Über die Notwendigkeit, Flagge zu zeigen.

Wenn das mal so einfach wäre, immer klar zu sagen, wie man etwas findet oder wofür man steht. In Deutschland gelingt uns das zurzeit nirgendwo. Fast überall im Land stehen fast täglich Menschen auf, um nein zu sagen: Nein zu Migranten, nein zu Rechts, nein zu Linken, nein zu Pöblern, nein zu Rechtspopulisten, nein zu Linksdemonstranten, nein zu Gewalttätern, nein zu Polizeigewalt, nein zu Regierenden, nein zu Europa, nein zu Trump usw.! Unser gesellschaftlicher Zusammenhalt geriert sich geradezu aus einem Nein – egal wogegen! Ja, fast eint es uns als deutsche Nation, dieses fast trotzige Nein-Sagen, das sich lauthals Bahn bricht aus unserem verstörten Herzen, um dieser Beklemmung, die uns in der letzten Zeit erfasst hat, Luft zu verschaffen, sie herauszuschreien aus unseren Ängsten, die täglich durch unsägliche gewaltorientierte, radikale Entwicklungen erneut geschürt werden.

Geborgen in der Masse von Nein-Sagern

Mit dieser Gesamtentwicklung sind wir offenbar in Europa nicht allein: Die Angst vor dem oder den Fremden, die täglich in vermeintlich riesigen Schwärmen von weither zu uns strömen, ballt sich in den Ländern um uns herum zusammen und führt zu politischen Strömungen, von denen wir ebenfalls erfasst werden und die auch bei uns ihr Unwesen treiben: Die Märsche gegen Menschen!

Märsche vermitteln dem Einzelnen, der mit ihnen läuft, Geborgenheit, Dazugehören, Eins-sein mit den Menschen um ihn herum. Er weiß sich geborgen – in einer Masse von Nein-Sagern, die zwar nicht genau wissen, ob der Mensch neben ihnen das gleiche will, der aber sieht, dass er ebenso ruft und schreit und offenbar auch so empfindet wie er selbst: Dagegen sein! Sich aufregen! Dabei sein! Den Mund aufmachen! Den Frust rausschreien! Seinem Unmut, seiner Verzweiflung Worte geben! Geht doch – ich lebe! Ich gehe für etwas Höheres auf die Straße! Ich gehöre dazu – zu Menschen, die das Gleiche wollen wie ich.

Das Emotionalisieren von Menschenmassen ist ein uraltes Phänomen, dessen Gefährlichkeit in der Geschichte der Menschheit schon oft dokumentiert wurde. Meist vergeblich – das Phänomen kommt immer wieder, fast zyklisch. Die Alten unter uns erinnern sich noch an das letzte Mal … und bekommen Angst.

Mal ‘ne kleine Demo zur Gewissenberuhigung reicht nicht

Die Aufwertung rechtsradikaler Gruppen, die massiv Ängste in der Bevölkerung schüren, geht mit dieser Entwicklung einher. Nur mal alibimäßig gegen rechts aufzustehen, reicht nicht. Das stärkt rechts eher noch! Gleiches gilt übrigens für links, auch wenn uns hier zurzeit die historischen Vorbilder ’fast’ fehlen! Es ist nicht damit getan, nur einmal aufzustehen und zur Gewissensberuhigung an einer Gegendemo oder einem Gratiskonzert teilzunehmen. Wir müssen standhaft bleiben, dagegenhalten, Flagge zeigen, unsere Werte leben – nicht nur einmal, sondern immer. Zuhause, in der Schule, auf der Straße, in der Facebook-Gruppe.

Fakt bleibt, dass das Nein-Sagen sich immer gegen jemanden richtet! Es zeigt keinen Weg zu einem Ja auf. Auch das emotionale Herausschreien eines gemeinsamen Anliegens ist nicht hilfreich, da es immer wieder und ausschließlich nein sagt zu etwas oder zu jemandem.

Wofür stehen wir?

Der Ausweg aus dieser aussichtlosen Gemengelage ist schlicht und einfach die Frage: Wofür stehen wir? Wozu sagen wir ja? Was wollen wir genau? Welches sind unsere Werte? Welches ist unsere Philosophie bei der Menschwerdung? Was geriert unser Sein als Menschen? Was ist uns wichtig? Wofür stehen wir auf? Nicht etwa: Wir stehen auf! Nein: Wofür tun wir das? Welche Werte unseres christlichen Abendlandes sind uns wichtig?

Der Gutmensch in Deutschland sagt nein zu Alkohol, zu Süßem, zu ungesundem Essen, zu ‘no sports’, manchmal nein zu Migranten, als würden sie uns etwas wegnehmen. Wir streiten darüber an Stammtischen, wir halten Reden an Theken und in Politdiskussionen und outen uns darüber in täglichen Talkshows. Doch wir reden nie darüber, wofür wir stehen und welches unsere Werte sind.

Menschenverachtung oder Menschenwürde?

Dafür ist es höchste Zeit. Wir müssen uns zu unseren Werten bekennen – laut und deutlich. Fangen wir doch heute einfach mal an. Beim Stammtisch oder im Lehrerkollegium. Das sind wir unseren Kindern und Schülern schuldig. Denn sie müssen ja irgendwann einmal wissen, wofür sie mit uns in der freiheitlich-demokratischen Tradition stehen: für Menschenverachtung oder für Menschenwürde! Das sind wir ihnen als Eltern und Lehrer schuldig!

Brigitte Balbach

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