Vom aufmerksamen Umgang mit unserer Menschenwürde

Digitalisierung ist gesellschaftlich gesehen offensichtlich das neue Zauberwort. Keine Veröffentlichung ohne digitale Begleitung, keine Parlamentsdebatte, kein medienwirksamer Exkurs ohne differierende Meinungen zu diesem Thema, keine Bildungsoffensive ohne digitale Note. Digitalisierung über alles – das ist das neue Credo! Wer daran glaubt, gehört zu den neuen Helden. Wer als öffentlicher Guru wahrgenommen werden möchte, postet alle seine Handlungen und Überlegungen direkt auf Facebook, Instagram und Co. – und das täglich.

Der persönliche Werteausverkauf hat begonnen. Um berühmt und bekannt zu werden, reicht die digitale Welt … man könnte glatt Karriere machen ohne dunklen Anzug und Nobelkarosse, stattdessen im Schlafanzug vom Bett aus die eigenen neuesten Gedankenergüsse, seien sie auch noch so schmal, minütlich bis stündlich posten oder alternativ über jeden Schritt des Tages öffentlich Rechenschaft ablegen – per Foto. Und das, wo immer man sich auch gerade befindet. Der eigene Erfolg rekrutiert sich folgerichtig aus der Anzahl der Follower, nicht aus Überzeugungen!

 

Jenseits von ’1984’

Das, was wir Älteren zu unserer Schulzeit in erregten Diskussionen im Deutschunterricht beim Lesen und Diskutieren des Buchs ’1984’ von Orwell gefürchtet und als haarsträubenden Horror für unsere Zukunft angewidert abgelehnt haben, bedienen wir heute in unserem Alltag unbedacht und unreflektiert selbst – die moralische Entblößung und Aufgabe des sich selbst reflektierenden Ichs. Es gilt nicht mehr: »Ich denke, also bin ich – Cogito ergo sum« (Descartes), sondern »Ich poste, dann bin ich!«

Unsere Ziele sind auch für unsere Zukunft die alten – weiteres Wirtschaftswachstum sowie Bildungswachstum (Abitur für alle), was grundsätzlich durch steten Quasi-Wettbewerb gewonnen werden soll. Alles wird unter dem Begriff Ökonomie bewertet, sie ist die Richtschnur unseres Handelns, das unsere Zukunft bestimmen soll: mehr Abiturienten, mehr Follower, mehr Geld für Alle, mehr Bildung für die breite Masse – alles möglichst ohne große Anstrengung: »Wir nehmen jeden mit«. Wir bieten Bildung nicht mehr offen für alle an, sondern verteilen sie vermeintlich (zumindest ihren Abschluss) möglichst gleichmäßig auf alle – und das nennen wir dann Bildungsgerechtigkeit! Dabei bleiben Intention, Anstrengung und Mühe, also klare Anforderungen eines jeden Lebens, auf der Strecke! Die vermeintliche Absicht lautet entweder »Was das Leben dir versagt, wird dir geschenkt« oder »Wir halten Menschen dumm, indem wir sie um jeden Preis (be)-fördern!«

 

Bildung ohne Fundament

Damit kreieren wir eine Zukunft, die ihre Wurzeln nicht mehr in unserer geschichtlichen, tradierten, gewachsenen Vergangenheit hat und aus deren Wert-Schätzen wir schöpfen könnten, sondern eine Zukunft »ohne Fass und Boden«. Die Fässer in der Bildung sind heute schon leck – wer verfügt denn noch über erlerntes Wissen und tradierte angeeignete Bildung im tatsächlich und historisch verstandenen Sinne? Latein ist schon fast abgeschafft … Benotungen auf dem Rückmarsch … Lehrerexpertise durch Lehrerausbildung stirbt vor sich hin…

Und die Verlage von Schul- und Lehrbüchern schwimmen auf dieser Nivellierungswelle mit: Auf einer Infoveranstaltung eines Verlages wurden uns Teilnehmern fertige Unterrichtsstunden mit allem Drum und Dran angeboten, wie Stundenabläufe, Materialien usw., ohne dass wir auch nur zur Vorbereitung einen Handstreich tun müssten. Digital versteht sich, direkt vom Kopf des Verlages in die Köpfe der Leerer, sorry ’Lehrer’! Wenn das unsere Zukunft sein soll, brauchen wir uns nicht über fehlende Lehrerexpertise aufzuregen. In Zukunft werden wir nach der jetzigen Entwicklung als ausgebildete Lehrer gar nicht mehr gebraucht. Das Lehrerdasein ist ein entpersonifizierter Selbstläufer, der Lehrer ein sogenannter Follower, dem seine Schüler auf Insta-gram und Facebook nachlaufen, weil er so hip ist, nicht aber wegen seiner Expertise. Der Lehrer ist abgeschafft – es lebe der Lehrer!

Was spricht denn für einen gut ausgebildeten Lehrer, wie wir ihn heute kennen? Welche Werte gibt er denn an seine Schüler weiter? Was macht ihn zum Experten?

 

Auf welche Werte kommt es an?

Kommen wir zum Kern eines Unterrichtsgeschehens, zum Wesentlichen in Schule, zu dem, was Schüler dort lernen können für ihr Leben jenseits vom Unterrichtsstoff: Das sind ganz klar und unmissverständlich die Werte unserer Gesellschaft. Als Erstes rede ich hier von Meinungsfreiheit: Schüler lernen im Unterricht durch den jeweiligen Stoff, durch die Inhalte des Unterrichtsgegenstands, sich eine eigene Meinung zu bilden, diese schriftlich und mündlich in Worte zu fassen und Mitschülern gegenüber formulieren und verteidigen zu können, und dies ohne Hass, Ablehnung oder sprachliche oder körperliche Gewalt anzuwenden. Ein hohes Ziel, das in unserer Gesellschaft nicht mehr weit verbreitet ist.

Rücksicht auf Mitschüler geht damit möglicherweise einher. Diese Rücksicht auf andere muss eingeübt werden. Zum einen, weil man sich dafür selbst zurücknehmen muss, zum anderen, weil es nicht immer auf Anhieb gelingt und man diesen Wert antrainieren muss. Ich glaube, jeder Leser wird mir zustimmen, dass dies lebenslang erlernt werden muss! Die Akzeptanz Andersdenkender ist ein weiteres Anliegen des Unterrichts: Es geht nicht um jeden Preis darum, andere Schüler von meiner Meinung zu überzeugen, sondern auch, die andere Meinung hinzunehmen, sie zu bedenken, sie stehen zu lassen, auch dann, wenn sie mir nicht passt. Damit verbunden ist die Achtung vor jeder anderen Persönlichkeit! Verlässlichkeit wird in Schule gelehrt: Tu, was du sagst, und sag, was du tust. Dazu zählt auch die Loyalität untereinander und zu sich selbst!

 

Stille und Achtsamkeit

Es gibt aktuell in unserem gesellschaftlichen Miteinander eine relativ neue Entwicklung, die aufmerksam macht: die Rückkehr zur Stille! Es boomen zurzeit Zeitschriften, die sich dieser Entwicklung stellen und sie begleiten. Dabei geht es bei Hygge, Flow und anderen um die Hinwendung zu einer neuen Art der Aufmerksamkeit für das Leben und die Welt durch Stille, Achtsamkeit und Loslassen. Dies geschieht mit dem Ziel, sich selbst nicht aus den Augen zu verlieren und stärker auf sich zu achten wegen unserer Seele und unseres Körpers.

In England lehrt man diese Achtsamkeit in den Schulen und zeigt den Schülern, wie sie achtsam mit sich und anderen umgehen können. Ein Ansatz könnte auch bei uns sein, Stille zuzulassen und aus ihr zu schöpfen. Ich bin davon überzeugt, dass wir nicht früh genug damit beginnen können, aus Stille zu schöpfen und uns aus ihr immer wieder neu zu kreieren!

Brigitte Balbach

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