Über die Verlagerung unseres Lebens in den virtuellen Chatroom

Heute schon gechattet und gepostet? Nach dem Motto: Ich poste und chatte, also bin ich? Kommunikation im Internet lehrt uns offenbar das Fürchten – das ist zumindest das Ergebnis jahrelanger Entwicklung (beschleunigt in den letzten Wochen) in unserer Gesellschaft. Kaum zu glauben für Ignoranten von Chatrooms und Internetforen. Eine Tatsache für Betroffene, die verbal persönlich angegriffen werden und für Gruppierungen, die sich zur Verteidigung ihres Denkens in der Öffentlichkeit gezwungen sehen, um nicht selbst im realen Leben Schaden zu nehmen.

Was macht das Chatten und Posten mit uns? Woher kommt die Gier nach Likes von Fremden? Fühlen wir unsere Persönlichkeit gestärkt? Ist unser Leben in unseren Augen besser, wenn andere dem zustimmen und daran teilhaben? Erleichtert es unser Leben, macht es uns stärker? Empfinden wir das als Bereicherung unseres Alltags? Ist das virtuelle Zusammenleben reizvoller? Klärt es unseren möglichen Gedankenwirrwarr, unsere Unsicherheiten, was richtig oder falsch ist?

Wie Rezo die Politik kalt erwischte

Der junge Musik- und Comedy-Produzent Rezo hat in den letzten Wochen Geschichte in unserem Land geschrieben – politische Geschichte! Ich weiß nicht, ob es seine Absicht war, oder ob er einfach seinen politischen Frust über die etablierten Parteien und den von ihnen initiierten Stillstand in Deutschland rauslassen wollte. Fakt ist jedoch, dass er offenbar einen sensiblen Nerv von Politikern getroffen hat, indem seine Plattform »medialer Demokratisierung« (so seine Fans!) sich mehr als deutlich gegen etablierte Parteien wendet, aktuell besonders gegen die CDU, die dabei offenbar kalt erwischt wurde. Warum? Im Internet gibt es viele Stars dieser Art (häufig selbst ernannt mit entsprechender Fangemeinde) – und täglich füttern sie ihre Anhänger. So what? Die aktuelle Grundstimmung zeigt nun mal, dass Stillstand aktuell in unserem Land keine Option ist – das ist das vorliegende Gemeinsame – es trennt jedoch die Form!

Meinungen von Menschen, von sehr vielen Menschen. Das sollten wir nicht unterschätzen! Die Jugend spricht in erster Linie über diese Wege miteinander. Wir sollten zuhören und reagieren! Besonders mit Blick auf die Tatsache, dass Influencer Geld mit ihrer Tätigkeit im Internet verdienen. Das eröffnet unglaubliche Spielräume und Geldquellen.

Argumente verstehen, gemeinsam Lösungen suchen

Die Grundproblematik einer solchen verbalen Attacke kennen wir aus unserem Unterricht: Will eine Klasse komplett anders als die Lehrkraft oder kritisiert gar deren Vorgehensweise, wird eine pädagogisch gut ausgebildete Person mit Sicherheit das Gespräch mit den Schülern suchen und nicht den Willen der Schüler brechen! Und schon gar nicht mit ‘Basta’ oder Verboten kommen! Der erste Schritt ist es doch, die Argumentation der Schüler zu verstehen und erst dann gemeinsam nach Lösungen zu suchen. Denn erst eine Begegnung auf Augenhöhe macht es möglich, sich gegenseitig zu verstehen, und erst dann kann nach Lösungen gesucht werden. Wer weiß das besser als wir aus unserem differenten Alltag heraus?

Diejenigen, die wie Bullen auf das rote Tuch losgehen, zeigen lediglich ihr Unvermögen, mit differenten Meinungen umzugehen. Es disqualifiziert diese Kollegen als Pädagogen, hier in unserem Beispiel die Politiker. Denn die erste Aufgabe ist es, wie unser großer Vorsitzender, Hansjoachim Kraus, seinem Nachfolger Ulrich Brambach und mir immer wieder einschärfte – im O-Ton: »Lass dich nicht verblüffen!« In der Tat ist es am besten, in Streitsituationen zunächst einen kühlen Kopf zu bewahren und nicht mit spontanen Erstmeinungen oder aus einem Gefühl heraus (Empörungsgebaren) zu agieren. Denn schon hat man verloren – in Beziehungen, in Klassen, in Gruppen, im Internet, in der Politik. Bätschi eben! Geht nicht, wie wir wissen. All lost. Souverän geht anders.

Der schmale Grat zwischen Meinungsfreiheit und Hasskommentar

Was müssen wir unseren Schülern denn nun beibringen, um sie auf diese Art der Kommunikation vorzubereiten, die aus dem Internet heraus Politik macht und auch durchaus Einfluss auf unseren privaten Lebensraum nimmt (gewollt oder ungewollt)? Welches ist der Wert, der in Schule vermittelt werden muss? Menschen müssen in der Lage sein, auf der Grundlage von Fakten und von Meinungen anderer Menschen, diese voneinander zu trennen; sie müssen Interpretationen als solche erkennen können und zu einer eigenen fundierten Meinung finden können – zunächst möglichst unbeeinflusst von anderen Menschen. Ist die eigene Meinung gefasst, sollte sie mit anderen abgeglichen werden. Influencer aller Couleur müssen insofern als solche von jedem Menschen enttarnt und kritisch überprüft werden. Dabei muss klar sein, dass die Follower-Kultur lediglich eine Fankultur ist, in der sich die eigene Begeisterung für eine mögliche Mainstream-Meinung zeigt, die überprüft werden muss – von jedem User und Follower! Denn der Grat zwischen Meinungsfreiheit und Hasskommentar ist schmal, wie die tägliche Praxis zeigt. Hier gilt es, klare Kante zu zeigen!

Der Einfluss der Influencer

Wir in der Schule haben auf diese Weise Medienerziehung zu praktizieren, in jedem Unterricht. Ziel muss der mündige Bürger sein, der zu einer eigenen, für sich klar formulierten Meinung kommen kann und sich nicht im Follower-Dasein verliert.

Das kann eine Grundlage sein, die der Manipulation des Internet entgegenstehen kann – es fordert alle selbst täglich heraus und erfordert eine eigene klare Meinung zum Leben selbst – in allen Bereichen, die uns persönlich betreffen.

Was heißt vor diesem Hintergrund Demokratie für unsere künftige Gesellschaft? Alle, die nicht im Internet unterwegs sind, bleiben »außen vor«? Wer zuerst postet, gibt das Ziel und die Meinung vor? Die Schere zwischen Jung und Alt ging bei der aktuellen Europa-Wahl deutlich auseinander. Influencer geben auf dem Weg übers Internet ihren Followern vor, wie zu wählen ist (gewollt oder ungewollt).

Die Jugend meldet sich zu Wort

Um Missverständnissen vorzubeugen: Es ist gut, wichtig und bitter nötig, dass sich die Jugend politisch zu Wort meldet. Die mitunter hilflosen, bisweilen panikartigen Reaktionen der etablierten Parteien – ob nun auf Rezo oder die ’Fridays for future’-Bewegung – zeigen, dass da eine als politisch uninteressiert abgestempelte Generation völlig unterschätzt wird. Ihr Forum ist das Internet. Es ist schnell, direkt und fast überall verfügbar. Darin liegt Chance und Risiko zugleich. Die Schnelligkeit der Verbreitung von Nachrichten hindert so manches Mal die Wahrheit daran, sich durchzusetzen (Stichwort ’Fake News’). Betrachten wir diese Entwicklung, so wird es Zeit, dass wir unseren Schülern beibringen, wie sie sich stark machen können, um Fake News zu erkennen oder einem Shitstorm im Internet zu begegnen, ohne sich zu verlieren oder mental abzustürzen. Wir müssen unseren Kindern und unseren Schülern beibringen, zu sich selbst zu stehen, ohne sich bei anderen anlehnen zu müssen! Erst wenn sie das begriffen, erprobt und gelernt haben, können wir sie guten Gewissens in die – auch digitale – Welt entlassen.

Schüler fit fürs Leben machen

Die Unabhängigkeit von der Meinung anderer Menschen und die Besinnung darauf, was mir selbst im Leben wichtig ist und mich für alle Situationen stählt – das sind wesentliche pädagogische Ziele, die im Unterricht immer mitschwingen sollten. Schüler fit fürs Leben zu machen – das muss wieder ein Grundanliegen heutiger Schul-Pädagogik werden!

Brigitte Balbach

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