hagen den Weg in die entgegengesetzte Richtung mit Zustimmung der zuständigen Bezirksregierung und des Stadtrates?
Wenn die Stadt Hagen argumentiert, dass die Integration von über einhundert weiteren Kindern in den Grund- und Sekundarstufenbereich eine Aufgabe ist, die nur mit Notlösungen zu bewältigen sei und deshalb auch neue Wege gegangen werden müssten, so darf diese Prämisse genauer betrachtet werden.
Die Internetseite hagener-schulen.de weist für die Stadt 34 Grundschulen, 25 Schulen mit Sekundarstufe I, vierzehn Schulen auch mit Sekundarstufe II und neun Förderschulen aus. Eine Verteilung der genannten über einhundert Schülerinnen und Schüler relativiert den genannten Handlungsdruck erheblich.
Flexible Herangehensweise
lehrer nrw vertritt unverändert den Standpunkt, dass die Integration der Flüchtlingskinder an allgemeinbildenden Schulen in flexiblen Systemen erfolgen muss, um den Bedarfen der unterschiedlichen Schülerinnen und Schüler gerecht werden zu können. Das bedeutet, dass Schulen im Bedarfsfall dann Internationale Klassen bilden, wenn es die Sprachfähigkeit der Schülerinnen und Schüler nahelegt. Dies kann im Bedarfsfall über die Gründung reiner Sprachfördergruppen hinausgehen. Es kann eine temporäre Klassenbildung erforderlich und sinnvoll machen, die als erste schulische Heimat auf dem Weg in die Integration in das allgemeinbildende Schulsystem verstanden wird.
Das kann an unterschiedlichen Schulstandorten ganz unterschiedlich organisiert werden, immer mit dem Ziel, die bestmögliche Integration für die Flüchtlingskinder und die aufnehmenden Klassen gleichermaßen zu gewährleisten. Kinder brauchen beim Spracherwerb die ‘Sprachdusche’ in der Pause bzw. die gemeinsame Pausenzeit und damit die schrittweise Integration in die jeweilige Schulgemeinschaft vor Ort, unterrichtlich und außerunterrichtlich. Vor diesem Hintergrund ist es wichtig und schlüssig, die Flüchtlingskinder an bereits bestehenden Schulstandorten des allgemeinbildenden Schulsystems von Beginn an zu integrieren.
Flexible Herangehensweise
Der ganz wesentliche Unterschied zum Hagener Verfahren ist, dass diese Internationalen Klassen durch eine räumliche und schulsystemische Nähe diese oben dargestellte Variabilität im Integrationsprozess erst ermöglichen und zugleich einen ‘Schonraum’ anbieten, der eine erste Anlaufstelle im Prozess darstellt.
Die Gründung von räumlich isolierten Schulstandorten, an denen ausschließlich Flüchtlingskinder unterrichtet werden, ist abzulehnen. Insbesondere wenn vornehmlich eine ethnische, soziale, religiöse und/oder kulturelle Gruppe an diesem Standort unterrichtet wird. Schulstandorte, die so konzipiert sind, stehen gegen das Integrationsverständnis von lehrer nrw und schaffen kaum lösbare Herausforderungen für die dort eingesetzten Lehrkräfte.
Die Schulministerin ist gefordert
Es bleibt also abzuwarten, ob und wie sich die neue Schulministerin Yvonne Gebauer zum Vorgehen in Hagen äußern wird. Es ist eine gute Chance, eine erste Positionierung in dieser wichtigen Frage der Integration vorzunehmen. Gleichwohl darf nicht vergessen werden, dass ganz offensichtlich auch unter der vorherigen Landesregierung mit Ministerin Sylvia Löhrmann in nordrhein-westfälischen Städten sehr ähnliche Schulen gegründet und ggf. ‘geduldet’ wurden. Es bleibt zu wünschen, dass Politik und Kommunen in dieser wichtigen Frage einem schlüssigen, eindeutigen Gesamtkonzept mit klaren Paradigmen folgen und nicht nach dem Grundsatz ‘Not kennt kein Gebot’ verfahren. Das wäre nicht im Sinne der Schülerinnen und Schüler und der Kolleginnen und Kollegen.
Frank Görgens
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»Ein ganz eklatanter Fehler«
Der renommierte Bildungsforscher Prof. Dr. Klaus Hurrelmann (Hertie School of Governance, Berlin) kritisiert im Interview mit lehrer nrw die in Hagen und Mülheim praktizierte Isolation von Flüchtlingskindern. Dies gefährde den Integrationsprozess.
lehrer nrw: Wie ist das Hagener Modell aus lern- bzw. erziehungswissenschaftlicher Perspektive zu bewerten?
Prof. Hurrelmann: Wir wissen, dass sehr viele Flüchtlingskinder Sprachprobleme haben. Sie sind nicht in der deutschen Sprache groß geworden. Sie müssen Deutsch lernen. Wir müssen also dafür sorgen, dass sie in eine Lernsituation kommen, in der das möglich ist. Deswegen haben viele Schulen den pragmatischen Schritt gemacht, Willkommensklassen einzurichten, mit dem Schwerpunkt des sprachlichen Lernens und der kulturellen Integration. Die Flüchtlingskinder sind dort in einer neuen Umgebung, aber an einem Ort, an dem sich die anderen Kinder ebenfalls aufhalten. Sie sind für eine vorübergehende Zeit in einer getrennten Lernsituation. Das ist ein ideales Modell.
Wie sehr erschweren Ansätze wie in Hagen oder Mülheim die Integration?
Die in Hagen und Mülheim praktizierten Modelle verletzen das gerade angesprochene Prinzip. Denn sie machen von Anfang an deutlich, dass sich die Flüchtlingskinder nicht in dem sozialen Rahmen aufhalten, in dem sich die anderen Kinder bewegen. Sie werden nicht nur in eine gesonderte Klasse, sondern an einen gesonderten Ort gesteckt. Das halte ich für einen ganz eklatanten Fehler. Selbst wenn es gelingen sollte, dass das nur für eine Übergangszeit praktiziert wird – was organisatorisch nicht ganz einfach sein dürfte: Die Flüchtlingskinder können nicht von den einheimischen Kindern auf dem Pausenhof lernen, sie können nicht einfach mal Kontakt aufnehmen. Sie sind in einer völlig isolierten schulischen Konstellation. Dies widerspricht der Idee der Integration, und es widerspricht unseren Erfahrungen, die wir in den letzten zwei Jahren gesammelt haben. Hagen und Mülheim sind hier auf dem Holzweg.
Die Kommunen können mit solchen Modellen vielleicht kurzfristig Geld sparen und Raumnöte lindern. Aber wie sind die langfristigen Folgen und Kosten einer möglicherweise verfehlten Integration?
Ich glaube, die Rechnung geht nicht auf. Langfristig müssen wir befürchten, dass der Integrationsprozess aufgehalten wird, vielleicht sogar misslingt. Und das zieht nicht nur soziale, sondern auch finanzielle Kosten nach sich. Es ist eine trügerische Rechnung, die die beiden Städte da aufmachen. Sie wären viel, viel besser beraten, wenn sie trotz Raumnot die flexible Lösung einschlagen und durchhalten, die wir an vielen Orten im Bundesgebiet mit erstaunlichem Erfolg und im Konsens praktizieren. Es wäre bei allen Bemühungen um schulische Integration übrigens hilfreich, nicht nur die Kinder, sondern auch ihre Familien einzubeziehen.
In Nordrhein-Westfalen läuft die schulische Integration bisher nach dem Laissez-faire-Prinzip. Es gibt von politischer Seite keinen verbindlichen Leitlinien, keinen verpflichtenden Rahmen. Schulen und Kommunen sind auf sich allein gestellt. Was wäre Ihre Empfehlung an die Politik?
Es war klug, den dezentralen Weg zu gehen und die einzelne Kommune, die einzelne Schule Konzepte entwickeln und erproben zu lassen. Jetzt, nach zwei Jahren, wissen wir, welche Lösungen funktionieren. Deshalb wäre es jetzt der richtige Schritt, vom dezentralen Laissez-faire, also vom Experimentierstadium, abzurücken und auf landespolitischer Ebene Leitlinien zu formulieren und den Kommunen an die Hand zu geben.
Das Interview führte Jochen Smets
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