In der Integrationsdebatte wird von Migranten häufig die vollständige und bereitwillige Assimilation an das hiesige Werte-, Kultur- und Gesellschaftssystem verlangt. Das macht Integration aber schwierig, insbesondere für Kinder.

von Prof. Aladin El-Mafaalani

Migranten sind außergewöhnlich risikobereit. Daher sind sie sowohl hochmotiviert als auch zunehmend konservativ. Risikobereit allein schon deshalb, weil sie entschieden haben, ihre Heimat zu verlassen. Das gilt für alle Migranten. Flüchtlinge müssen zudem auch Gefahren während der Migration aufnehmen, Grenzen überqueren, ihre Menschenrechte werden verletzt. Das ist ein Risiko. Sie gehen dieses Risiko nicht ein um zu scheitern. Sie müssen ganz neu anfangen, das wissen sie. Daher sind sie überdurchschnittlich motiviert. Sie gehen dieses Risiko aber nicht ein, weil sie mit sich selbst unzufrieden sind, sondern mit ihren Lebensumständen. Meist sind es ökonomische oder politische Rahmenbedingungen, eine fehlende Perspektive. Mit der Risikobereitschaft geht daher eine andere Eigenschaft einher. Sie werden durch die Migration konservativer. Das sind zwei widersprüchliche Eigenschaften.

 

Das Eigene wird in der Fremde besonders wichtig

Sie verlassen das Land, in dem ihre Sprache gesprochen wird. Sie trennen sich von ihren Freunden und Verwandten. Sie verlieren ihren Status und haben kaum Anerkennung. All das ist enorm problematisch. Das sind wichtige identitätsstiftende Aspekte, die durch die Migration infrage gestellt werden. Das Gefühl einer stabilen Identität ist für Menschen enorm wichtig. Menschen müssen sich selbst wiedererkennen. Sie müssen das Gefühl haben, dieselbe Person zu sein wie gestern, wie letztes Jahr, wie vor zwanzig Jahren. Wenn so viele identitätsstiftende Elemente verloren gehen, dann halten sich Menschen an den Elementen fest, die sie noch haben. Migranten konservieren entsprechend all das, was sie bei sich tragen: Erinnerungen, Traditionen, kulturelle Eigenheiten, die Religion, Nationalbewusstsein. Nach der Migration kann es sein, dass sich Menschen mit der Geschichte des Herkunftslandes beschäftigen, obwohl sie sich vor der Migration dafür nicht interessiert hatten. Vor der Migration hat man in der Türkei oder in Russland keine Nachrichten geschaut; nach der Migration, in Deutschland, schaut man türkische oder russische Nachrichten. Die nationale Identität als Syrer, als Vietnamese oder als Brasilianer wird in Deutschland wichtiger als sie zum Beispiel in Syrien, Vietnam oder Brasilien war. Das Eigene wird in der Fremde besonders wichtig. Was genau konserviert wird, unterscheidet sich natürlich erheblich: Es macht natürlich einen Unterschied, ob die Migranten aus Damaskus, Hanoi oder Sao Paulo kommen oder aber aus dem ländlichen Raum.

 

Kinder leben in zwei Welten

Diesen Konservatismus und Traditionalismus der Migranten sehen wir überall dort, wo es Migration gibt. Das ist nicht nur sehr nachvollziehbar, sondern auch (zumindest) zwischenzeitlich notwendig. Kulturelle Assimilation ist bei den Migranten selbst kaum möglich. Aber was ist nun mit den Kindern? Die Kinder leben in zwei Welten. Zuhause Traditionalismus aus einer anderen Kultur. Und außerhalb der Familie, insbesondere in den Bildungsinstitutionen, eine komplexe, ganz andere Gesellschaft. In beiden ’Welten’ erleben sie verschiedene Formen des ’richtigen’ Lebens, verschiedene Regeln, verschiedene Formen sozialer Beziehungen. Das ist in der Regel kein Problem. Kinder und auch Jugendliche schaffen das spielend. Aber die Kinder sehen sich mit widersprüchlichen Erwartungen aus diesen ’Welten’ konfrontiert. Die Eltern, die hochmotiviert und konservativ sind, übertragen diese Eigenschaften auf ihre Kinder. Sie erwarten von ihren Kindern, dass sie in dem neuen Land erfolgreich sind, und gleichzeitig erwarten sie, dass ihre Kinder loyal bleiben, also so bleiben, wie die Eltern sind. Werde Arzt oder Anwalt, bleib aber im Hinblick auf deine Identität so wie wir. Die Kinder werden von den Eltern geschubst, »werde erfolgreich, wohlhabend, anerkannt«, und sie werden von den Eltern gezogen, »bleib wie wir sind, bleib bei uns, bleib deiner Herkunft treu«.

 

Widersprüchliche Erwartungen

Auf der anderen Seite passiert ähnliches: Es wird etwa gefragt »Wo kommst du her? Erzähl mal, wie ist das bei euch?« –  also: »Du gehörst zu den Anderen«, was interessiert oder ablehnend gemeint sein kann; andererseits wird regelmäßig Anpassung gefordert. Widersprüchliche Erwartungen und Anforderungen. Die Kinder erleben diese Erwartungen in der Regel als Dilemma. »Wenn ich erfolgreich bin, kann ich nicht loyal sein; wenn ich loyal bleibe, kann ich in Deutschland nicht erfolgreich sein.« Das ist eine große Herausforderung, zumindest zwischenzeitlich. Hier muss eine Balance gewahrt werden. Es ist komplex. Ähnliches zeigt sich im Übrigen auch in der kanadischen Forschung. Das Dilemma zu bewältigen, mag im Laufe des Lebens in Kanada leichter fallen, weil die Gesellschaft insgesamt diverser ist. Aber diese Widersprüchlichkeit wurde auch in Kanada bei ganz unterschiedlichen Migrantengruppen gezeigt. Erfolgserwartungen sind gut, sie führen dazu, dass die Kinder fleißig sind. Die starken Loyalitätserwartungen könnte man als Problem wahrnehmen, zumindest als Assimilationshindernis. Kann man den Eltern die Loyalitätserwartungen abgewöhnen?

 

Ein Gedankenexperiment

Machen Sie ein Gedankenexperiment: Stellen Sie sich vor, Sie werden morgen ihre Heimat verlassen, auf Dauer, vielleicht für immer, aber es ist nicht ganz klar, man kann nie genau wissen, ob man sich wohl fühlen wird oder ob man überhaupt dauerhaft bleiben darf. Stellen Sie sich vor, Sie müssen nach Japan – vom Lebensniveau ganz ähnlich wie Deutschland. Dabei ist es egal, ob Sie ihre Heimat verlassen, weil Sie ein gutes Jobangebot dort haben oder weil sie flüchten müssen. Und nun haben Sie zwei Möglichkeiten. Variante 1: Sie wünschen sich, dass Ihre Kinder Japaner werden. Sie sollen ausschließlich oder zumindest hauptsächlich japanisch sprechen. Sie sollen die Traditionen Japans übernehmen, denken wie Japaner, glauben wie Japaner. Ihr Kind wird ein assimilierter Japaner. Variante 2: Sie wünschen sich, dass Ihre Kinder in Japan erfolgreich sind, aber gleichzeitig so viel wie möglich mit ihnen gemeinsam haben. Sie sollen Ihren Glauben (oder Nicht-Glauben) teilen, Ihre Sprache, Ihre Kultur, Ihre Vorstellungen vom guten Leben. Sie haben die Wahl: Variante 1 oder Variante 2?

Fast alle entscheiden sich für Variante 2. Variante 1 ist ein Hinweis für eine psychische Störung – bevor Sie nach Japan auswandern, sollten Sie einen Arzt aufsuchen. Wenn wir nur Migranten nach Deutschland lassen würden, die sich Assimilation wünschen, dann bräuchten wir vorab viel mehr psychiatrische Zentren.

Wir würden uns also alle so verhalten, wie es Migranten tun. Aus der Perspektive der Eltern hat der ganze Stress der Migration nur Sinn gemacht, wenn beide Erwartungen erfüllt werden. Und Kinder wollen ihre Eltern natürlich nicht enttäuschen. Aber sie können beide Erwartungen nicht gleichzeitig vollständig erfüllen. Auf verschiedenen Ebenen kommt es zu Konflikten innerhalb der Migrantenfamlien.

 

Die Balance im Dilemma finden

Die Erfolgreicheren sind weniger loyal, sie müssen einige neue Wege gehen. Die weniger Erfolgreichen können loyaler bleiben. Gerade die Erfolgreichen haben viele Konflikte mit der Familie (und ggf. der ethnischen Community) in Kauf genommen, haben sich in bestimmter Hinsicht angepasst, sind aber gleichzeitig gewissermaßen Hybride. Sie haben in verschiedenen Welten gelebt, in einem Dilemma eine Balance gefunden. Diese Balance kann sehr unterschiedlich aussehen. Sie haben aber Konflikte bewältigt und wollen nun dazugehören. Werden sie nun abgelehnt, dann schmerzt das mehr als bei den Eltern und weniger erfolgreichen.

 

Der Autor:

Aladin El-Mafaalani ist Professor für Politikwissenschaft und politische Soziologie an der Fachhochschule Münster und derzeit Abteilungsleiter im Ministerium für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration in Nordrhein-Westfalen.

 

Literaturempfehlung:

  • El-Mafaalani, Aladin (2018): Das Integrationsparadox. Warum gelungene Integration zu mehr Konflikten führt. Köln: Kiepenheuer & Witsch.
  • El-Mafaalani, Aladin (2017): Sphärendiskrepanz und Erwartungsdilemma. Migrationsspezifische Ambivalenzen sozialer Mobilität. In: Zeitschrift für Pädagogik 6/2017.

Zur Originalausgabe (PDF-Datei)


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