Die schulische Integration von Flüchtlingskindern ist mit vielen Problemen behaftet. Fehlende Konzepte, mangelnde Unterstützung, zu wenig Personal, interkulturelle Barrieren – das sind nur einige Stichworte, die in zahlreichen Äußerungen immer wieder an lehrer nrw herangetragen werden. Ein Stimmungsbild.
Norbert Klein* müsste sich das alles eigentlich gar nicht mehr antun. Er ist nach 42 Dienstjahren schon 2011 in den Ruhestand gegangen. Angesichts der großen Herausforderung durch die enorme Zuwanderung von Flüchtlingen im Jahr 2015 entschloss er sich zu helfen. Seit dem 18. August 2015 unterrichtet er Deutsch als Zweitsprache (DaZ) für Flüchtlingskinder an einer Schule im Münsterland. Die Muttersprachen der Kinder seiner Sprachfördergruppe sind Albanisch (Kosovo), Tamilisch und Russisch. Der Unterrichtsalltag ist schwierig, sagt Klein.
Unpünktlichkeit, Hang zum Essen und Trinken während des Unterrichts, Versuche zur Benutzung des Mobiltelefons, mangelnde Lernbereitschaft, fehlende Konzentration und Neigung zum ‘Schwänzen’ fallen überproportional auf. »Man muss also neben der menschlichen Zuwendung gegenüber den Flüchtlingskindern auch die eindeutige Forderung nach Einhaltung von Regeln und die Übernahme von Eigenverantwortung durchsetzen. Hierbei müssen natürlich die Eltern mit einbezogen werden. Dies kann in der Anfangsphase zunächst nur durch intensive Gespräche zwischen Schülern, Eltern, Lehrern und Schulsozialarbeitern mit Hilfe von hierfür geeigneten Dolmetschern erreicht werden«, sagt der erfahrene Pädagoge.
Eins ist ihm besonders wichtig: »Ausgangspunkt und Grundlage einer zielführenden Integration für die Flüchtlingskinder ist letztlich das schnelle und erfolgreiche Erlernen der deutschen Sprache. Hierbei erscheint mir die Einführung von halbjährigen oder ganzjährigen Intensivkursen in Sprachförderklassen als Einstieg sinnvoll, bevor die Einschulung in Regelklassen erfolgt.«
Sprache ist die Basis
Dass das Erlernen und Beherrschen der deutschen Sprache die Basis aller Integrationsbemühungen ist, zieht sich wie ein roter Faden durch fast alle Rückmeldungen, die Lehrkräfte zum Thema ‘Schule und Flüchtlinge’ geben. »Die Sprachförderung muss deutlich ausgebaut werden und erstmal eine Grundkenntnis vorhanden sein, bevor es in den regulären Unterricht geht«, meint zum Beispiel Inga Rothmann. Die Realität sieht allerdings anders aus, sagt die Realschullehrerin. »Der Unterrichtsalltag funktioniert chaotisch und je nach Situation anders. Ich persönlich schaffe es überhaupt nicht, die Integration von Flüchtlingen und individuelle Förderung im eigentlich angemessenen Rahmen zu machen. Irgendwo müssen immer Abstriche gemacht werden.«
Vor diesem Hintergrund beklagt Jürgen Keller, dass es zum Thema schulische und vor allem sprachliche Integration kein Konzept seitens des NRW-Schulministeriums oder der zuständigen Bezirksregierung gebe. In seiner eher kleinen Realschule gibt es eine Vorbereitungsklasse. Hier liegen die Schwierigkeiten in den sehr unterschiedlichen Voraussetzungen: Manche Kinder sind alphabetisiert, andere nicht. Manche haben in ihrem Herkunftsland schon eine Schule besucht, andere nicht. Auch die Altersunterschiede sind erheblich. Eine weitere Differenzierung kann Kellers Schule aber aufgrund Personalmangels nicht leisten.
Vielfach ist eine Förderung unterschiedlichen Leistungsniveaus nicht möglich, schildert Anja Haubner. Verschärft wird die Situation noch durch die Tatsache, dass die DaZ-Klasse an ihrer Schule zum 1. Februar aufgelöst worden ist. Für die sehr engagierte Lehrerin, die die Klasse betreute, sei keine Stelle mehr vorgesehen, weil der Stellentopf leer ist.
Fehlender Respekt
An der Sekundarschule von Rainer Nobis erweisen sich vor allem interkulturelle Barrieren als problematisch: »Probleme gibt es vor allem mit älteren, männlichen Flüchtlingen aus muslimischen Ländern. Mit unserem pädagogischen Verständnis, dass es keine körperlichen Strafen gibt, sondern nur verbale Zurechtweisungen oder Ordnungsmaßnahmen, kommen sie nicht zurecht. Sie erachten dies als Schwäche und zeigen in bestimmten Situationen keinen Respekt gegenüber anderen Schülern, vor allem Schülerinnen ohne muslimischen Glauben. Ebenso gilt dies gegenüber Lehrerinnen und Lehrern. Es gibt Situationen, da wäre es fast zu Handgreiflichkeiten gekommen.«
Kerstin Bach meldet ähnliche Probleme. Der Respekt gerade gegenüber weiblichen Lehrkräften sei kaum vorhanden. Zudem vermisst die Realschullehrerin Unterstützung und Konzepte durch die übergeordneten Ämter: Eine vorausschauende Problemlösungsstrategie gebe es ebenso wenig wie eine Hotline oder eine Beratungsstelle, an der man kompetente Ansprechpartner für Fragen und Probleme hätte. Gerade an Schulen in ländlichen Bereichen fehlten Dolmetscher und Sozialpädagogen.
Integration gelingt durch Spracherwerb und nicht umgekehrt
Gerd Dombrowski, Leiter einer Realschule in Ostwestfalen, sieht den neuen Integrationserlass, den das NRW-Schulministerium ohne Beteiligung der Verbände zum Schuljahresbeginn in Kraft setzte, sehr kritisch: »Schüler sollen vor allem in die Klassen ‘gestopft‘ werden, wo die meisten ihre Zeit absitzen. Integration gelingt durch Spracherwerb und nicht umgekehrt.« Vor Eintritt in die Regelklasse sei mindestens ein Jahr intensive Sprachförderung erforderlich. Flankiert werden müsste dies durch eine schulpsychologische Betreuung vor Ort, da viele Flüchtlingskinder wegen Traumatisierung kaum in der Lage seien zu lernen. Dombrowskis Fazit: »So schaffen wir das nicht.«
Jochen Smets
* Alle Namen sind geändert. Die genannten Personen sind lehrer nrw bekannt, die von ihnen geschilderten Fälle sind authentisch.
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Inklusion der Integration
Der umstrittene Integrationserlass, der den Unterricht für neu zugewanderte Schülerinnen und Schüler regelt, ist seit Schuljahresbeginn in Kraft. Er schafft de facto die Seiteneinsteigerklassen ab, in denen Zuwandererkinder mit gezielter Sprachförderung auf den Unterricht in Regelklassen vorbereitet werden.
Der neue Erlass sieht derartige Lösungen nur noch in Ausnahmefällen vor. Nach einer Übergangsphase, die mit Beginn des kommenden Schuljahrs endet, soll es solche »Klassen zur vorübergehenden Beschulung«, wenn überhaupt, nur kurzzeitig und übergangsweise geben. Grundsätzlich sollen alle Zuwandererkinder – auch mit geringen oder gar nicht vorhandenen Deutschkenntnissen – sofort in die Regelklassen aufgenommen werden. »Inklusion der Integration« bringt der stellvertretende lehrer nrw-Vorsitzende Sven Christoffer diesen Ansatz auf den Punkt.
Die Sprachförderung ist nach Erlasslage nur noch in Ergänzungsstunden zum Regelunterricht vorgesehen und soll ansonsten – ganz nach rot-grünem Credo – in Binnendifferenzierung erfolgen. Im Klartext heißt das: Die Regelklassen werden mit Schülern aufgefüllt, die noch gar nicht sprachfähig sind. Dass das erhebliche Probleme mit sich bringen kann, liegt auf der Hand. Insofern wird es spannend sein zu sehen, was passiert, wenn die Übergangsphase zum Beginn des Schuljahrs 2017/2018 endet. Wie reagieren die Eltern auf die neue Situation? Und wie restriktiv werden die Schulaufsichten – im Wissen um die Sensibilität des Themas – den Erlass anwenden?
Die Position von lehrer nrw ist klar: »Wer nicht Deutsch spricht und nicht dem Unterricht in der Regelklasse folgen kann, wird nicht integriert, sondern ausgeschlossen«, betont Christoffer. Zuerst muss deshalb die deutsche Sprache erlernt werden, und zwar in gezielt dafür eingerichteten Förderklassen. Erst dann kann es einen fließenden Übergang in die Regelklassen geben.
Jochen Smets
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