Ein Plädoyer für die Handschrift
Schon in meiner Kindheit war ich eine glühende Anhängerin des Schreibens. Kaum war ich in der Schule, zu der ich übrigens morgens immer hin hüpfte, begann die schönste Zeit meines Tages – die Zeit des Lernens. Zu Hause war nichts los, ich hatte keine Geschwister, war bei meinen Großeltern bis zum Beginn meiner Schulzeit aufgewachsen, da meine Eltern keine große Verwendung für mich hatten – sie waren Kaufleute mit eigenem Geschäft und ganztägig schwer beschäftigt. Und so inspirierte mich das Lernen von Anfang an ganz besonders. Ich konnte davon gar nicht genug kriegen und verbrachte Stunden mit Hausaufgaben – nie waren sie gut und korrekt genug.
Am Anfang war (und ist) das Schreiben
Und später, als dieser Elan (endlich!) etwas nachließ, las und schrieb ich, sobald ich Freizeit hatte, unentwegt und mit nie nachlassender Leidenschaft egal, wo ich mich befand, ob zu Hause, im Urlaub oder sonst wo – Papier und Stift waren immer mit und griffbereit. Meine Eltern lagen im Allgäu in den Wiesen und bräunten sich oder spielten Tennis (furchtbar anstrengend!), ich hingegen las oder schrieb im abgeschiedenen Zimmer. Das gab oft Ärger wegen fehlender Frischluft, Sonne, Bereitschaft mit anderen zu spielen und überhaupt, woher haben wir dich eigentlich! Sie sehen, ich habe einiges mit mir getragen – und die Verarbeitung meiner Lebenserfahrungen und meiner Phantasien habe ich von Beginn an gern verschriftlicht und aufbewahrt, in Tagebüchern, in kleinen ’Romanen’ oder Aphorismen. Letztens habe ich einige der kleinen Hefte im Keller gefunden. Ach, ja!
Wenn mir heute etwas nahe geht und mich berührt oder ich irgendeine für mich wichtige Erkenntnis im Gespräch mit anderen gewinne, schreibe ich sie auf und gehe diesem Gedanken, diesem Begriff, dieser Anregung nach – auf vielfältige Art und Weise. Der Beginn jedoch ist immer gleich – ich schreibe. Dem Schreiben gehen Gedanken voraus. Wie diese geboren werden, hat schon Kleist in seinem Aufsatz ’Über das allmähliche Verfertigen der Gedanken beim Reden’ dargelegt.
Schreiben schlägt Tippen und Wischen
Analog dazu lässt sich für das anschließende Schreiben als Kernbotschaft formulieren: »Über das allmähliche Bewusstmachen von Gedanken beim Schreiben«. Der Hirnforscher und Psychologe Markus Kiefer des Universitätsklinikums Ulm steht für diese Aussage und wendet sich mit ihr gegen das Totsagen des analogen Schreibens. Im Zuge von Digitalisierung unseres Lebens scheint die Chirografie, also das Schreiben mit der Hand und Schreibgeräten wie Füller, Bleistift, Kuli und anderem out zu sein. Wo wir heute auch hin schauen, sehen wir Menschen, die in ihre Handys und Laptops tippen. Macht das einen Unterschied? Kiefer erklärt, dass die haptischen wie die motorischen Eindrücke im Gehirn fehlen, zum Beispiel macht der Mensch beim Tippen nicht die Erfahrung, wie es sich anfühlt, auf unterschiedliches Papier zu schreiben, ein Schreibgerät bewusst mit der Hand zu steuern und Buchstaben oder Zahlen zu formen. Das fehlt dem Gehirn.
Rund um die Chirografie gibt es mittlerweile zahlreiche Forschungen, die sich mit den Unterschieden und Auswirkungen auf das Gehirn vom analogen Schreiben und dem digitalen Schreiben beschäftigen. Bisher kann man allgemein sagen, dass die meisten dieser Forscher der Ansicht sind, dass das Schreiben mit der Hand dem Tippen vorzuziehen ist.
Bereicherung für das Gehirn
Kiefer hat das in sechzehn Übungseinheiten von Vier- bis Sechsjährigen getestet und dabei festgestellt, dass durch das Nachvollziehen von Buchstaben in ihrem Gedächtnis eine zusätzliche Spur gelegt werden konnte und damit das Gehirn eine Bereicherung erfuhr. Kiefer vergleicht das mit Spuren im Schnee: Läuft man allein im Schnee, sind die Spuren nur unzureichend zu erkennen, laufen viele Menschen im Schnee, gibt es viele Spuren.
Handgeschriebenes festigt sich stärker im Gedächtnis! Es hat eine Spur gelegt, die wir leichter wieder finden und besser und vielfältiger nutzen können.
Von meinen Spuren im Gedächtnis habe ich zu Beginn schon geschrieben. Einen weiteren Aspekt möchte ich noch ansprechen. Das Schreiben mit der Hand eröffnet dem Menschen nicht nur einen tieferen Zugang zur Welt, sondern auch zu seinem Innenleben. Das Bewusstwerden der eigenen Gedanken und Empfindungen beim Schreiben ermöglicht ihm immer wieder, nach vorn zu schauen, misslungene Lebensphasen zu überwinden und sich alternativen Lebenswegen zu öffnen. Oder eben dies bewusst nicht zu tun.
Was die Schrift eines Schülers verrät
Sie wollen doch sicherlich jetzt schon hier mitreden, oder? Denn an der Schrift unserer Schüler können wir erkennen, wie sie sich fühlen, wie sie drauf sind, ob sie Probleme haben, über welche Eigenschaften sie verfügen. Wird die Schrift zum Beispiel fahrig, nachdem sie vorher gleichmäßig und strukturiert aussah, sind wir als Lehrer alarmiert: Was hat der Schüler? Ist was passiert? Muss oder sollte ich mich kümmern, oder warte ich noch ab? Sie kennen das!
Was sagt uns aber ein getippter Text?
Gut! Haben wir verstanden! Es ist jetzt neu in unser Bewusstsein gedrungen und hinterlässt eine Spur! Es geht hier übergeordnet darum, die Neuerungen in unserer Gesellschaft zu überdenken und für uns selbst erst einmal klar zu formulieren, wohin wir bei der Digitalisierung in unserem Alltag wollen und wohin nicht. Um mehr geht es nicht, aber auch nicht um weniger. Denn unreflektiert lassen wir uns fremd bestimmen und uns ’bewusstlos’ von neuen Entwicklungen überrollen. Und schwupps, sind unsere Werte hinüber, einfach im Internet verschollen, sozusagen nachträglich gefaked!
Das darf uns Lehrern nicht passieren, denn wir sind die Garanten des Staates, der Länder, der Kommunen und der Städte dafür, dass die Werte unserer Gesellschaft erhalten und erinnert und tradiert werden und wir alle lernen, sie wertzuschätzen! Das gehört zu unseren Aufgaben.
Vielleicht mögen Sie meine Anregung durch Schreiben mit der Hand beantworten?
Ich würde mich sehr wertgeschätzt fühlen und mich freuen!
Brigitte Balbach
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