Die COVID-19-Pandemie legt erhebliche Defizite bei der Werte-Erziehung offen.

Der Alltag ist zurück an unseren Schulen – bundesweit, mit oder ohne Maskenpflicht im Unterricht. Das neue Schuljahr hat begonnen, wie das alte zu Ende ging: Eltern, Schüler, Schulleitungen und Lehrkräfte sehen gespannt auf neue Vorgaben (Gesetze, Rechtsverordnungen, Gebote und Verbote), welche einzuhalten sind, um angesichts der steigenden Infektionszahlen landauf, landab einen geregelten Schulbetrieb mit Präsenz-unterricht für alle zu gewährleisten. Alles mit dem Ziel, die Gesundheit von uns allen zu erhalten.

Was läuft schief?

Deutschland hat bisher die COVID-19-Pandemie relativ gut bewältigt. Das liegt zum einen am besten Gesundheitssystem weltweit. Das liegt aber auch an einer äußerst effektiven öffentlichen Verwaltung und daran, dass anfangs soziale Regeln (Normen) in den Lockdown-Monaten konsequent eingehalten wurden. Für wenige Monate! Sehr bald fühlten sich Corona-Leugner berufen, zu einer Gegenbewegung aufzurufen. Proteste wurden lauter und gesellschaftliche Gruppen – organisierte oder private – lehnen mittlerweile unverhohlen – auch unter Gewaltanwendung – festgelegte soziale Normen ab. Sie leisten ’Widerstand’, ein Modewort, welches im Nachkriegsdeutschland zu einem politischen Ideal hochstilisiert wurde. Über dieses Verhalten von so genannten ’Querdenkern’ ist aus dem Ausland, dessen Bevölkerung sehr viel längere und sehr viel härtere Maßnahmen der Massenquarantäne zu ertragen hatte, nur Kopfschütteln zu vernehmen. Ist das Einhalten von Normen in der so genannten ’modernen’ freiheitlich-demokratisch verfassten Gesellschaft Deutschlands »keinen Pfifferling mehr wert«? Hat der Widerstand gegen staatliche Vorgaben einen Eigen’wert’? Und Wird der Wert ’Gesundheit’ – das höchste menschliche Gut – dem Freiheitsgedanken, dem Megatrend der Individualisierung, getragen von einer großen Portion Egoismus, untergeordnet? Also: »Was läuft schief in der Werte-Erziehung – im Entwickeln demokratischer Verhaltensweisen in der Schule und in den Familien – in unserer Gesellschaft allgemein?«

Tiefe gesellschaftliche Spaltung

Wenn sich in diesen Tagen eine große Unzufriedenheit bei Teilen der Bevölkerung in Corona-Demonstrationen zeigt, gleichzeitig Schutzmaßnahmen und Regeln in der Corona-Krise negiert werden, Ordnungsorgane und Politiker beschimpft und bedroht werden, weil sie das Einhalten von Regeln fordern, dann stellt sich für Pädagogen die Frage, wie es um die Werteerziehung und um das Demokratieverständnis in unserem Land bestellt ist. In der bundesdeutschen Gesellschaft zeigt sich gerade in der COVID-19-Pandemie eine tiefe gesellschaftliche Spaltung.

Dabei geben sich Eltern, Erzieher und Pädagogen viel Mühe, Kindern und Jugendlichen ’Grundwerte’ unserer demokratisch verfassten Gesellschaft zu vermitteln. Allerdings werden Mitmenschen, die auf das Einhalten von Normen zur Wertesicherung Wert legen, zunehmend häufiger in die konservative Ecke gedrängt.

Werte sind nicht angeboren, sondern müssen über Erziehung und Bildung erworben werden. Dazu bedarf es auch besonders geeigneter Vorbilder. Aber auch diesbezüglich hat man – neben dem Hochstilisieren des Widerstandsdenkens – in den zurückliegenden Jahren ganze Arbeit geleistet. Täglich werden neu demokratiefeindliche Vorbilder aufgebaut: Menschen, die gegen die Normen bewusst verstoßen, werden als Helden gefeiert, werden uns beschönigend als ’Aktivisten’ präsentiert. Gleichzeitig hat man die Autorität der Menschen, die für das Einhalten von Werten, für soziale Ordnung in unserem Gemeinwesen stehen (zum Beispiel Hilfsorganisationen, Polizei, Verwaltung, Erzieher, Lehrkräfte) systematisch untergraben. Beispiel: Am 15. Juni fordert eine Journalistin in einer taz-Kolumne, Polizeibeschäftigte auf die ’Mülldeponie’ zu geben, wo sie sich »unter ihresgleichen … selber am wohlsten fühlen.« Zurecht ist diese ’Satire’ als Zeichen eines massiven Werteverfalls in unserer Gesellschaft angeprangert worden. Andere aber rechtfertigen derartige Entgleisung mit Presse- und Meinungsfreiheit. Die Gratwanderung zwischen den Werten Freiheit und Verantwortung gelingt immer seltener. Bedenklicher noch: Das Grundprinzip von Mehrheitsentscheidungen und die Rechtsstaatlichkeit geraten zusehends ins Hintertreffen. Normen und Gesetze, mühsam in demokratischen Prozessen festgelegt, werden von Minderheiten in Frage gestellt, vielfach negiert. Gleichzeitig wird das Denken und Handeln von Minderheiten als ’normal’ (Norm) postuliert. Hierbei hatten und haben nicht nur moderne Medien einen großen Einfluss. Immer deutlicher wird eine große Kluft zwischen dem vermeintlichen Recht auf Widerstand und dem demokratischen Grundverständnis für Mehrheitsentscheidungen.

Werte – Erziehungsziele heute

Fragt man die Bevölkerung, welche Werte ihr als Erziehungsziele wichtig sind, fehlen grundlegende Werte einer demokratischen Gesellschaft wie Freiheit, Gerechtigkeit oder Gleichheit, und die aufgezeigte Altersdifferenzierung lässt einen schwindenden Werte- und damit Erziehungskonsens erkennen.

Hinzu kommen Einflüsse der Pluralisierung von sozialen Milieus und Lebensstilen. Besonders in der Umsetzung oben genannter Werte in der Gesellschaft, also beim Festlegen und der Einhaltung von Normen bzw. Gesetzen werden stark divergierende Vorstellungen deutlich. Hierbei zeigt sich im Besonderen eine deutliche Diskrepanz zwischen Wunschvorstellungen (Wert) und Umsetzung (konsequentes Handeln mit Normen), welches für das Erreichen der Werte unabdingbar ist.

Gerade die Diskussionen in von der Corona-Pandemie verunsicherten westlichen Gesellschaften legen – beispielsweise bei den Corona-Demonstrationen – einen latenten Wertekonflikt, aber besonders das Ablehnen von Normen offen. Vielen Bürgern gelingt es immer weniger, Werte wie Freiheit und Gesundheit, Vertrauen, Loyalität, Ehrlichkeit, Sicherheit und Toleranz oder Glaubwürdigkeit, Neutralität und Weitsicht in ein persönliches und soziales Gleichgewicht zu bringen und die gesetzten Normen zu akzeptieren, ohne die Werte nicht zu erlangen sind. Hinzu kommen Radikalismus, Antisemitismus und Verschwörungstheorien. Die Wertegemeinschaft in Deutschland zeigt sich in der realen Umsetzung der Werte mittlerweile extrem heterogen: Gelingt es noch, bestimmte Wertvorstellungen (moralisch oder ethisch als gut befundene Wesensmerkmale von Personen) als allgemein erstrebenswerte zu erkennen, zeigt sich in ihrer Umsetzung ein deutlicher Zwiespalt, als wären Werte ohne Normen möglich.

Ein Blick zurück

Der wissenschaftliche Diskurs über Werte reicht Jahrtausende zurück. Man weiß von griechischen Wurzeln des europäischen Wertekanons. Philosophie und Soziologie entfernten sich bereits im 17. Jahrhundert von der bis dahin geltenden Vorstellung einer gottgewollten und praktisch unveränderlichen Werteordnung. Mit dem Aufstieg des Bürgertums gewannen vorwiegend materielle Werte die Vorherrschaft. Nach dem Zweiten Weltkrieg festigte sich die bürgerliche Kultur wieder. Die 1950er und 1960er Jahre waren in der westlichen Welt durch einen beispiellosen Wohlstandszuwachs (’Wirtschaftswunder’), durch Bildungsexpansion, durch eine Verkürzung der Arbeitszeit und Ausweitung der Freizeit, durch eine hohe soziale Sicherheit und eine großzügige Liberalisierung, durch Pluralisierung und Individualisierung geprägt. Allmählich entstand in der westlichen Welt eine Protestbewegung, welche sich von den primär materiellen Werten abwandte. Der amerikanische Politikwissenschaftler R. Inglehart sprach in den 1970er Jahren davon, dass ein emanzipativer ’Postmaterialismus’ den noch vorherrschenden konservativen ’Materialismus’ ablösen sollte/werde. Forthin zeigte sich, dass materielle Werte – weil im Überfluss gegeben – an Bedeutung verloren, postmaterielle Werte gewannen.

Werte sind ohne Normen unerreichbar – Normen ohne Werte sind abzulehnen!

Erwachsene wie Kinder und Jugendliche erleben, dass Werte und Normen eine unverzichtbare Grundlage ihres Zusammenlebens und der gesellschaftlichen Ordnung sind. Heranwachsenden fällt es noch schwer, zwischen Werten und Normen zu unterscheiden. Beide haben für den Menschen Orientierungscharakter, leiten sein Denken, Fühlen und Handeln. Kinder und Jugendliche bauen durch Bildung und Erziehung in Elternhaus, Schule und Gesellschaft ein Wertesystem auf, an dem sie sich orientieren können. Sie testen bei jeder Gelegenheit die ihnen gebotenen Grenzen aus und erfahren (idealerweise) Konsequenzen, wenn sie gegen Normen verstoßen.

Ganz offensichtlich gelingt es den Sozialisationsinstanzen nicht im nötigen Maße, diese Schlüsselkompetenz ausreichend zu entwickeln bzw. in der Persönlichkeitsbildung so intensiv zu verankern, dass sie auch später Grundlage demokratischen Handelns ist. Spätestens mit der Pubertät setzt das Hinterfragen ein, weniger der Werte, vielmehr der Normen. Mit dem Verlassen der Sozialisationsinstanz Schule sollte ’Mündigkeit’ gegeben sein: Bürger übernehmen nicht nur für sich selbst Verantwortung, sondern auch für ihren Staat und ihre Gesellschaft, leben selbstbestimmt und eigenverantwortlich und besitzen Urteilsfähigkeit. Die Leitidee der Mündigkeit (mündige Bürger) ist nicht nur in der politischen Bildung selbst heftig umstritten – sie ist ganz offensichtlich ein Mythos – auch das legt die Pandemie unverblümt offen.

Grenzen der Freiheit

In der aktuellen Krisensituation der COVID-19-Pandemie zeigen sich die gesellschaftlichen Dissonanzen zwischen den gemeinsam getragenen Leitvorstellungen (Werten) und den für die Umsetzung erforderlichen Regelungen (Normen) wie in einem Brennglas. ’Freiheit’ gilt als eine zentrale Leitvorstellung für unsere Demokratie. Die Freiheit des Einzelnen hat jedoch dort ihre Grenzen, wo das Recht des/der anderen beginnt. Seit Jahrtausenden formuliert man den ethischen Grundgedanken der ’Goldenen Regel’, etwa mit: »Was du nicht willst, dass man dir tu’, das füg auch keinem andern zu.« Dieser Grundgedanke findet sich in allen Gesellschaften und Religionen. In der freiheitlichen Demokratie gibt sie dem Einzelnen wie auch der staatlichen Gemeinschaft vielfältige Möglichkeit, die Gestaltung des privaten wie des öffentlichen Lebens selbst in die Hand zu nehmen. Jedoch ist die Freiheit untrennbar verbunden mit der Kategorie Verantwortung. Die Teilnahme an einer Corona-Demonstration, bei der Tausende, sich auf Freiheit berufende Bürger ohne Mund-Nase-Schutz bei Nichteinhaltung des Abstandsgebotes die Gesundheit von Mitmenschen gefährden und ggf. dazu beitragen, dass die Kosten im Gesundheitswesen weiter explodieren, ist grundsätzlich abzulehnen. Diese Demonstranten handeln verantwortungslos, verstoßen bewusst gegen Normen und offenbaren deutliche Defizite in ihrer Werteerziehung. Sie stellen ihre Freiheit – gesetzte Normen missachtend – über den Wert der Gesundheit von Mitmenschen. Das kann, ja muss in einer funktionierenden Demokratie zu der Entscheidung führen, Normen konsequent durchzusetzen, ggf. Freiheitsrechte punktuell einzuschränken, weil das Gut (der Wert) Gesundheit höher wiegt.

Wenn Werten die demokratische Legitimation fehlt

Unsere freiheitliche, demokratisch verfasste Gesellschaft befindet sich in einem ständigen Abwägungsprozess mit dem Ziel, Normen festzulegen, die Werte wie Freiheit und Gesundheit gleichermaßen schützen, ihr Erreichen ermöglichen. Das ist mühsam, und das ist immer schwieriger zu vermitteln. Unsere Gesellschaft wird jedoch daran scheitern, wenn wir uns über die ’Besetzung’ der Stufen zum Reichstagsgebäude – so verwerflich diese Bilder sind – mehr echauffieren als darüber, dass beinahe täglich Tausende in Berlin ohne das Einhalten von Normen den Wert der Gesundheit von Mitmenschen aufs Spiel setzen. Bisher erkannten wir nur punktuell rechtsfreie Räume (’No-go-Area’), diese zeigen sich vermehrt auf öffentlichen (Schau-)Plätzen. Trotz gegenteiliger Berichterstattung ist eben es nicht so, wie uns viele immer wieder einreden wollen, dass der Staat Normen setzt, die nicht mit Werten hinterlegt sind. Dies wäre in der Tat abzulehnen, und genau für diesen Fall ist das Recht auf Widerstand geschaffen. Aber nur für diesen einen Fall! Leider wird dieses Recht seit vielen Jahren missbraucht, weil sich Minderheiten eigene Werte zurechtlegen, wofür jedoch in der Regel die demokratische Legitimation fehlt.

Fazit

Siebzig Jahre nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland, nach siebzig Jahren gelebter Demokratie auf der Basis der Werte des Grundgesetzes und nach dreißig Jahren Wiedervereinigung stellen wir fest, dass wir im Jahr 2020 deutlicher erkennbar als in den Jahrzehnten zuvor ein überaus angespanntes Verhältnis zu Normen und zu staatlichen Autoritäten haben. Gerade in der COVID-19-Pandemie zeigt sich eine durch und durch verkrampfte Haltung zu Normen und zu staatlichen Einrichtungen, die sich um ihre Einhaltung sorgen, damit Werte erreicht werden können. Der deutschen Gesellschaft ist es wohl aufgrund der Negativerfahrungen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft (noch) nicht gelungen, eine vernünftige Balance zu finden zwischen dem Staat, der keineswegs obrigkeitsstaatlich handelt, sondern für das Festlegen und Einhalten sozialer Normen sorgt, und einem Staat, dessen Existenz sich einzig durch das Ziel rechtfertigt, seinen Bürgerinnen und Bürgern ein Leben in Freiheit, Sicherheit und Selbstentfaltung zu garantieren. Deutschland befindet sich im Zwiespalt: Einerseits auf Theodor Adornos ’kategorischen Imperativ’ zu achten (Denken und Handeln so einzurichten, dass Auschwitz sich nicht wiederhole), verbunden mit dem Recht auf Widerspruch und Widerstand. Andererseits im Rahmen der Persönlichkeitsbildung eine Haltung zu fördern, die zu »einem tiefen Bewusstsein darüber führt, dass ohne gemeinsam getragene Grundwerte (Freiheit, Friede, Gerechtigkeit, Gleichheit, Solidarität, Gesundheit, …) die demokratisch verfasste Gesellschaft nicht vorstellbar ist und dass dazu eine Normenreflexion unverzichtbar ist, in jedem Fall aber auch die Akzeptanz von Normen.« »Denn Werte konkretisieren sich im Zusammenleben der Menschen in Normen, also in Verhaltensanweisungen (Gebote/Verbote) für die Mitglieder einer Gruppe.«

Hinweis:

Dies ist die gekürzte Fassung eines Beitrags, der als Erstveröffentlichung in »Bildung real«, der Zeitschrift des Verbandes Deutscher Realschullehrer (VDR) erschienen ist.

Der Autor

Anton Huber ist stellvertretender Bundes-Vorsitzender des Verbandes Deutscher Realschullehrer sowie Ehrenvorsitzender des Bayerischen Realschullehrerverbandes. Als Realschullehrer und langjähriger Schulleiter war er bis 2016 im Schuldienst tätig.

Zur Info:

Die Kultusministerkonferenz schreibt zur Demokratie-Erziehung: »Kinder und Jugendliche brauchen ein Wertesystem, in dem sie sich orientieren können. Schule ist dafür verantwortlich, ihnen eines zu vermitteln, das den freiheitlichen und demokratischen Grund- und Menschenrechten entspricht.« Weiter heißt es: »Der freiheitliche demokratische Staat lebt von Voraussetzungen, die er als Staat allein nicht garantieren kann. Er ist darauf angewiesen, dass Bürgerinnen und Bürger aus eigener Überzeugung freiwillig im Sinne der Demokratie handeln. Historisch-politische Urteilsfähigkeit und demokratische Haltungen und Handlungsfähigkeit als Schlüsselkompetenzen müssen entwickelt und eingeübt werden.

www.kmk.org/fileadmin/Dateien/veroeffentlichungen_beschluesse/2009/2009_03_06-Staerkung _Demokratieerziehung.pdf

Zur Originalausgabe (PDF-Format)


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