Der Kinder- und Jugendpsychiater Dr. Stefan Battel gibt in seiner Kolumne regelmäßig Antworten auf Fragen aus dem Lehreralltag. Diesmal geht es um die Frage, welche Folgen die Corona-Pandemie für die Entwicklung von Kindern hat.

Zur Erstvorstellung kam eine Mutter mit ihrem fünfjährigen Sohn, dessen Vorbefunde schon verrieten, dass eine Entwicklungsverzögerung vorlag. Nun waren wir im Behandlungsraum zu dritt, die Mutter in 3,50 Meter Entfernung, und der Junge lief plötzlich eifrig und mit rotziger Nase (was in dieser Jahreszeit üblich ist) mit seinem Bilderbuch zu mir, legte es mir auf den Schoß und wollte voller Stolz ein Feuerwehrauto zeigen. Eine Situation also, die mir seit mehr als zwanzig Jahren Berufsausübung nicht unbekannt ist.

Kurz bevor mir der Junge das Bilderbuch auf den Schoß legen wollte, voller Vorfreude mit den Armen wedelnd, rief die Mutter ihm zu: »Bitte nicht zu nah an Doktor Battel, du musst Abstand halten.« Dies klang überhaupt nicht vorwurfsvoll oder panisch, sondern in meiner Wahrnehmung eher fast schon verzweifelt und traurig. Wer weiß, wie oft sie ihrem Sohn dies schon zurufen musste.

Und der Junge? Er wirkte plötzlich verstört und blickte mit seinen großen Augen abwechselnd in mein Gesicht und das Gesicht der Mutter. Mir schien, als befinde er sich in einem großen Loyalitätskonflikt. Die Situation wirkte für Sekunden künstlich und angespannt. Ich zwinkerte ihm zu, und er trottete enttäuscht zu seiner Mutter zurück. Was für einen Lerneffekt könnte dies für ihn haben? Könnten vielleicht mittel- bis langfristig daraus Gefühle entstehen wie: Menschen gegenüber muss man vorsichtig sein; es könnte etwas passieren; kann ich meinem Gegenüber vertrauen; muss ich meine Impulse vorher gut sortieren und regulieren, um auf andere Menschen zuzugehen? All das sind Dinge, die in den nächsten Monaten und Jahren sicherlich vermehrt psychotherapeutisch thematisch erfasst werden. Die Spontanität der Kinder (und Erwachsenen) wird in einem nicht unerheblichen Maße eingeschränkt. Vor allem Kinder werden verunsichert. Der Junge wollte mit mir in Beziehung treten und aktivierte seine Bindungssysteme. Für ein paar solcher Situationen im Monat: geschenkt! Aber was hier seit mehr als acht Monaten passiert und langsam in einen Dauerzustand überzugehen scheint, ist für die weitere seelische Entwicklung von Kindern und Jugendlichen ängstigend. Hier werden zwischenmenschliche feinste Bindungsqualitäten auf Mikroebene beeinträchtigt, und nicht nur in der Wahrnehmung der Kinder.

Zusätzlich fällt dann noch die psychomotorische Gruppe für den Jungen aus meinem Beispiel aus, ein Hilfeplangespräch beim Jugendamt ist nur online und sehr begrenzt möglich, die sonst üblichen Gespräche mit den Erzieherinnen bei einer gemütlichen Tasse Kaffee finden, wenn überhaupt, nur in aller Kürze außerhalb des Kindergartens am Gartenzaun statt. Das heißt: All das, was für einen guten Austausch und Beziehungsaufbau nötig ist, leidet zurzeit massiv. Dies wird für uns alle nicht ohne Folgen bleiben!

Zur Person:

Dr. med. Stefan Battel ist seit 2007 niedergelassener Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie mit eigener Praxis in Hürth bei Köln und seit 2012 systemischer Familientherapeut (DGSF). Im Rahmen des lehrer nrw-Fortbildungsprogramms greift er in einer Vortragsreihe regelmäßig verschiedene Themen aus dem Bereich der Jugendpsychologie auf.

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