Meinungsfreiheit in Gefahr

’Jeder Mensch ahnt, dass er Abgründe des Bösen in sich hat.’ Unter diesem Artikel vom 26. Oktober in der Zeitung ’DIE WELT’ verbarg sich die Frage: »Gibt es heute mehr von diesen bösartigen Narzissten als früher?«, die einleitend mit folgendem Hinweis ergänzt wurde: »Aus der Forschung wissen wir, dass der Narzissmus generell zunimmt, seit der Jahrtausendwende, der digitalen Revolution.«

Nun haben wir die Wahl, diese Entwicklung als gegeben anzunehmen – sozusagen als einen Kreislauf philosophischen Denkens, nach dem alles im Leben wiederkommt und der halt hinzunehmen ist – oder täglich aktiv dagegen zu halten, privat und dienstlich.

Hetze statt Argumente

Schauen wir uns doch einmal die Realität im öffentlichen Raum aus den letzten Wochen diesbezüglich an, bevor wir entscheiden.

Ein Professor, Wirtschaftswissenschaftler, wird daran gehindert, in seiner Hochschule zu lehren. Sowohl diezuständige Bildungssenatorin als auch der Präsident der Universität stimmten dem Auftritt des Betroffenen zu, obwohl sie wussten, dass die Person in der Öffentlichkeit durchaus umstritten ist, weil der Betroffene, Bernd Lucke, eben AfD-Gründer ist. Der Präsident sprach auch davon, dass die Universität eine solch »diskursive Auseinandersetzung« »aushalten müsse«, so die WELT. Falsch gedacht!

Ein weiteres Beispiel: Anfang der letzten Woche wurde Thomas de Maiziere (CDU), der frühere Kanzleramtschef und Bundesinnenminister, in Göttingen von Demonstranten durch eine Blockade daran gehindert, eine Lesung aus seinem Buch ’Regieren’ abzuhalten. Vorher hatte er den Protestlern angeboten, mit ihnen über ihre Vorwürfe zu reden – vergebens. Er wurde offenbar niedergebrüllt, wie berichtet wurde. Es kam sogar zu Übergriffen!

Der WELT-Artikel endet mit dem Hinweis aus einer Allensbach-Umfrage, nach der zwei Drittel der deutschen Bevölkerung der Ansicht sind, sie müssten »sehr aufpassen, zu welchen Themen man sich wie äußert«. Und so verkommt unsere Gesellschaft dazu, nur noch zu sagen, was genehm ist und keinen Ärger einbringt. Na toll!

Wer sich der Gruppe nicht unterwirft, wird niedergemacht

Eine bedenkliche Entwicklung finden wir auch im Internet: Das Mobben von Schülerinnen und Schülern untereinander durch das Posten von hässlichen und verleumdenden Kommentaren ist offenbar ein probates Mittel geworden, Menschen niederzumachen, die sich bestimmten Vorgaben und Ansagen von Einzelnen oder Gruppen nicht unterwerfen wollen!

Das gilt übrigens nicht nur für jugendliche Gruppen, sondern auch zunehmend für Gruppen von Erwachsenen. Man spricht oder grüßt sich nicht mehr, man spricht laut oder leiser hässlich vom ’Opfer’ – und wartet, ob bzw. wann dieses sich der Gruppe unterwirft, also quasi aufgibt. Heißt: sich ohne klare eigene Überzeugung dem Mob und seinen Regeln ausliefert. Es braucht schon eine große Portion Selbstbewusstsein, um in einer solchen Situation nicht mental unterzugehen.

Wie wir Lehrkräfte wissen, kann man das trainieren. Schließlich ist das unser tägliches Brot! Wer das nicht durch Training (Versuch, Irrtum, Erfolg? Versuch…) versucht, der wird kaum ein guter Lehrer sein können (werden schon!) Denn es gehört mehr zum Lehrer-Dasein als eine möglichst gute universitäre (oder vergleichbare) Ausbildung! Liebe zu Schülern und Eigenliebe sind vonnöten.

Können wir andere Meinungen und Gesinnungen zulassen?

Aber selbst bei den diesbezüglich besten Vorzeichen bleibt es dabei, dass es ein gesellschaftliches Miteinander geben muss, welches den Diskurs von Seite und Gegenseite schätzt und andere Meinungen und Gesinnungen zulassen kann, egal, wie kontrovers und wie vehement diese vorgetragen werden. Und auch dann muss uns der gesellschaftliche und politische Diskurs gelingen, wenn die Gegenseite wild und ungestüm und zunächst auch halsstarrig an der eigenen Meinung festhält.

Gesellschaftliches Handeln in einer demokratischen Gesellschaft muss vom lebhaften Diskurs leben, ansonsten sollten wir uns für einen totalitären Staat oder eine Diktatur entscheiden. Dieser Zusammenhalt trotz diverser Meinungen kann jedoch nur gelingen, wenn wir alle mutig unsere echte Meinung sagen, Auseinandersetzungen nicht scheuen und unseren Kindern, eigenen und uns anvertrauten, beibringen, wie schön und wertvoll es ist, in einer freien, pluralistischen Gesellschaft aufzuwachsen und zu leben.

Zeigen, wie frei wir sind und wie wir frei sind

Es wird immer Menschen geben, die sich auf dem Rücken anderer zu profilieren wissen – gebieten wir ihnen Einhalt – täglich und überall. Das kann unbequem und mühsam sein. Aber es ist es wert angesichts unserer Vision von einem freien Land mit einer Gesellschaft, die um die Meinungsfreiheit des Einzelnen weiß und bereit ist, täglich um sie zu kämpfen, auch dann, wenn der Einzelne für sein Standing in der Öffentlichkeit kämpfen muss – und manchmal auch verliert! Der Preis dieses leidenschaftlichen Engagements für die Meinungsfreiheit in unserem Land kann nicht zu hoch sein! Täglich sehen wir Menschen, die von weit her zu uns kommen wollen. Sie hoffen auf ein besseres Leben und auf eine Freiheit, die sie bisher in ihrem Leben nicht hatten. Wir könnten ihnen zeigen, wie frei wir sind und wie wir frei sind.

Wenn Diskurs im öffentlichen Raum jedoch bei uns nicht mehr uneingeschränkt möglich ist, müssen wir ihn in Schule wieder trainieren, täglich und in jeder Unterrichtsstunde und in jeder Konferenz. Es steht zu viel auf dem Spiel, als dass wir diese Entwicklung als Lehrer und Bürger einfach hinnehmen dürften und uns zu arrangieren versuchten! Wenn wir den Mut nicht aufbringen, den Kindern zu sagen, was richtig ist, nämlich was Freiheit heißt und wo sie ihre Grenzen hat, wer denn dann? Das ist nicht nur unsere Aufgabe, unsere Pflicht, sondern im besten Fall unsere Berufung. Und wer sollte in unserer Gesellschaft mehr Hingabe an unsere gesellschaftlichen, schwer errungenen christlichen Werte aufbringen können, als wir Lehrer, die von ihrer Tätigkeit oft eher von einer Berufung denn von einem Job sprechen.

Schützen wir die Meinungsfreiheit

Von dieser Berufung, nämlich Kinder zu lieben und ihnen ein gutes Rüstzeug für ihr Leben zu vermitteln – und von der Kraft, andere Menschen und ihre Meinungen anzunehmen und sich mit ihnen ohne Gewalt und Ressentiments auseinander zu setzen – sollten wir auf keinen Fall lassen. Es ist ein zu hohes Gut – diese Meinungsfreiheit! Sie ist zurzeit in Gefahr! Schützen wir sie!

Brigitte Balbach

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