Über die Kompetenz, selbst zu denken und eigenverantwortlich zu handeln.

Es ist, so stelle ich immer wieder fest, nichts so schwer für uns Menschen wie die Akzeptanz von Realitäten, besonders unserer eigenen Realitäten. Mit der persönlichen oder auch gesellschaftlichen Wirklichkeit konfrontiert zu sein und sich ihr täglich stellen zu müssen, braucht und verbraucht unsere gesamte Kraft und Energie. Das ist gut zu wissen, denn nur, wenn wir uns dieser Kraftanstrengung bewusst sind, haben wir überhaupt eine Chance, Kräfte dafür bündeln und ansammeln zu können und an diesem Ziel lebenslang arbeiten zu wollen. Im anderen Fall, nämlich der Ignoranz dieser Herausforderung unsererseits, würden wir mit den aktuellen Realitäten in unserem Leben nicht mehr umgehen können, was zur Fremdbestimmung, im Weiteren zur Selbstaufgabe bis hin zu Erkrankungen oder zum Suizid führen kann.

Gesellschaftlich gesehen kann das für ein ganzes Volk zur Entmachtung auch des Einzelnen führen. Der Bürger tritt seine ureigene Entscheidungsmöglichkeit freiwillig an einen Einzelnen oder eine Gruppe ab (Nichtwählen ist hier ein besonders gravierendes Beispiel), der oder die für ihn künftig sozusagen stellvertretend die Entscheidungen trifft. Fatal – wie unsere Geschichte im letzten Jahrhundert gezeigt hat. Auch hier sehen wir, wie wichtig es ist, aus Geschichte zu lernen!

Wege zur Menschwerdung

‘Das Leben zu leben’ setzt also einen selbstbestimmten Umgang mit demselben voraus! Das muss erst einmal gelernt sein. Denn zur Bildung der eigenen Meinung gehört auch der souveräne Umgang mit der Meinung anderer. Und auch genug Selbstbehauptung, Selbstsicherheit und Unabhängigkeit von anderen Menschen bei der Erstellung eigener Standpunkte sowie den Willen, sich frei anderen anschließen oder sich von ihnen abgrenzen zu wollen. Dazu brauchen wir die Bildung in den Schulen. Nicht mehr, aber auch kein bisschen weniger! Denn nur mithilfe guter Bildung, die den mündigen Bürger zum Ziel hat, kann eine emanzipatorische Menschwerdung gelingen. Ich glaube, dass genau dies zurzeit auf dem Spiel steht in der Welt, in unserer Gesellschaft, sowohl im öffentlichen als auch im privaten Raum.

In den letzten Tagen hat Papst Franziskus hierzu einen Weg weisenden Gedanken beigetragen. Er urteilte, Hitler habe die Macht nicht an sich gerissen. Er sei von seinem Volk gewählt worden und habe sein Volk zerstört. Deutschland sei 1933 in der Krise gewesen. Das Urteilsvermögen, so zitierte Focus online? den Papst am 27. Januar, funktioniere in Krisenzeiten nicht. Deshalb sei der Dialog sehr wichtig.

Die dunkle Seite der sozialen Medien

Wir leben jetzt erneut und weltweit in Krisenzeiten! Aktivieren wir unsere Bildung! Lassen wir es nicht zu, dass Bildung in unseren Schulen klein geschrieben wird! Üben wir den Dialog! Die widerstreitende Auseinandersetzung mit wesentlichen Inhalten auf gleichem Lernniveau ist unersetzlich! Sie ist die Grundlage eines jeden Dialogs. Das muss jedoch gelernt werden! Wir müssen uns selbst in die Lage versetzen, der Welt gewachsen zu sein – jeden Tag mehr! Dazu sind wir Lehrer ausgebildet – noch! Denn neben der politischen weltweiten schleichenden Entwicklung hin zu präsidialen Einzelentscheidern und Souveränbestimmern kommt eine Bedrohung aus dem Web hinzu, nämlich die sozialen Medien. Sie eröffnen uns neue Möglichkeiten, miteinander weltweit zu kommunizieren. Das ist eine umwälzende Neuerung in der Kommunikation, die allerdings wie alle Dinge auch eine dunkle Seite hat.

Propaganda statt Fakten

Die digitale Vernetzung in den sogenannten sozialen Medien ist moralisch gesehen häufig unsozial. Fest stehende Begriffe sind schnell gefunden: Fake News und alternative Fakten sind die neuen Unwörter des Jahres 2017. Menschen können sich nicht mehr darauf verlassen, dass das, was sie mit anderen kommunizieren oder ‘teilen’, die Wahrheit ist. ‘Was ist Realität?’ – das mussten wir uns in den letzten Tagen sogar angesichts der Nachrichten aus Amerika fragen. Aber auch hier bei uns scheint Propaganda einen Mehrwert zu haben, z.B. bei der AfD. Es geht ihr in erster Linie nicht um Fakten, sondern um Propaganda in Reinkultur. Halbwahrheiten und Lügen werden verbreitet, die sich durch die sozialen Medien verstärken.

Soziale Medien werden auch oft genutzt, um ‘gefühlte’ Feinde unschädlich zu machen. Die Betroffenen geraten in einen ‘Shitstorm’, aus dem sie unbeschädigt kaum mehr rauskommen können. Die Folgen für ein Leben können unüberschaubar und lebensbedrohend werden.

Warum denken wir nicht selbst?

Umgekehrt kenne ich viele Menschen, die stolz darauf sind, dass sie auf ihrer ‘Seite’ Tausende von Followern haben. Was macht es so attraktiv, im Netz gemocht zu werden? Warum posten wir alltägliche Nebensächlichkeiten und fordern andere User zu Zustimmung oder Ablehnung auf? Warum legen wir Wert auf die Bewertung Unbekannter? Was gibt uns das? Ein gutes Gefühl? Mehr Selbstwert? Und die interessanteste Frage aus meiner Sicht: Warum denken wir nicht selbst, sondern lassen denken?! Warum reden wir nicht von Angesicht zu Angesicht mit anderen Menschen statt zu simsen oder zu mailen? Können wir es nicht mehr, oder ist es uns zu anstrengend, sich unseren Realitäten oder denen anderer zu stellen? Wollen wir Widersprüche oder Gegenrede nicht mehr aushalten müssen? Sind uns Auseinandersetzungen zu mühsam?

Und die wichtigste Frage: Macht diese Entwicklung unser Leben besser, leichter oder lebenswerter?

Lernorientierung am unteren Level ist menschenverachtend

Darauf werden wir in den nächsten Jahren in unseren Schulen Antworten finden müssen. Wir dürfen auf keinen Fall den eingängigen und unwidersprochenen Satz »Kein Kind zurück lassen!« durch »Alle Kinder gleich dumm lassen!« ersetzen. Das zu verhindern, ist unsere Bildungsaufgabe! Dabei ist eine Lernorientierung am unteren Level, wie sie jetzt bereits systemisch zu erkennen ist, angesichts der bedrohlichen Entwicklung unserer Menschheit nicht nur fahrlässig, sondern unverantwortlich und menschenverachtend! Mit Erziehung zum mündigen Bürger hat das nichts mehr zu tun!Was uns helfen kann, ist die Vermittlung von Werten, die wir mit anderen Menschen teilen können und wollen. Auf diese Werte werden wir uns neu besinnen müssen.Sonst bleibt Bildung nur ein Wort.Brigitte Balbach

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