Bundesweit steigt die Zahl der beruflichen Quereinsteiger an Schulen. Besonders viele gibt es in Berlin. Die Voraussetzungen: Ein Studienabschluss und ein einwöchiger Crashkurs.

Wie viel Zeit braucht man, um Menschen auf den Job als Lehrer vorzubereiten? Wenn die Not groß ist, wie in Berlin, muss dafür eine Woche reichen. Am kommenden Montag [20. August; d. Red.] beginnt das neue Schuljahr. An diesem Mittwoch bereiten sich Dutzende angehende Lehrer in einem überhitzten Seminarraum eines Hochhauses im Bezirk Mitte auf ihren neuen Job an Berliner Schulen vor.

Es ist die letzte Doppelstunde eines siebentägigen Intensivkurses, den die Berliner Senatsverwaltung für Bildung entwickelt hat, um Quereinsteigern die pädagogischen Grundlagen des Lehrerberufs zu vermitteln. Die Anwesenden ahnen: Diese letzte Unterrichtseinheit mit dem Titel ’Fettnäpfchenradar’ könnte die bisher wichtigste sein.

Steak im Löwenzwinger

Sie erinnert ein bisschen an die Tücken und Widrigkeiten, mit denen die Darsteller in der Büro-TV-Satire ’Stromberg’ zu kämpfen haben. »Benutzen Sie nie die Kaffeetasse des neuen Lehrerkollegen«, warnt Pädagogikreferent Henry John. »Tragen Sie am ersten Arbeitstag keine T-Shirts mit auffälligen Beschriftungen. Versuchen Sie stattdessen, sich unauffällig zu kleiden.« Das Lehrerzimmer, warnt John, sei die eigentliche Herausforderung für die Neuen. Größer noch als verhaltensauffällige Schüler. »Bringen Sie an Ihrem ersten Tag einen Kuchen mit.« Ihn ins Lehrerzimmer zu stellen, sei wie ein Steak in einen Löwenzwinger zu werfen. Man könne nichts falsch machen.

Bereits seit 2014 qualifiziert Berlin Quereinsteiger für Schulen. Grundlage dafür ist ein Beschluss der Kultusministerkonferenz (KMK) aus dem Jahr 2013 über die ’Gestaltung von Sondermaßnahmen zur Gewinnung von Lehrkräften’. Der Quereinstieg ins Lehramt wird darin als letztes Mittel genannt, um akuten Lehrermangel temporär auszugleichen. Doch in Wahrheit ist es längst ein bundesweites Phänomen. Neben Berlin wächst auch in Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Sachsen die Zahl der Seiteneinsteiger kontinuierlich. Während in Berlin 2014 noch 48 qualifizierte Quereinsteiger den Dienst angetreten haben, waren es zum Ende des vorigen Schuljahres schon 380. Nun werden es laut Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) 750 qualifizierte Quereinsteiger sein.

Attraktive Bedingungen in Berlin

Dass sich immer mehr Berliner für den Berufswechsel interessieren, liegt an attraktiven Bedingungen. Unmittelbar nach dem Senatscrashkurs unterrichten die Neuen als vollwertige Lehrer, zudem studieren sie nebenher kostenfrei ein zweites Fach – für den Lehrerberuf in der Hauptstadt ist das zwingend Voraussetzung. Von den 28 gesetzlichen Unterrichtstunden werden zehn für das Studium und achtzehn für den Unterricht aufgewendet. Anja Herpell von der Senatsverwaltung für Bildung sagt: »Eigentlich finanzieren wir den Quereinsteigern die Studien.« Die Quereinsteiger werden unbefristet eingestellt und rutschen nach zwei Jahren automatisch ins Referendariat – sofern sie den Anforderungen gerecht werden. Anschließend erfolgt die Staatsprüfung. Danach sind sie regulär ausgebildeten Lehrern tariflich gleichgestellt. In Berlin werden ausgebildete Grundschullehrer nach Tarif E13 bezahlt. Das entspricht 5.299 Euro brutto im Monat. Für Quereinsteiger eine attraktive Perspektive. Natürlich müssen die Kandidaten Voraussetzungen bieten: Sie müssen mindestens einen Master-, Magister- oder Diplomabschluss in einem einschlägigen Fach erworben haben. Ein Bachelor reicht also nicht.

Diese Perspektive hat auch Alexander Heinrich gelockt. Der 34-jährige Architekt ist einer von vierhundert Teilnehmern, die den siebentägigen Vorbereitungskurs absolviert haben. Am Montag wird er zum ersten Mal in seinem Leben vor einer Berliner Schulklasse stehen. Heinrich wirkt zufrieden. »Mein Leben wird durch den neuen Job viel planbarer, strukturierter«, sagt er. Er habe bereits während seiner Studienzeit Seminare geleitet und Erfahrungen in Sachen Unterricht.

Vom Architekten zum Lehrer

Lange hat Heinrich als Architekt gearbeitet, zuletzt in einem Büro auf der Großbaustelle des geplanten Berliner Flughafens BER. »Seit sechs Jahren verbringe ich meine Tage hauptsächlich vor dem Rechner, habe gleichzeitig viel Verantwortung und Druck«, erzählt er. Der Job sei mit Zehn-Stunden-Tagen verbunden gewesen, seine beiden Kinder habe er selten zu Gesicht bekommen. »In Zukunft werde ich meine Kinder selbst von der Kita abholen können – für mich beginnt ein völlig neues Leben«, sagt Heinrich.

Die verbesserte familiäre Situation ist der wichtigste Grund für seinen Jobwechsel. Obendrein muss Heinrich im Grunde keine Gehaltseinbuße hinnehmen. In den ersten zwei Jahren als Quereinsteiger verdient er rund 1.900 Euro netto im Monat, als Architekt waren es zuletzt 2.000 Euro. Nun kommen 72 Tage Urlaub und der Dienstschluss um 15:15 Uhr dazu. »Besser geht es nicht«, meint Heinrich und lacht. Künftig wird er an einer Berufsschule im Bezirk Lichtenberg Bautechnik und Technisches Zeichnen unterrichten.

Dort hatte er sich wegen seiner beruflichen Kenntnisse gezielt beworben; nach Stellenzusage und Prüfung durch den Senat wurde er in den Crashkurs gelotst. Zusätzlich zur Lehrtätigkeit studiert Heinrich nun Mathematik nebenher – so wie es der Senatsplan für die Quereinsteiger vorsieht. »An den guten Rahmenbedingungen erkennt man, wie groß die Not in Berlin ist«, sagt Heinrich. »Wie oft bekommt man im Leben schon mal die Chance für einen kompletten Neustart?«

Herz-OP durch Rettungssanitäter?

Geht es nach dem Bildungsforscher Jörg Ramseger von der Freien Universität Berlin, dürfte es dieses Angebot aber gar nicht geben. Wenn Quereinsteiger ohne Ausbildung Kindern Schriftsprache beibringen sollten, sei in etwa so, als würde ein Rettungssanitäter plötzlich eine Herzoperation machen, kritisierte er im ’Tagesspiegel’. Das Unterrichten in einer Grundschule sei jedoch eine hoch qualifizierte Tätigkeit, die eine »spezifische Ausbildung« voraussetze. Mit Crashkursen sei es jedenfalls nicht getan.

Auch die GEW moniert den Trend zu immer weniger herkömmlich ausgebildeten Lehrern in der Hauptstadt: Nur 37 Prozent der zum neuen Schuljahr eingestellten Kräfte könnten ein abgeschlossenes Lehramtsstudium vorweisen. Der Gewerkschaft zufolge sind nun 2.700 Lehrkräfte für die Berliner Schulen eingestellt worden. Darunter seien allerdings nur »1.000 Laufbahnbewerber«, denen 750 Quereinsteiger gegenüberstünden. Weitere 900 Personen seien sogenannte Lehrkräfte ohne volle Lehrbefähigung, von denen die meisten nur befristete Verträge erhielten.

Lehrermangel spitzt sich bundesweit zu

Doch so schnell wird sich an der prekären Situation nichts ändern. Nach einer Untersuchung der Bertelsmann-Stiftung aus dem Januar spitzt sich der Lehrermangel bundesweit vor allem an Grundschulen weiter zu: Demnach fehlen bis 2025 rund 35.000 Lehrer. Eigentlich müssten bis dahin 105.000 eingestellt werden, die Universitäten könnten aber nur 70.000 ausbilden. Erst nach 2025 entspanne sich die Lage wegen des demografischen Wandels. Eine der Lösungen gegen den Lehrermangel ist laut Studie durchaus die Einstellung qualifizierter Seiteneinsteiger. Flexible Zugangswege zum Lehrerberuf und pädagogische Qualität dürften dabei nicht im Widerspruch stehen.

Philip Kuhn
Quelle: DIE WELT vom 16. August 2018

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Der Lehrermarkt in Nordrhein-Westfalen

Die Lage auf dem Lehrermarkt in Nordrhein-Westfalen ist angespannt bis dramatisch. »Jede Lehrkraft zählt«, gab Schulministerin Yvonne Gebauer bei ihrer Pressekonferenz zum Schuljahresauftakt als Parole aus.

Von 9.623 offenen Stellen konnten nur 5.929 besetzt werden. Die Lehrer-Lücke liegt also aktuell bei 3.694 unbesetzten Stellen. Das entspricht einer Besetzungsquote von 61,6 Prozent. Oder anders ausgedrückt: Von zehn Stellen bleiben vier verwaist.

In der Sekundarstufe I tun sich vor allem in den MINT-Fächern Mathematik, Informatik, Physik und Technik, bei den Fremdsprachen (insbesondere Englisch und Französisch), aber auch im musischen Bereich mit den Fächern Kunst und Musik große Lücken auf.
Während Gesamtschulen (67,1 Prozent) und Gymnasien (89,2) deutlich über dem Besetzungsschnitt rangieren, liegen Hauptschulen (57,9), Realschulen (52,7) und Grundschulen (52,9) weit darunter. Perspektivisch gesehen, werden in den nächsten zehn Jahren insbesondere an Grundschulen, Realschulen, Hauptschulen, Sekundarschulen, Berufskollegs und Förderschulen 15.000 Lehrkräfte fehlen.
Demgegenüber rechnet das Schulministerium für Gymnasien und Gesamtschulen (Sekundarstufe II) mit einem Bewerberüberhang von 16.000 Lehrkräften. Rein rechnerisch gibt es in Nordrhein-Westfalen also weniger ein Lehrermangelproblem als ein Lehrerverteilungsproblem.

Die Ministerin will mit verschiedenen Maßnahmen gegensteuern. Dazu zählen die Gewinnung von Oberstufenlehrkräften für den Grundschuldienst und die Sekundarstufe I, bessere Verbeamtungsperspektiven und erweiterte Möglichkeiten für den Seiteneinstieg.

Die Frage der Besoldung umschiffte Gebauer in der Pressekonferenz. Auch mit Blick auf den Wettbewerb mit anderen Bundesländern bleibt lehrer nrw bei seiner Forderung nach einer Eingangsbesoldung nach A13 für alle Lehrkräfte. Angesichts des gravierenden Lehrermangels hält es lehrer nrw für sinnvoll und notwendig, Seiteneinsteiger an die Schulen zu bringen. Sie sollten allerdings langfristig die Ausnahme bleiben und dürfen nicht zur billigen Dauerlösung werden. Klar ist auch, dass es für Seiteneinsteiger hochwertige Qualifizierungsmöglichkeiten geben muss.

Jochen Smets

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