Kompetenzvermittlung, Digitalisierung und methodische Spielereien machen noch keine Bildung.

von Peter Maier

Im Moment werden die Medien und die öffentliche Diskussion vollkommen von den Themen ‘Terrorgefahr’ und ‘Flüchtlingskrise’ beherrscht. Dadurch wird ein anderer gesellschaftlicher ‘Dauerbrenner’ überdeckt, der viele Eltern und ihre Kinder betrifft, beeinflusst und stresst: die Bildungs- und Schulpolitik, die in Deutschland noch immer Sache der einzelnen Bundesländer ist. Dieses Thema wird aber in Zukunft noch eine weitere Brisanz erhalten, da all die Flüchtlingskinder in unseren Schulbetrieb integriert werden müssen, die bereits zu uns nach Deutschland gekommen sind und in den nächsten Jahren noch kommen werden – eine wahre Herkulesaufgabe.

Fragwürdige Bildungsreformen

Bereits seit dem PISA-Schock von 2001 ist die deutsche Bildungslandschaft sowieso kräftig in Bewegung geraten. Da der Bildungsbericht der OECD damals ergab, dass Deutschland in Naturwissenschaften und in Mathematik im Vergleich zu anderen Industrieländern nur mittelmäßig abschneide, wurden im Bildungsbereich umfangreiche Reformen ‘von oben her’ in Gang gesetzt: von den Kultusministerien. Dabei spielte und spielt der Einfluss von Bildungsinstituten, tatsächlichen und vor allem selbsternannten Bildungsexperten, sowie reißerischen Bildungsjournalisten eine entscheidende Rolle. Nicht gefragt wurden die wirklichen Experten für Pädagogik, Erziehung und Bildung: die Lehrer. Auch nicht gefragt wurden die Schüler, die eigentlich Betroffenen jeder Bildungsreform.

Als Lehrer bekommt man seither den Eindruck, dass schon beinahe monatlich eine neue ‘bildungspolitische Sau durchs Schuldorf’ getrieben wird. Ein richtiger Bildungs-Hype ist entstanden, Schule und Bildung sind zu einem gesellschaftlichen Mega-Thema geworden, die Schulen werden nicht selten zu Versuchslaboren für immer neue Ideen von außen her missbraucht. Immer wieder wird verkündet, dass von dieser oder von jener Maßnahme ‘die’ Lösung für die angeblich existierende Bildungsmisere in Deutschland zu erwarten sei. Muss man sich aber nach einigen Monaten oder wenigen Jahren eingestehen, dass diese Maßnahme doch nicht entscheidende Fortschritte oder Lösungen gebracht hat, beginnt die Suche wieder von vorne – immer auf dem Rücken von Lehrern und Schülern ausgetragen. Vor allem auf folgenden Gebieten tobt sich der gegenwärtige Reformprozess aus, der von nicht wenigen erfahrenen Lehrern als ‘Bildungs-Reform-Wahn’ empfunden wird:

  • Bildungsreformen: Fachinhalte werden immer mehr durch bloße Kompetenzen ersetzt. Eine große Illusion, wie ich meine. Hier lügt man sich in die eigene Tasche. Mit Kompetenzen allein kann man keine weiterführende Schule bewältigen oder eine Lehre absolvieren, fachliche Kenntnisse sind auch weiterhin gefragt.
  • Methodenreformen und Digitalisierung: An vielen Schulen wird mittlerweile die Pädagogik mit immer neuen, vor allem digitalisierten Unterrichtsmethoden und -materialien verwechselt oder gleichgesetzt. Natürlich muss sich die Pädagogik neuen technischen und methodischen Entwicklungen stellen. Die Digitalisierung des Unterrichts allein macht aber noch keine (neue) Pädagogik aus. Denn diese darf nicht nur das fachlich-technische Wissen der Schüler zum Ziel haben, sie muss sich vor allem auch um deren Persönlichkeitsentwicklung, Charakterbildung und Werteerziehung kümmern. Hier läuft im Moment etwas gewaltig schief, denn die eigentliche Pädagogik – die Sorge um den einzelnen Schüler und um seine Bedürfnisse – bleibt dann häufig auf der Strecke.

Dabei hat der neuseeländische Bildungsforscher John Hattie in seiner berühmten Mega-Studie ‘Visible Learning’ (zu Deutsch etwa: Lernen sichtbar machen) festgestellt, dass der Bildungserfolg der Schüler gerade nicht von einzelnen Unterrichtsmethoden wie etwa dem computergestützten Unterricht wesentlich abhängt. Entscheidend für einen guten und effektiven Fachunterricht sind vielmehr Faktoren wie die ‘Lehrer-Schüler-Beziehung’ oder die ‘Klarheit der Lehrperson’. Wieso wird John Hattie von deutschen Bildungspolitikern und Bildungsinstituten noch immer so wenig beachtet und ernst genommen?

Auf den Lehrer kommt es an

Bin ich als Lehrer also gegen (notwendige) Reformen im Schulbereich? Nein, überhaupt nicht. Ich wende mich jedoch entschieden gegen jede Methoden- und Bildungsreform, die das Wohlergeben und die Persönlichkeitsentwicklung der Schüler außer Acht lässt. Die Schüler müssen immer im Mittelpunkt stehen – bei jeder einzelnen Reform. Wertigkeit und Reihenfolge von Reformen sind aber heute oftmals in eine Schräglage geraten. Um der neuesten digitalen Reform von Unterrichtsmitteln willen – ich denke da zum Beispiel an reine Tablet- oder Smartphone-Klassen, in denen Schulbücher vollkommen überflüssig geworden sind – werden die wahren Bedürfnisse der Schüler immer mehr vergessen oder ganz übersehen. Schulen dürfen nicht zu Laboratorien für externe Bildungsforscher und Erziehungswissenschaftler missbraucht werden. Schüler sind keine Lernmaschinen, sondern Jugendliche in der Entwicklung und Ausbildung ihrer Persönlichkeit. Gerade im Lehrer brauchen sie einen Menschen,

  • der ihnen neben der Wissensvermittlung Orientierung und Halt gibt – auf ihrem Weg durch die Pubertät und hin zum Erwachsensein;
  • der ihnen notwendige Grenzen setzt, wenn sie über das Ziel hinausschießen;
  • der Mitgefühl zeigt, wenn sie Probleme haben – etwa weil sich die Eltern gerade trennen, eine Beziehung zerbrochen ist oder weil sich ein schulischer Misserfolg eingestellt hat;
  • der sie – einem Magier gleich – immer wieder durch seine Fächer, Themen und Projekte begeistern und aufbauen kann;
  • der empathiefähig ist, einen guten Draht zu ihnen hat und der ihnen in unserer schnelllebigen Zeit ein Anker ist, an dem sie sich immer festhalten können.
Die Schule muss den ganzen Menschen bilden

Unseren Schülern wird zudem viel kognitives Wissen eingetrichtert, ihre Herzensbildung wird in diesem ganzen Getöse des modernen Schulsystems immer mehr übersehen. Offensichtlich will man fast um jeden Preis die Zahl der Realschul-, Fachoberschul- und Gymnasiums-Absolventen in möglichst kurzer Zeit erhöhen, um den Wirtschaftsstandort Deutschland auch in Zukunft zu sichern und global wettbewerbsfähig zu halten. Dagegen ist zumindest grundsätzlich nichts einzuwenden.

Wenn dieses Vorhaben aber auf Kosten der Entwicklung von Herz, Charakter, Wertesystem und Sozialkompetenz der Schüler geht, wenn auf Drängen von Wirtschaftskreisen nur mehr eine wirtschaftliche, naturwissenschaftliche und informationstechnische Ausrichtung der Schulen im Vordergrund steht, dann tut sich unsere Bildungsgesellschaft selbst einen Bärendienst. Der ganze Mensch muss angesprochen werden – auch zu Beginn des dritten Jahrtausends. Dies schließt die sportliche, musische, künstlerische, soziale und die magische Wesensseite der Schüler mit ein. Dazu sollten unsere Schulen eigentlich da sein. Und dies sollten uns Verantwortlichen – uns Eltern, Lehrern und Politikern – doch unsere Kinder wert sein. Sie sind unser bestes menschliches Potenzial und unsere menschliche Zukunft!

Jungen – das schwache Geschlecht

Besondere Zuwendung brauchen die Jungen. Denn sie tun sich in der Schule häufig schwer als Mädchen, vor allem während ihrer Pubertätszeit. Woran liegt das? Seit ich mich intensiv mit der Frage nach der Initiation, also mit dem Prozess der Persönlichkeitsentwicklung und des Erwachsenwerdens beschäftige, habe ich die Situation von Jungen viel besser verstanden. Man könnte es auf folgende Formel bringen: Jungen vermissen männliche Initiations-Mentoren, die ihnen in ihrer Pubertät beistehen und sie bei ihrem Prozess der Persönlichkeitsentwicklung hin zum Erwachsenwerden adäquat und einfühlsam begleiten und ihnen Orientierung geben. Dies soll in folgenden Thesen plakativ zum Ausdruck gebracht werden:

1. These

Heute wird der Kita-Ausbau sehr forciert. Viele Eltern wollen ihre Kinder aus beruflichen Gründen schon im ersten Lebensjahr in die Kindertagesstätte bringen. Die Kinder erleben dort fast ausschließlich Frauen.

2. These

Im Kindergarten haben es die Jungen und Mädchen in der Regel ebenfalls nur mit Frauen zu tun. Auch in der Grundschule gibt es fast nur noch weibliche Lehrerkräfte. Die Kinder treten dann über in die Mittelschule, meist aber in weiterführende Schulen wie Realschule oder Gymnasium. Dort sind heute siebzig bis achtzig Prozent der Lehrkräfte wiederum Frauen.

3. These

Gerade in der Pubertät brauchen die Jungen unbedingt männliche Lehrkräfte, um sich an den erwachsenen Männern orientieren, reiben und messen zu können. Für ihre Entwicklung benötigen Jungen neben dem eigenen Vater, der zudem während des Tages häufig weg von zu Hause ist, weitere männliche Vorbilder in ihrem Pubertätsprozess.

4. These

Fehlen aber Lehrer-Männer, dann ist die Persönlichkeitsentwicklung der Jungen womöglich blockiert oder sie verläuft einseitig in einem zu weiblichen Werte- und Kommunikationssystem ab. Weibliche Lehrkräfte können diesen Mangel nicht wirklich ausgleichen. Jungen brauchen Männer! Jungen müssen täglich einige Stunden lang ‘be-vatert’ werden.

5. These

Jungen haben oft eine wildere Energie, die weiblichen Lehrkräften womöglich unangenehm, unangemessen, suspekt oder gar als gefährlich und ‘schlecht’ erscheint. Jungen aber müssen gerade vor dem Hintergrund des Initiations-Gedankens ihre neue, pubertär erwachte und freigesetzte Initiations-Energie anders und ‘knalliger’ ausdrücken als Mädchen. Dies ist jedoch nicht ‘schlecht’, sondern eher natürlich für Jungen. Jungen sind eben anders als Mädchen.

6. These

Daher benötigen gerade Jungen unbedingt geeignete und rechtzeitig durchgeführte Initiationsrituale, durch die sie ihre Kraft, ihren Mut, ja sogar ihr Draufgängertum zeigen und zur Besinnung kommen können. Und sie sehnen sich nach Anerkennung dafür vor allem von Männern. Hierin liegt eine wichtige pädagogische und gesellschaftliche Aufgabe, die bisher überhaupt nicht gesehen wird.

7. These

Fallen solche Übergangsrituale aus, haben viele Jungen ein Problem. Sie sind in ihrer Entwicklung blockiert, zumindest aber gehemmt, weil niemand da ist, der sie in ihrem innersten Wesen annimmt, sie in ihrem Initiations-Bedürfnis versteht, sie da abholt, wo sie gerade sind und sie liebevoll, mit dem nötigen Ernst, aber auch mit Humor durch ihre Pubertät und hinein ins Erwachsensein führt. Hier sehe ich einen Hauptgrund, warum Jungen zum schwachen Geschlecht im heutigen Schulsystem geworden sind.

8. These

‘Lehrer-Männer’ könnten und sollten solche Mentoren sein, die den Jungen initiatorische Mutproben ermöglichen, ihnen aber auch Grenzen setzen, wenn diese nötig sind. Männliche Lehrer sind schon von ihrem Beruf her eigentlich dafür prädestiniert. Sie sollten jedoch dazu selbst ausgebildet sein, um das Initiations-Potential der Jugendlichen besser erkennen und wertschätzen zu können.

Pädagogik des Herzens – drei Prinzipien

Viele verschiedene Interessensgruppen versuchen heute von außen her, auf das Schulsystem einzuwirken und es umzugestalten. Diese sind Bildungsinstitute, die politischen Parteien, Kultusbehörden, Wirtschaftskreise, Bildungsforscher und Bildungsjournalisten. Solche Einflüsse mögen bisweilen sinnvoll und nützlich sein, wenn es um neue Impulse und Anregungen für die Schule geht. Entscheidend bleibt aber immer der Lernort der Schüler selbst: das einzelne Klassenzimmer.

Die Schüler – Jungen wie Mädchen – brauchen einen menschlichen Ort, wo sie Wärme erfahren und Anerkennung bekommen können. Dieser Lernort wird aber entscheidend durch den Lehrer beeinflusst. Die Lehrerpersönlichkeit ist oft der einzige ‘Ort’, die einzig verbliebene Instanz, die in der Schule von heute menschlich geblieben ist. Dieser Lernort muss auch in Zukunft ‘analog’ bleiben, selbst wenn viele Arbeitsmittel und Unterrichtsmethoden ‘digital’ sein werden. Daher möchte ich zum Schluss drei Prinzipien erläutern, die meiner Erfahrung nach entscheidend für eine gute Lernatmosphäre und für eine Herzens-Pädagogik sind und die wesentlich vom Lehrer gestaltet werden.

Prinzip 1: Liebe zu den Menschen – Liebe zu den Schülern

Wenn man als Lehrer seine Schüler nicht grundsätzlich liebt, sollte man diesen herausfordernden, anstrengenden, aber attraktiven und lebendigen Beruf sein lassen. Die Schüler haben es verdient, einen Menschen vor sich zu haben, der sie in ihrer Entwicklung und Persönlichkeitsreifung wohlwollend unterstützt, sie annimmt, wie sie sind, sie wertschätzt und sie ermutigt, ihren Weg zu gehen. Dies setzt aber beim Lehrer selbst eine gut entwickelte Persönlichkeit ebenso voraus wie eine grundsätzliche Empathie- und Liebesfähigkeit.

Prinzip 2: Erziehung durch Beziehung

Der Lehrer muss die Klasse leiten und führen, den Schülern Orientierung geben, ihnen Wissen vermitteln, ihnen aber auch notwendige Grenzen setzen, wenn sie über das Ziel hinausschießen. Fühlen sich Schüler vom Lehrer gesehen, beachtet, wertgeschätzt, anerkannt und geliebt, dann sind sie in den meisten Fällen bereit, auch schwierige fachliche Themen zu meistern. Dann sind sie motiviert, sich für die Schule ‘reinzuhängen’ und zu engagieren. Eine gelungene Beziehung zwischen Lehrer und Schülern kann Berge versetzen, Begeisterung erzeugen und eine gute Arbeitsatmosphäre schaffen. Wenn moderne Bildungsreformen diese wichtige Ebene der Lehrer-Schüler-Beziehung übersehen, laufen sie ins Leere.

Prinzip 3: Fördern und (heraus)fordern

Kinder und Jugendliche wollen herausgefordert werden – fachlich, aber auch menschlich. Sie wollen sich engagieren für gesellschaftliche Themen, fachliches Wissen und soziale Fragen. Dazu müssen wir Lehrer und die Schulen ihnen die Gelegenheit bieten, sich zu bewähren: Etwa in der Projektarbeit in Kleingruppen, in der Lösung kniffliger fachlicher Fragen, die dann öffentlich präsentiert werden oder in sozialen Aufgaben wie etwa in der Arbeit als Tutor, der jüngeren Schülern hilft. Entscheidend ist dann immer, dass Schüler für ihr Engagement gelobt, anerkannt und gewürdigt werden.

Fazit: Verwandlung statt Veränderung

Bildungspolitik und Schule sollten – neben der reinen Wissensvermittlung – die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder und Jugendlichen stets in den Mittelpunkt jeder Reformtätigkeit stellen und im Blick behalten. Denn nur dann ist sichergestellt, dass eine Reform organisch ist und mit der Entwicklung der Kinder in natürlicher und gesunder Weise korrespondiert. Jugendliche erfahren in der Pubertät und in ihrem langjährigen Prozess der Initiation, also ihres Erwachsenwerdens, eine permanente Verwandlung. Eine Bildungsreform, die von oben kommt, läuft hingegen Gefahr, eine zu abrupte und nur ‘hirnige’ Veränderung von Bildungsinhalten und Unterrichtsmethoden zu verlangen, die kontraproduktiv zur natürlichen Entwicklung und Verwandlung der Schüler steht. Wonach sollte sich also eine Bildungsreform orientieren? Immer an den Bedürfnissen der Schüler und immer aus dem Herzen heraus!

Der Autor:

Peter Maier ist Gymnasiallehrer, Initiations-Mentor und Autor. Er unterrichtet seit 1981 an Gymnasien in Bayern. Er hat langjährige Fortbildungen in integrativer Pädagogik, Gruppendynamik, initiatischer Therapie und christlicher Kontemplation absolviert. Seit 2008 führt er mit Jugendlichen alljährlich das naturpädagogische Initiations-Ritual des ‘WalkAway’ durch.

Er ist Autor dreier Bücher:

  • ‘Schule – Quo Vadis? Plädoyer für eine Pädagogik des Herzens’. ISBN: 978-3-95645-659-6 (epubli-Verlag Berlin)
  • ‘Initiation – Erwachsenwerden in einer unreifen Gesellschaft. Band I: Übergangsrituale’. ISBN: 978-3-86991-406-6 (epubli-Verlag Berlin)
  • ‘Initiation – Erwachsenwerden in einer unreifen Gesellschaft. Band II: Heldenreisen’. ISBN: 978-3-86991-409-1 (epubli-Verlag Berlin)

Nähere Infos und Buch-Bezug: www.initiation-erwachsenwerden.de

Zur Originalausgabe (PDF-Format)

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