Der Kinder- und Jugendpsychiater Dr. Stefan Battel wird künftig regelmäßig Antworten auf Fragen aus dem Lehrer alltag geben. Diesmal geht es um eine kleine Beobachtung im Wartezimmer eines Zahnarztes.

Ich saß in einem recht gut besuchten Wartezimmer, als eine etwa Mitte zwanzigjährige Mutter mit ihrem rund vierjährigen Jungen das Wartezimmer betrat. Während die Mutter auf dem Sprung in eins der zehn Behandlungszimmer war, drückte sie noch kurz ihrem Sohn hastig ein Touch-Pad in die Hände, welches beim Umschlagen des Schutzcovers direkt Bilder in verschiedensten Farben zum Berühren des Bildschirms einladend präsentierte. Der Junge schien geübt in der Handhabung des Gerätes, und während die Mutter aus dem Wartezimmer in den Behandlungsraum verschwand, fokussierte sich der Junge wie in einem vorgegebenen Programm auf die ihn anleuchtende Szenerie.

Ich erinnerte mich an meine Kindheit und überfüllte Wartezimmer bei Zahnärzten. Nun ist das schon mehrere Jahrzehnte her, und ich weiß noch, wie langweilig ich diese überfüllten Wartezimmer empfand. Ich ließ damals meinen Blick umherschweifen und beobachtete die verschiedensten Menschen in dem Wartezimmer und machte mir Gedanken über ihr Aussehen, beobachtete Interaktionen und vielleicht einen Gleichgesinnten Leidensgenossen oder eine Leidensgenossin. Man tauschte flüchtig Blicke aus. In einer günstigen Sitzposition konnte man eventuell aus dem Fenster schauen und einfach mal versuchen, an gar nichts zu denken.

Damals wurden alle meine Sinne angesprochen und entsprechend bedient: Der verschnupfte Nachbar links neben mir. Ein verzweifeltes Gefühl, nicht von der netten Arzthelferin aufgerufen zu werden. Dann Fokussierung auf meine sich taub anfühlenden Gesäßmuskeln auf den viel zu alten Plastikstühlen. Mein Schamgefühl angeregt durch die ältere Dame rechts neben mir, die mich ständig fixierte und zudem meinen Geruchssinn mit ihrem zu stark aufgetragenen Parfüm anregte. All diese Dinge nahm ich in Millisekunden parallel war und ordnete sie entsprechend ein. Zwischendurch dachte ich an die noch unerledigten Hausaufgaben, freute mich auf das anstehende Weihnachtsfest, imaginierte mir einen bescheidenen Wunschzettel und empfand eine schier endlose Freude, als die Arzthelferin meinen Namen aufrief.

Während ich so in Gedanken schwelgte und den Jungen aus den Augenwinkeln beobachtete, roch ich diesmal ein viel zu starkes, aus den siebziger Jahren anscheinend überlebendes Herrenparfüm und empfand auch hier Jahrzehnte später die Plastikstühle als nicht einladend. Während ich also parallel mehrere Sinneseindrücke gleichzeitig verarbeitete, hörte ich meinen Namen aufrufen. Beim flüchtigen Blick auf den Jungen, der zu keinem Zeitpunkt den Blick von der sich vor ihm abspielenden Szenerie abließ und dessen Finger schier unermüdlich weiter über den kleinen Bildschirm tanzten, überlegte ich mir, welche Sinneseindrücke dieser Junge aus der Szenerie des Wartezimmers mitnimmt bzw. welche Sinne hier angeregt, moduliert in einem ICH integriert und als erinnerte Erfahrung abgespeichert werden…

Zur Person:

Dr. med. Stefan Battel ist seit 2007 niedergelassener Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie mit eigener Praxis in Hürth bei Köln und seit 2012 systemischer Familientherapeut (DGSF). Im Rahmen des lehrer nrw-Fortbildungsprogramms greift er in einer Vortragsreihe regelmäßig verschiedene Themen aus dem Bereich der Jugendpsychologie auf.
 

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