Worauf es jetzt ankommt

Wir leben in seltsamen Zeiten – so etwas wie heute war noch nicht da, zumindest was meine und die vorherigen Generationen anbetrifft. Eine Bedrohung der Menschheit hat sich unter uns still und heimlich breit gemacht, die Ängste, Horrorvisionen, Chaos, Depressionen und Unsicherheiten bei den Menschen in aller Welt hervorruft. Vergleichbar ist das durchaus mit einer Kriegssituation: Allerdings bleibt der Feind verborgen, agiert verdeckt und lässt sich von ’probaten’ Mitteln einer Kriegsführung nicht beeindrucken. Er agiert weitgehend unsichtbar und ist mit Händen, Augen und Verstand zunächst kaum greifbar – meist erst im Nachhinein, wenn er bereits Schaden hat anrichten können. Fieber teilt uns mit, dass er uns attackiert hat. Für Abwehr ist es dann bereits zu spät! Da die Lebensgefahr unsichtbar agiert, scheint die Gefahr für uns viel größer als bisherige Bedrohungen unseres Lebens.

Wenn der Mitmensch zur Bedrohung wird

Keiner kann sicher sein, dass er der Krankheit entgehen kann – auf so viele einsame Inseln können wir gar nicht flüchten. Und paradoxerweise ist es gerade der Mitmensch in der Nachbarschaft, bei der Arbeit, in geselligen Runden, im Freundeskreis, unterwegs beim Shoppen oder in Bus und Bahn, der zunächst als latente Bedrohung unserem Leben ein Ende durch Ansteckung bereiten kann. Von jetzt auf gleich! Plötzlich und unerkannt!

Das Miteinander, das uns philosophisch gesehen eigentlich stärken und zu besseren Menschen werden lassen könnte, führt jetzt paradoxerweise im schlimmsten Fall zu unserem Tod.

Die Gemeinschaft kann nicht helfen

Und so sind wir gezwungen, unsere gesellige Ader eine Zeit lang beiseite zu legen, bei uns selbst zu bleiben und abzuwarten, wie sich die Dinge entwickeln. Wir können jetzt einfach nichts Anderes tun, als einander zu meiden. Damit ist jedes Ich, jeder Einzelne, zunächst ohne Wenn und Aber auf sich gestellt. Die ’Herde’ kann nicht helfen! Keiner von ihnen zurzeit! Jeder muss sich selbst ins Antlitz schauen und mit sich klar kommen – mit seinen Ängsten, seinen Bedenken, seiner erzwungenen Einsamkeit, seinen jetzt unerfüllbaren Wünschen und Sehnsüchten. Er hat zurzeit nichts als nur sich selbst, auch wenn er in Familie lebt.

Meiden, was und wen man liebt

Sollte ein Mensch krank werden, muss er sich auch von seinen Liebsten zu seinem und zu ihrem Schutz trennen. Das ist ein Paradoxon! Ich meide, was ich liebe – Geselligkeit!? Philosophisch gesehen ist das eine interessante Erscheinung: »Meide, was du liebst!« Und übersetzt: »Nimm dich selbst wahr, kümmere dich nun um dich selbst! Zieh dich von anderen Menschen zurück. Sorge für dich selbst. Liebe dich selbst! Und wenn du gesund wirst: Liebe wieder auch andere Menschen!« Liebe in Zeiten von Corona heißt dann: Wen du liebst, den lässt du sein (so wie er jetzt ist, und wie er es jetzt braucht)! Auch das ist christliche Liebe – den anderen Menschen lassen, sein lassen, das andere Sein lassen! Und wenn ich selbst erkranke, mein Sein lassen!
Und zulassen, was das Leben für unser persönliches Sein zulässt! Wir Christen sagen auch mit anderen Worten: Mein Leben ist in Gottes Hand! Und dort, so glaube ich fest, bei Gott, sind wir alle geborgen, ob wir leben oder nicht!

Über die wesentlichen Dinge des Lebens sprechen

Was wir Menschen jetzt brauchen, um mit dieser mentalen Last leben zu können, ist gegenseitige Liebe, Zuwendung, Zuneigung, Trost. Besonders unsere Kinder, unsere Schülerinnen und Schüler brauchen das. Wir sollten ihren Alltag deshalb nicht nur verwalten und mit sinnvollen Aufgaben füllen, die altbekannte Ziele anstreben, oder sie beschäftigen, um die unsicheren Zeiten sinnvoll auszufüllen und zu überbrücken. Wir sollten mit ihnen die wesentlichen Dinge des Lebens besprechen, über ihre aktuellen Ängste sprechen, mit ihnen Furcht und Besorgnis teilen und gemeinsam Hilfen suchen, die diese beängstigenden Zeiten erträglich machen können. Wir sollten den Schülerinnen und Schülern Liebe entgegenbringen – in schwierigen, belastenden Zeiten ist das das Wichtigste, was wir ihnen schenken können: Aufmerksamkeit und Liebe. Nur das kann Angst erträglich machen.

Die Essenz des Lehrer-Seins

Schüler achten und ehren, ihnen Zuversicht und Mut vermitteln, für sie da sein – das ist jetzt in meinen Augen wichtiger als alles andere. Das kann jede Lehrerin und jeder Lehrer tun, ohne große Vorbereitung, ohne planerische Gestaltung, ohne Vorgaben von Ministerien, ohne Anweisung von Vorgesetzten, einfach aus dem Grund heraus, aus dem er oder sie Lehrer geworden ist: aus der Liebe zu Kindern!

Bleiben Sie gesund – besonders in unruhigen Zeiten! Sie werden gebraucht!

Brigitte Balbach

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