Sie hat sich in kurzer Zeit radikal gewandelt, die Schule. Wegleitend waren oft theoretische Postulate und Konzepte. Die Praxis konnte sich nicht wirklich verlässliche Ziele setzen. Im Gegenteil: Sie musste sich vielfach als pädagogische Querdenkerin zeigen. Ein Zwischenruf zum Schuljahresbeginn.

von Prof. Dr. Carl Bossard

Sieh nach den Sternen, gib acht auf die Gassen!’ Unter diesem Titel erzählt der evangelische Theologe Jörg Zink (1922 bis 2016) sein Leben. Die Überschrift erinnert an die Geschichte einer thrakischen Magd. Vor ihren Augen stürzt der Philosoph und Astronom Thales in eine Zisterne, als er spät abends, den Blick fest auf die Sterne gerichtet, gedankenverloren durch die Straßen von Milet geht. »Die Geheimnisse des Himmels willst du erforschen und siehst nicht einmal, was vor deinen Füßen liegt!«, spottet die witzige Magd.

Weitblick und Nahblick, Theorie und Praxis

Eine Anekdote vielleicht – mindestens so gut erfunden, dass es spitzer gar nicht ginge. Und seither tönt das schallende Gelächter hörbar fort.[1] Die Geschichte der thrakischen Magd und des ehrwürdigen Philosophen im Brunnenloch kommt Lehrerinnen und Lehrern vielleicht in den Sinn, wenn sie auf die vielfältigen Unterrichtsansprüche blicken und das bildungspolitische Geschehen betrachten – und dabei zu spüren bekommen, dass theoretische Höhenflüge meist mehr gelten als solide Gassenarbeit.

Nicht über das Eigentliche hinwegschlittern

Wie das gehen kann, zeigte Lorenz Pauli, langjähriger Kindergärtner, im Rahmen seiner Diplomrede 2019 an der Pädagogischen Hochschule Zug.[2] Der Schriftsteller und Schausteller, Geschichtenerzähler und Liedermacher erinnerte an Kernsätze, die er während seiner Ausbildung gerne gehört hätte, die er aber nie vernommen hat. Es sind Grundsätze für das Konkret-Operative, Leitsätze für die pädagogische Gasse.

Und diese pädagogische Gasse kann man nicht im Schnellzugstempo durchfahren – mit Hektik und Hetze. Das Lernen lässt sich nicht beschleunigen. Schulen sind keine auf Tempo und Effizienz getrimmten Firmen. Sie wären Orte der Ruhe. Der inneren Ruhe, die unsere Kinder dringend brauchen, und der äußeren Ruhe, die das Lernen zwingend braucht. Dazu Lorenz Pauli zu den jungen Lehrerinnen und Lehrern: »Seien Sie einen Tick langsamer! Bremsen Sie. […] Wir müssen fördern, indem wir bremsen. Was bei Autoreifen gilt, gilt auch für den Unterricht. Ein Autoreifen hat Profil. Die Vertiefungen verhindern ein Schlittern und ermöglichen einen kürzeren Bremsweg bis zum Halt. In der Schule heißt das: Wir haben ein Profil, wir vertiefen, damit wir nicht über das Eigentliche hinwegschlittern, und das gibt den Kindern Halt.«

Erkenntnis hat nicht Format A4

Jungen Menschen Halt geben heißt auch, stabile Beziehungen aufbauen. Das erfordert einen ruhigen Raum, eine Atmosphäre, in der die Kinder nicht zu autonomen Selbstlernern hochstilisiert werden und der Unterricht den Apparaten und Arbeitsblättern überlassen wird. Jugendliche müssen sich angenommen und ernstgenommen fühlen und so erfahren, dass sie »somebody, not nobody« sind, wie es der PhilosophIsaiah Berlin formuliert hat.[3]

Ein solcher Unterricht verläuft alles andere als kanalisiert. Gutes Lehren und Lernen ist ein Geschehen jenseits der Erledigungsmentalität und des zügigen stofflichen Abhandelns mit dem Gehabe: »Das haben wir durchgenommen!« Kinder sind keine Aktenordner. Paulis Aufruf an die künftigen Pädagogen:

»Bäche renaturiert man. Renaturieren Sie den Unterricht! […] Meiden Sie den Kopierapparat! Erkenntnis hat – zumindest auf Stufe Kindergarten und Primarschule – nicht Format A?4.« Sie entsteht aus der reflektierten Begegnung mit der sinnlich-konkreten Wirklichkeit, aus Aha-Erlebnissen. Darum: »Öffnen Sie die Tür! Gehen Sie hinaus!«

Fragen als Stimulans guten Unterrichts

Unterricht ist kein Start-Ziel-Schnelllauf, Erkenntnisgewinn kein konvergent geplanter und linearer Vorgang. Denken geht immer auch nebenhinaus. Das weiß jede gute Lehrerin. Darum der Ratschlag des pädagogischen Praktikers Pauli an die kommenden Kolleginnen und Kollegen: »Bereiten Sie sich sorgfältig vor.

[…] Tun Sie es nicht zu exzessiv! Eine zu saubere Planung ist der Tod eines lebendigen Unterrichts. Die Inhalte, die von draußen und vom Kind kommen, finden nur dann Eingang in einen Unterricht, wenn dieser nicht schon überquillt vor lauter Planung. Und genau diese Inhalte, die aufgrund von echten Fragen und echten Anknüpfungen entstehen, sind die wichtigen. Die machen die Kinder kompetent. Denn Kompetenz heißt – zumindest für mich – fähig sein, mit dem Leben umzugehen.«

Und dazu zählt das Fragenstellen.

»Nur mit unser aller Grundhaltung im Unterricht, dass Fragen ein Geschenk sind, lassen sich Zusammenhänge begreifen.« Fragen sind die Vorstube der Erkenntnis. Lorenz Pauli erinnerte damit an den Berner Hochschullehrer Hans Aebli und sein didaktisches Wort: »Une leçon doit être une réponse.«[4]

Scheitern gehört zum Lernen und zum Leben

Unterricht enthält die Sogkraft nach beiden Seiten: Er ist planbar und treibt zugleich ins Unvorhersehbare. »Da gerät man ins Stolpern.« Lorenz Paulis tröstender Tipp: »[…] das liegt daran, dass der Tag, jeder Tag, nur einmal stattfindet. Wir haben immer nur einen Versuch, ihn zu meistern.« Pädagogisches Handeln ist eben immer konkret und immer einmalig. Darum kann man scheitern.

Scheitern, das kennen auch die Kinder. »Es sei«, sagte Pauli, »ein probates Mittel, um vorwärts zu kommen.« Seine Erkenntnis aus dem Praxisalltag: »Irgendwann in der Schulkarriere beginnen Kinder, sich für ihre Misserfolge zu schämen. Zögern Sie das möglichst lange hinaus! Scheitern gehört dazu. Aber nicht nur bei den Kindern. Auch bei Ihnen. Die Kinder sollen sehen, dass das Scheitern auch bei Erwachsenen dazugehört. […] Sie leben damit eine Haltung vor, die entlastend wirkt auf das Schulklima.«

Thales von Milet als Vorbild

In der Theorie funktioniere vieles, der pädagogische Alltag relativiere. Die Praxis sei eben zäher als die Theorie – und »näher am konkreten Leben«, so Pauli. Doch beides gehört zusammen.

Wer in der Schule tätig ist, der muss darum nach den Sternen schauen und gleichzeitig achtgeben auf die Gassen – genau wie es die witzige Magd Thales von Milet nahelegte. Doch der griechische Philosoph war nicht nur Denker im Grundsätzlichen, er war auch Pragmatiker im Tatsächlichen. Er durchmaß die Höhen des Himmels und war gleichzeitig gewiefter Ökonom. Dieser Thales sollte in allen Pädagogen stecken: die schulischen Zusammenhänge im Blick haben und gleichzeitig den Alltag meistern.

Lorenz Paulis Leitgedanken bewahren vor dem Sturz in die Zisterne.

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[1]    Hans Blumenberg (1987): Das Lachen der Thrakerin. Eine Urgeschichte der Theorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.

[2]    Laura Sibold: »Scheitern Sie in Schönheit, scheitern Sie krachend«, in: Zuger Zeitung, 28. Juni 2019,
S. 29; die Diplomrede ist auf der Website der PH Zug abrufbar: www.phzg.ch

[3]    Julian Nida-Rümelin, Elif Özmen(Hrsg.) (2013):
Welt der Gründe: XXII. Deutscher Kongress für
Philosophie. 11. bis 15. September 2011 an der
Ludwig-Maximilians-Universität München. Kolloquienbeiträge. Hamburg: Felix Meiner Verlag GmbH, S. 149, Fussnote 41.

[4]    Hans Aebli (2011): Zwölf Grundformen des Lehrens. 14. Auflage, Stuttgart, Klett-Cotta, S. 279.

Der Autor:

Carl Bossard, Dr. phil., dipl. Gymnasiallehrer, ist Gründungsrektor der Pädagogischen Hochschule Zug. Davor war er Gymnasialrektor der Kantonalen Mittelschule Nidwalden und Direktor der Kantonsschule Luzern, eines Gymnasiums mit 2000 Schülerinnen und Schülern und 250 Lehrpersonen. Heute berät er Schulen und leitet Weiterbildungskurse. Er beschäftigt sich mit schulgeschichtlichen und bildungspolitischen Fragen. Zu Bildungsthemen publiziert er unter anderem auf der Onlineplattform

www.journal21.ch.

www.carlbossard.ch

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