Im Schuljahr 2019/2020 gehen die ersten 35 Talentschulen in Nordrhein-Westfalen an den Start. Mit diesem Schulversuch, der zum Schuljahr 2020/2021 um weitere 25 Talentschulen erweitert wird, will das nordrhein-westfälische Schulministerium Schulen in Stadtteilen mit besonderen sozialen Herausforderungen mit zusätzlichen Ressourcen fördern. Über die Ziele und Hintergründe sprach lehrer nrw mit dem Vorsitzenden der Auswahljury, Prof. Dr. Ewald Terhart.

Nach welchen Kriterien wurden die Talentschulen ausgesucht?

Terhart: Die Kriterien waren bzw. sind in der Ausschreibung umrissen. Es geht um den Aufbau von ’Fördersäulen’ mit MINT-Schwerpunkt oder einem Schwerpunkt im sprachlich-kulturellen Bereich. Es geht um Verbesserung des Unterrichts, um die Bereitstellung von Förderung und Beratung, um die Zusammenarbeit zwischen den pädagogischen Professionen, um Elternarbeit etc., aber auch um die Zusage von Unterstützung durch den Schulträger, die Kommune vor Ort. Da insgesamt in der ersten Runde 149 Anträge eingereicht worden sind, und in der ersten Runde 35 ausgewählt werden sollten, gab es eine sehr starke Konkurrenz. Die Qualität der Anträge war sehr unterschiedlich. Es war auch nicht so, dass die bedürftigsten Schulen automatisch nach vorne gerutscht sind.

Jeder Antrag wurde von zwei Mitgliedern der Jury unabhängig voneinander bewertet. In den Sitzungen sind diese Bewertungen zusammengetragen und diskutiert worden. Durch ein schrittweises Vorgehen, durch intensive, und am Ende dann durch, nun ja, sagen wir mal: besonders intensiv werdende Debatten wurden dann schließlich 35 Anträge befürwortet. Alle Mitglieder der Auswahljury haben dieser Liste zugestimmt. Wichtig an dieser Stelle: Im Rahmen der in diesem Sommer beginnenden zweiten Auswahlrunde, an deren Ende weitere 25 Talentschulen ausgewählt werden, können sich auch diejenigen Schulen erneut bewerben, die je in der ersten Runde nicht zum Zuge gekommen sind.

Gab es von Seiten des Ministeriums Vorgaben, zum Beispiel dass bestimmte Schulformen oder Regionen stärker oder weniger stark berücksichtigt werden sollten?

Terhart: Nein, es gab solche Vorgaben nicht – bis auf die von Anfang an offengelegte Vorgabe, dass 60 Schulen in den Schulversuch einbezogen werden sollten: 45 Schulen mit Sekundarstufe I und 15 Berufskollegs. Entscheidend war die Qualität der Anträge. Eine gewisse Rolle spielte auch die vorlaufende Beurteilung von Seiten der Bezirksregierung, an die wir als Jury aber nicht gebunden waren. Insgesamt waren wir bei den laufenden Debatten natürlich daran interessiert, ein balanciertes Ergebnis zu erzielen. Dabei haben wir die Bildungslandschaft in Nordrhein-Westfalen vor Augen gehabt. Und wenn man sich die anschaut, dann liegen die Schulen in schwierigem sozialem Umfeld eher nicht auf dem Lande und auch nicht in den Villenvierteln von Universitätsstädten. Aber noch einmal: Es gab keine Vorgaben, und die Auswahljury hat sich auch selbst keine formal-mechanischen Zielvorgaben gegeben und diese dann gewissermaßen durchgezogen. Noch einmal: Die Qualität der Anträge war entscheidend!

Welche Chancen geben Sie dem Schulversuch Talentschulen?

Terhart: Ich bin davon überzeugt, dass der Versuch sehr gute Chancen hat. Es ist richtig, dass Sie in Ihrer Frage den Versuchs-charakter erwähnen: An der Art und Weise, wie die Talentschulen die erweiterten Ressourcen (Personalstellen etc.) und die Unterstützung nutzen, wird sich zeigen, mit welchen Strategien, mit welchen Konzepten man in schwieriger Lage dann doch langsam besser werdende Ergebnisse erzielt. Die Erfolgskriterien sind dabei nicht einmal zuallererst oder gar allein steigende Schülerleistungen. Es geht um eine breitere Perspektive, um die Qualität des Schullebens, um die Beurteilung der Schule und ihrer Lehrkräfte durch die Schüler und Eltern, um die Kooperation der verschiedenen pädagogischen Fachkräfte in einer Schule, um die Verbesserung der Wahrnehmung einer Schule in ihrem direkten Umfeld etc. Insofern wird die wissenschaftliche Begleitung und Auswertung des Schulversuchs hoffentlich neue wichtige Erkenntnisse über unterstützten, gezielten Schulwandel in schwieriger Lage erbringen.

Wo sehen Sie die Stärken des Schulversuchs und der einzelnen Talentschulen?

Terhart: Das Problem der Schulen in schwieriger Lage ist auch von früheren Landesregierungen schon angegangen worden. Meiner Ansicht nach steht da die gegenwärtige Regierung in einer gewissen Traditionslinie und setzt zugleich eigene Akzente. Verschwinden wird dieses Problem der Bildungsungerechtigkeit bzw. der Förderung von benachteiligten Gruppen bzw. besonders belasteten Schulen nie – in Nordrhein-Westfalen nicht, in Deutschland nicht, auf der Welt nicht. Man muss trotzdem daran arbeiten, man kann Ungerechtigkeiten gewissermaßen verkleinern. Ganz wichtig wird zum Beispiel sein, wie man nach Auslaufen des Programms die Ressourcen an den Schulen stabilisiert und sichert. Wichtig wird auch sein, wie man Erfahrungen aus dem Versuch in die Breite des Schulsystems bringen kann. Jedenfalls werden sich auch alle zukünftigen Landesregierungen – welcher politischen Couleur auch immer – sowie die Schulträger vor Ort diesem Problem der Unterstützung von Schulen und Schülern in schwieriger Lage zuwenden müssen.

Was entgegnen Sie Kritikern, die monieren, dass 35 (und später weitere 25) Talentschulen nur ein Tropfen auf den heißen Stein sind und andere Schulen, die ebenfalls Unterstützung nötig hätten, abgehängt werden?

Terhart: Für den sechsjährigen Versuch werden insgesamt 132 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Das ist nicht wenig! Die Erkenntnisse, die man gewinnt, können und müssen dann, wie erwähnt, Schritt für Schritt und gegebenenfalls in Teilen auf andere Schulen übertagen werden. Das klingt jetzt irgendwie mechanisch, aber allen Beteiligten ist klar, dass es eine solche Mechanik im Schulsystem nicht gibt, nicht geben kann. Wichtig ist es aber, die kritischen Punkte, die entscheiden Faktoren zu identifizieren und zu gestalten. Auf diese Weise wird ein Gewinn für weitere und der Idee nach: möglichst weite Teile der Schullandschaft entstehen.

Umgekehrt muss man sich auch vor Augen halten, und bisherige Schulforschung hat dies leider bestätigt, dass das Hineinstreuen von Geld ins System nach dem Gießkannenprinzip nichts bringt oder gar zu paradoxen Ergebnissen führt. Insofern halte ich diese Form der gezielten und begleitend analysierten besseren Ausstattung von geeigneten Schulen in schwieriger Lage, einen dezidierten Willen gezeigt und ein entsprechendes Programm aufgestellt haben, für richtig.

Die Auswahljury

Für die zwölfköpfige Auswahljury für die Talentschulen hat das NRW-Schulministerium Expertinnen und Experten verschiedener Fachrichtungen sowie Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens berufen. Den Vorsitz der Jury hat Prof. Dr. Ewald Terhart übernommen. Die weiteren Jurymitglieder:

  • Prof. Dr. Marcus Baumann
  • Marlene Bücker
  • Björn Freitag
  • Prof. Dr. Christine Heil
  • Helmut E. Klein
  • Thomas Meyer
  • Andreas Meyer-Lauber
  • Prof. Dr. Susanne Prediger
  • Prof. Dr. Kerstin Schneider
  • Prof. Dr. Haci-Halil Uslucan
  • Dr. Michael Vesper

Info:

Ausführliche Informationen zum Schulversuch und zu den im ersten Schritt ausgewählten 35 Talentschulen gibt es online beim Bildungsportal NRW unter der Web-Adresse www.schulministerium.nrw.de/docs/Schulentwicklung/Talentschulen/index.html

Zur Originalausgabe (PDF-Datei)


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