Die Fraktionen der CDU und der FDP haben am 13. Juni einen Antrag im Landtag durchgesetzt, der die Situation der Realschulen mit Hauptschulbildungsgang verbessern soll: Ein solcher Bildungsgang soll künftig bereits ab Klasse 5 eingerichtet werden können und die Begrenzung des Unterrichts in äußerer Differenzierung auf maximal ein Drittel der Stundentafel entfallen. lehrer nrw begrüßt die Initiative der Regierungsparteien ausdrücklich.
In den kommenden Jahren wird aufgrund zu geringer Anmeldezahlen eine große Zahl der nordrhein-westfälischen Hauptschulen auslaufen. Der Hauptschulbildungsgang bleibt jedoch ein wichtiges Rückgrat des dualen Ausbildungssystems Nordrhein-Westfalens. Grundsätzlich sollen deshalb diejenigen Schulformangebote, die den Hauptschulbildungsgang anbieten, Kindern mit einer Hauptschulempfehlung auch eine Aufnahme ermöglichen. Eine weitere Möglichkeit stellt darüber hinaus gegenwärtig ein ergänzender Bildungsgang an Realschulen dar, der zu den Abschlüssen der Hauptschule führt. Dieser ist bereits im Schulgesetz verankert: In §132c SchulG heißt es, dass die Schülerinnen und Schüler in diesem Bildungsgang im Klassenverband unterrichtet werden und in diesen Hauptschulzweigen ab Klasse 7 Formen innerer und äußerer Differenzierung möglich sind. Aktuell bieten zehn Realschulen in Nordrhein-Westfalen einen solchen Bildungsgang an, zum 1. August 2018 werden mindestens drei weitere hinzukommen.
Schulen des längeren gemeinsamen Lernens unter Realschulbedingungen
Die Ausbildungs- und Prüfungsordnung für die Sekundarstufe I hat die Möglichkeiten äußerer Differenzierung unter der rot-grünen Vorgängerregierung aus ideologischen Gründen stark eingeschränkt. Sie schreibt vor, dass die äußere Differenzierung des Bildungsganges nur bis zu maximal einem Drittel der Stundentafel zulässig ist. Diese Ausgestaltung der APO-S I beschneidet damit die Gestaltungsmöglichkeiten der Schulen sowie der individuell optimalen Förderung jeder einzelnen Schülerin und jedes einzelnen Schülers. An Unverfrorenheit kaum zu überbieten war, dass Sylvia Löhrmann den §132c-Schulen lediglich eine systemische zusätzliche Ressource von einer halben Lehrerstelle zur Umsetzung der äußeren Differenzierung zur Verfügung gestellt hat. lehrer nrw hat deshalb in den vergangenen Jahren jede Möglichkeit genutzt, öffentlich zu kritisieren, dass Rot-Grün die §132c-Schulen zu Schulen des längeren gemeinsamen Lernens degradiert hat, die unter Realschulbedingungen arbeiten müssen. Auch der Hauptpersonalrat Realschulen hat die schwierige Situation dieser Schulen in jeder Gemeinschaftlichen Besprechung mit Schulministerin Yvonne Gebauer an zahlreichen Beispielen dargestellt und zuletzt zumindest erreicht, dass die im Haushalt hinterlegten 25 Stellen für §132c-Schulen vollumfänglich ausgeschüttet werden. Das bedeutet, dass diesen Schulen im nächsten Schuljahr durchschnittlich eineinhalb Lehrerstellen als zusätzliche Ressource zur Verfügung stehen werden.
Mehr freie Gestaltungsmöglichkeiten
Neben der Problematik, wie den Schulen kurzfristig geholfen werden kann, stellt sich aber vor allem die Frage, welche strukturellen Veränderungen vorgenommen werden müssen, um den Hauptschulbildungsgang an Realschulen zu einem tragfähigen Konstrukt zu machen. Aus Sicht von lehrer nrw greift der Antrag der Fraktionen der CDU und der FDP vom 5. Juni 2018 (Drucksache 17/2748 ’Eltern, Lehrkräften und Schulträgern Planungssicherheit geben – äußere Differenzierung an Realschulen gestalten und einen Hauptschulbildungsgang ab Klasse 5 ermöglichen’) zwei entscheidende Schwachstellen auf:
- Die Realschulen brauchen mehr freie Gestaltungsmöglichkeiten, um selbst über Art und Umfang der inneren und äußeren Differenzierung entscheiden zu können – und die damit verbundenen personellen Ressourcen.
- Um den Schulträgern mehr Gestaltungsmöglichkeiten zu eröffnen, muss den Realschulen zukünftig die Möglichkeit eröffnet werden, den Hauptschulbildungsgang bereits ab der 5. Klasse anbieten zu können.
Chance auf einen Neustart
Fazit: Einst drohte der §132c Schulgesetz zum Sargnagel für die Realschule in Nordrhein-Westfalen zu werden. Die im Antrag der Regierungsparteien angelegten strukturellen Verbesserungen eröffnen die Chance auf einen Neustart. Den hätten sich die Lehrkräfte und die Kinder an diesen Schulen redlich verdient!
Der Landtagsbeschluss im Wortlaut
Die Landesregierung wird beauftragt,
- die Möglichkeit eines Hauptschulbildungsganges an Realschulen dort dauerhaft zu sichern, wo es für die Aufrechterhaltung eines leistungsfähigen Hauptschulangebots erforderlich ist.
- die Beschränkung der äußeren Differenzierung auf bis zu einem Drittel in §47 Abs. 2 APO-SI aufzuheben.
- alle Möglichkeiten zu nutzen, um die für eine qualitative Ausgestaltung des Hauptschulbildungsganges an Realschulen auch in äußerer Differenzierung notwendigen personellen Ressourcen zur Verfügung zu stellen.
- im Zuge einer Änderung des Schulgesetzes einen solchen Bildungsgang an Realschulen bereits ab Klasse 5 zu ermöglichen.
Sven Christoffer
Zur Originalausgabe (PDF-Datei)
Herausforderung angenommen
Die Realschule Baesweiler ist eine von bislang zehn Realschulen in Nordrhein-Westfalen, die einen Hauptschulzweig nach Paragraf 132c des Schulgesetzes eingerichtet haben. Über die bisherigen Erfahrungen und die Zukunftsperspektiven sprach lehrer nrw mit Schulleiter Jan Braun.
Die Realschule Baesweiler hat 2016 einen Hauptschulzweig eingerichtet. Wie haben Sie das organisatorisch gelöst?
Braun: Wir haben uns außer im Fach Arbeitslehre gegen die im Rahmen des §132c vorgesehene Möglichkeit der äußeren Differenzierung entschieden. Diese ist organisatorisch, vor allem auf Grund bisher fehlender personeller Ressourcen, nicht umsetzbar und löst aus unserer Sicht das Problem der unterschiedlichen Lernniveaus nur bedingt, weil sie ja nur für Mathematik und Englisch vorgesehen ist, die Unterschiede in Leistungsfähigkeit und Lehrplänen betreffen aber auch das ’Hauptfach’ Deutsch und alle ’Nebenfächer’. Abgesehen davon war es uns wichtiger, das jahrelang pädagogisch bewährte Prinzip kontinuierlicher, vertrauensvoller Lehrer-Schüler-Beziehungen durch sechsjährige Klassenleitungen nicht durch ein Kurssystem, das den Kontakt zwischen Schülern und ihren Klassenlehrern stark reduziert, zu gefährden.
Wie ist die Akzeptanz bei Eltern und Lehrern?
Braun: Die Akzeptanz der Eltern, deren Kinder nach der Erprobungsstufe in den Hauptschulbildungsgang wechseln, ist gut. Sie sind froh, dass ihre Kinder die Schule nicht verlassen müssen. Die Eltern der übrigen Kinder befürchten, dass das Anforderungsniveau insgesamt sinken könnte und fordern Haupt- und Realschulklassen.
Wir Lehrer sind uns der Verantwortung für die Baesweiler Kinder bewusst und haben die Herausforderung §132c deshalb sehr engagiert angenommen. Wir haben aber schon sehr schnell gemerkt, dass die Umsetzung des §132c uns in seiner ursprünglichen Form vor große Probleme stellt. Das größte Problem ist sicher, dass wir eine große Anzahl von Schülern mit Hauptschulempfehlung in der Erprobungsstufe auf Realschulniveau unterrichten müssen und dies verständlicherweise zu großen Frustrationserlebnissen bei Eltern, Schülern und Lehrern führt.
Der §132c des NRW-Schulgesetzes lässt in seiner bisherigen Form kaum Spielräume für äußere Differenzierung. Stattdessen muss überwiegend binnendifferenziert unterrichtet werden. Wie funktioniert das in der Praxis?
Braun: Da es schwierig ist, gleichzeitig mit unterschiedlichen Lehrwerken zu arbeiten, haben wir zu Beginn des Schuljahres für den Jahrgang 7 differenzierende Lehrwerke angeschafft. Diese haben sich in der täglichen Arbeit teilweise bewährt, und dementsprechend ist die Anschaffung für den zukünftigen Jahrgang 8 vorgesehen. In der Vorbereitung und Durchführung unserer kollegialen Hospitationen haben wir uns zudem intensiv über binnendifferenzierten Unterricht ausgetauscht und einiges gemeinsam erprobt.
Letztlich ist es ein großes Problem, dass die Klassen nach zwei Lehrplänen unterrichtet werden müssen. Das führt dazu, dass auch Klassenarbeiten auf unterschiedlichen Niveaustufen gestellt werden müssen. Thematische Abweichungen erschweren die Binnendifferenzierung ungemein. Hinzu kommt, dass wir nicht nur zwischen Realschul- und Hauptschulniveau differenzieren müssen, sondern außerdem eine große Zahl von Schülern mit Förderbedarf Lernen oder ohne deutsche Sprachkenntnisse unterrichten.
Die Landesregierung plant eine Änderung des §132c, der den betroffenen Realschulen mehr Flexibilität und mehr Möglichkeiten auch zur äußeren Differenzierung eröffnen soll. Wie beurteilen Sie diese Pläne?
Braun: Das Kollegium der Realschule Baesweiler hat den Hauptpersonalrat und den Schulträger gebeten, sich bei der Ministerin dafür einzusetzen, dass der §132c dahingehend modifiziert wird, dass es getrennte Klassen für Haupt- und Realschüler geben kann und dies schon ab Klasse 5. Wir sind dementsprechend hoch erfreut über die geplanten Änderungen und hoffen, mehr freie Gestaltungsmöglichkeiten zu haben, um auf unterschiedliche Konstellationen pädagogisch reagieren zu können. Wünschenswert ist es, schon bald alle nötigen Bestimmungen zur konkreten Umsetzung zu bekommen.
Interview: Jochen Smets
Info:
Die Realschule Baesweiler im Steckbrief
Zahl der Schüler: 756
- davon Hauptschüler bzw. mit Hauptschulempfehlung: 151
- davon Realschüler bzw. mit Realschulempfehlung: 443
Zahl der Lehrkräfte: 54, Zahl der Klassen: 28
Zur Originalausgabe (PDF-Datei)