Eine repräsentative Studie der ZEIT zeigt: Der Schulunterricht fällt sehr viel öfter aus, als es die Bildungsminister behaupten.

Wie viel Unterricht fällt an Deutschlands Schulen wirklich aus? Die meisten Kultusminister behaupten: wenig. Folgt man den Schulbehörden, werden allenfalls zwei bis drei Prozent des Unterrichts nicht gegeben. Doch diese Zahlen sind falsch, sie schönen den Alltag an deutschen Schulen.

Zu diesem Ergebnis kommt eine gemeinsame Untersuchung von ZEIT und ZEIT ONLINE. Wir haben dafür unsere Leserinnen und Leser um Mithilfe gebeten und wurden dabei vom Marktforschungsteam der Hamburger Firma Statista unterstützt.

Unsere bundesweite Befragung von Lehrern, Eltern und Schülern ergibt: Es fällt mehr als doppelt so viel Unterricht aus, wie die Behörden und Bildungsminister behaupten. Es sind nicht bloß zwei Prozent aller Stunden, sondern in Wirklichkeit gut fünf Prozent. Hinzu kommt noch einmal fast genauso viel Vertretungsunterricht. Insgesamt werden also rund zehn Prozent des Unterrichts an den deutschen Schulen gar nicht oder irregulär erteilt. Eine Schätzung des Deutschen Philologenverbandes bewahrheitet sich damit: Woche für Woche finden rund eine Million Unterrichtsstunden nicht so statt, wie es der Lehrplan verlangt. Wie es den Schülern zusteht.

 

Wie wir gerechnet haben

Bei unserer Umfrage haben mehr Menschen mit einem hohen Nettoeinkommen geantwortet, als es sie im Bundesdurchschnitt gibt. Deshalb wurden die Umfragedaten von Statista mit Strukturdaten aus dem Schuljahr 2015/2016 abgeglichen. Das heißt: Die Differenz zwischen den Teilnehmern und dem Bundesdurchschnitt wurde bei der Gewichtung der Aussagen berücksichtigt. Vergleichbares geschah an weiteren Stellen: So wurden die Daten der Lehrer etwa hinsichtlich der Merkmale Geschlecht, Alter, Bundesland und Schulform gewichtet. Dadurch konnten wir erstmals im deutschen Journalismus aus einer Leserbefragung repräsentative Aussagen für das ganze Land ableiten.

Unsere Erhebung deckt noch ein zweites schwerwiegendes Problem auf: eine Gerechtigkeitslücke in unserem Schulsystem. Bei Schülern aus Haushalten mit einem Nettoeinkommen unter 3.000 Euro ist der Unterrichtsausfall mit knapp zwölf Prozent mehr als viermal so hoch wie bei jenen mit einem Nettoeinkommen über 5.000 Euro. Dort liegt er bei knapp drei Prozent. Auf eine weitere soziale Ungerechtigkeit verweist eine Lehrerin und dreifache Mutter, die uns geschrieben hat: »Durch den eklatanten Unterrichtsausfall entsteht eine Zweiklassengesellschaft. Es gab die höchsten Durchfallraten, wenn Lehrerinnen und Lehrer der Kernfächer längere Zeit krank waren. Wenn sie dann wieder zurück waren, wurde der Stoff in doppelter Schnelligkeit unterrichtet, was besonders problematisch für leistungsschwache Schüler war.«

Es verwundert, wie wenig die Landesregierungen den Unterrichtsausfall ernst nehmen. Wer zum Beispiel bei der Kultusministerkonferenz nachfragt, in der alle sechzehn Bildungsminister zusammenkommen, dem wird beschieden, dass die Statistiken der einzelnen Bundesländer so unterschiedlich seien, dass man sie nicht in einer bundesweiten Statistik zusammenfassen könne. Fragt man in den sechzehn Kultusministerien einzeln nach, bekommt man tatsächlich methodisch nicht vergleichbare Zahlen mit erstaunlich niedrigen Werten überreicht.

Das ist umso unverständlicher, als der Unterrichtsausfall laut Umfragen für die Eltern zu den wichtigsten Themen der Schulpolitik gehört. Er nervt sie. Er nagt an ihnen. Er bringt ihren Alltag durcheinander. Sie befürchten, dass ihre Kinder dadurch weniger lernen, und sie machen sich Sorgen, wenn der Nachwuchs, statt auf der Schulbank zu sitzen, unbeaufsichtigt durch die Gegend stromert. So schreibt uns die Mutter eines Grundschulkindes aus Rheinland-Pfalz: »In Grundschulen müssen die Kinder ja trotz Unterrichtsausfall betreut werden – was aber in der Praxis wegen akuten Lehrermangels nur sehr schlecht funktioniert. Fazit: Die Eltern müssen bei längeren Ausfällen die Wissensvermittlung übernehmen. Wer Eltern hat, die sich nicht kümmern (können), hat hier schon verloren.«

 

Frage an die Lehrer: Welche Fächer werden besonders oft fachfremd vertreten?

Kein Wunder also, wenn bei Landtagswahlen regelmäßig der Unterrichtsausfall thematisiert wird. In Nordrhein-Westfalen war er ein Grund für die Abwahl der rot-grünen Regierung. In Niedersachsen will die CDU unter anderem mit dem Versprechen einer Unterrichtsgarantie die bevorstehende Landtagswahl gewinnen.

Anfang August haben wir deshalb unsere Leserinnen und Leser aufgerufen, uns ihre Erfahrungen zu schildern und Daten dazu zur Verfügung zu stellen. Wie viel Unterricht zum Beispiel in letzter Zeit ausgefallen sei, wie sie davon Kenntnis bekämen, welche Qualität der Vertretungsunterricht habe? 3.643 Leserinnen und Leser haben uns an ihren Erfahrungen teilhaben lassen und zur Datensammlung beigetragen: 1.787 Lehrer, 1.110 Eltern und 746 Schüler. Diese hohe Anzahl an Teilnehmern und eine anschließende Datengewichtung durch die Experten von Statista ermöglicht repräsentative Aussagen für ganz Deutschland. Es ist die erste bundesweit repräsentative Untersuchung zu diesem Thema.

 

An vielen Schulen wird nicht transparent mit dem Unterrichtsausfall umgegangen

Bei aller Sorgfalt sind selbstverständlich auch unsere Daten mit Unschärfen behaftet. Die Leserinnen und Leser, die sich an der Umfrage beteiligt haben, wurden nicht zufällig ausgesucht, sondern sind an dem Thema besonders interessiert. Und sie mussten etwa den Unterrichtsausfall aus der Erinnerung quantifizieren. Die Statistiker versichern uns jedoch, dass sich mögliche Verzerrungen angesichts der großen Teilnehmerzahl nicht entscheidend auf das Ergebnis auswirken. Nur die Ergebnisse für die Schüler, das sei ergänzt, sind nicht für alle Altersstufen repräsentativ, weil nur die Angaben von Gymnasiasten berücksichtigt wurden, die mindestens sechzehn Jahre alt sind. Das liegt auch daran, dass sich von Real- und Gesamtschulen nicht genügend Teilnehmer gemeldet haben.

Ein vernichtendes Urteil fällen die Schüler über den sogenannten Vertretungsunterricht, der in der Regel kein echter Ersatz für regulären Unterricht ist: Nur in knapp vier Prozent der Fälle, so sehen es die Schüler, setzt ein Ersatzlehrer den Unterricht stringent fort. »In den allermeisten Vertretungsstunden sitzen wir sinnlos rum und warten, dass die Zeit vergeht«, schreibt uns ein Gymnasiast aus Niedersachsen. Ein Dreizehntklässler aus Rheinland-Pfalz berichtet: »Ich hatte in meiner Oberstufenphase massive Unterrichtsausfälle. Vertretungslehrer förderten eher unsere Verwirrung um Themen und Aufgaben des Abiturs, was eine Vorbereitung komplexer gestaltete, als es hätte sein müssen.« Die meisten Lehrkräfte bestätigen dieses Bild, allerdings gibt jeder Fünfte an, den Unterricht der Kollegen fortzusetzen. In jedem Fall trifft zu: Vertretungsunterricht ist überwiegend eine Art Aufbewahrung der Schüler im Klassenraum.

 

Frage an die Lehrer: Wie gestalten Sie Ihren Vertretungsunterricht?

Vielfach sind Vertretungslehrer auch nicht in dem Fach ausgebildet, das sie unterrichten sollen; in Mathematik sind mehr als die Hälfte fachfremde Lehrkräfte, in Kunst, Französisch und Latein gar mehr als achtzig Prozent. Nur in knapp jedem fünften Fall fühlt sich ein Ersatzlehrer ausreichend darüber instruiert, was genau er machen soll. Mehr als zwei Drittel der Lehrer gaben an, für den Ersatzunterricht nur zum Teil konkrete Arbeitsaufträge erhalten zu haben, fast jeder Zehnte habe sogar gar keine bekommen. »Bei uns im Vertretungssystem der Schule gibt es einen ‘Lehrer’, der ‘selbst organisiertes Lernen’ heißt«, schreibt eine Gesamtschullehrerin aus Bremen. »Das bedeutet, dass die Schüler ohne Aufsicht sind und in der Statistik kein Unterricht ausfällt.« In die gleiche Kerbe haut die Mutter eines Grundschülers aus Sachsen-Anhalt: »Der Unterricht fiel aufgrund von Krankheit aus. Jedoch wurden die Stunden nicht vertreten. Die Kinder wurden teilweise einfach in die Aula vor den Fernseher gesetzt und durften dort Filme schauen. Sehr ärgerlich!«

In einer ehrlichen Statistik, das zeigen diese Zahlen und Berichte eindrucksvoll, müsste der Vertretungsunterricht größtenteils als Unterrichtsausfall ausgewiesen werden. So kommen wir in unserer Erhebung letztlich auf rund zehn Prozent Unterrichtsausfall.

 

Frage an die Eltern: Werden Sie vonseiten der Schule über Unterrichtsausfall informiert?

Hinzu kommt noch der strukturelle Unterrichtsausfall, wenn etwa ein Jahr lang kein Physikunterricht gegeben wird, weil ein Fachlehrer krank ist. Mit unserer Befragung lässt sich dieses Problem zwar nicht quantifizieren, aber doch zeigen: »Der strukturelle Ausfall des Religionsunterrichts liegt an meinem Berufskolleg bei 75 Prozent«, berichtet uns ein Lehrer aus Nordrhein-Westfalen. Ein Gesamtschüler aus Schleswig-Holstein schreibt uns: »Bei uns an der Schule wird in der Oberstufe generell kein Unterrichtsausfall ersetzt. Spanisch zum Beispiel hatten wir im zweiten Halbjahr fast gar nicht mehr.« Und eine Mutter aus Berlin, deren Kind die Grundschule besucht, schildert: »Nach einem Jahr praktisch ohne Matheunterricht folgt nun der Wechsel auf das Gymnasium, meine Tochter wird nun ohne Kenntnisse in Prozentrechnung das Probehalbjahr überstehen müssen. Für sie bedeutet das zum einen ruinierte Sommerferien, da sie ganz ohne diese Kenntnisse nicht anzutreten wagt – und zugleich große Angst vor dem Versagen. Das Gymnasium wird wohl kaum Rücksicht auf den Stundenausfall in der Grundschule nehmen.«

Was unsere Umfrage auch zeigt: An vielen Schulen wird nicht transparent mit dem Unterrichtsausfall umgegangen. Gut die Hälfte der Lehrer gibt an, dass es darüber an ihrer Schule nicht mal eine Statistik gebe. Nur 14 Prozent der Eltern sagen, immer offiziell von der Schule informiert zu werden. Vom Unterrichtsausfall erfahren sie meist von ihren Kindern; das sagen 92 Prozent der Eltern.

Eine Mutter aus Hamburg mit vier Kindern am Gymnasium ist der Meinung, die Schulen müssten die wahren Zahlen verschleiern, um im Vergleich mit anderen Schulen besser dazustehen. Sie schreibt uns: »Daran würde sich nur etwas ändern, wenn den Schulleitern nicht der Schwarze Peter für den Stundenausfall zugeschoben würde. Verantwortlich ist das Schulamt.«

Der Auftrag für die Kultusminister ist klar: Wir brauchen ehrliche und länderübergreifend vergleichbare Statistiken über den Unterrichtsausfall. Vor allem die Eltern müssen besser über Stundenausfälle informiert werden. Und die Lehrerversorgung, gerade in sozial schwachen Gegenden, muss sichergestellt werden. Das ist alles nicht einfach, aber steht jetzt an.

 

Info:

Dieser Beitrag ist ein Nachdruck mit freundlicher Genehmigung der Wochenzeitung ‘Die Zeit’ (Nr. 41/2017).

 

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