Thomas Binn arbeitet seit langem als Sozialpädagoge an Grundschulen. Die Inklusion, wie sie derzeit umgesetzt wird, hält er für einen Fehler. Dass einige Bundesländer Förderschulen am Leben halten, hält Binn für richtig.

Der Sozialpädagoge Thomas Binn ist ein glühender Verfechter der Inklusion. Er glaubt, dass das gemeinsame Lernen von Kindern mit und ohne Behinderung der einzige Weg ist zu einem vorurteilsfreien Miteinander. Doch so, wie die Inklusion derzeit umgesetzt wird, klappt es nicht, sagt Binn. Wie schwierig es läuft, hat er selbst erlebt. Für ein Filmprojekt hat er jahrelang eine Grundschule in Nordrhein-Westfalen beobachtet, die sich der Inklusion verschrieben hat. Heute ist er ernüchtert.

 

Herr Binn, ist die Inklusion eine Illusion?

Thomas Binn: Nein, das ist sie nicht. Sowohl ich als auch alle Menschen, mit denen ich gesprochen habe, sind grundsätzlich für Inklusion. Lehrer, Eltern, Schüler: Sie alle befürworten das vorurteilsfreie Miteinander, das Lernen in der eigenen Geschwindigkeit. Das ist genau das, wohin sich Gesellschaft entwickeln sollte. Aber so, wie es derzeit läuft, klappt es nicht.

 

Warum?

Binn: Man hat die Inklusion mit der Brechstange umgesetzt – das sieht man an der Schule in Nordrhein-Westfalen, die ich begleitet habe. Die Schule war schon lange vor der Inklusion eine Projektschule für gemeinsames Lernen, sie hatte also schon Erfahrung im Unterrichten von Kindern mit und ohne Förderbedarf. Aber als das Land 2014 die Inklusion einführte, änderten sich die Rahmenbedingungen deutlich.

 

Inwiefern?

Binn: Vor der Inklusion war die Situation an der Schule gut. Damals gab es rund fünfzehn Kinder pro Klasse, maximal ein Drittel davon hatte Unterstützungsbedarf. Die Klassen waren fast durchgehend doppelbesetzt mit einer Lehrkraft und einem Sonderpädagogen. Bei der Einführung der Inklusion hat man gemerkt, dass man die Rahmenbedingungen nicht halten kann, weil nun alle Schulen mit Sonderpädagogen versorgt werden mussten. Also hat man die Klassen aufgebläht und die Stundenzahl der Sonderpädagogen zurückgeschraubt. Aus den 15 Kindern pro Klasse wurden 24. Und die sonderpädagogische Unterstützung wurde nicht mehr an den individuellen Bedarf der Kinder angepasst, sondern pauschal auf sieben Stunden in der Woche pro Klasse beschränkt. Bis zum Ende der vierten Klasse haben acht von 24 Kindern die Klasse verlassen, weil sie nicht die Förderung erhielten, die sie eigentlich brauchen. Das ist eine Bankrotterklärung.

 

Eines der Kinder, das gehen musste, ist Miguel. Was ist schiefgelaufen?

Binn: Als Miguel eingeschult wurde, war er kognitiv auf dem Entwicklungsstand eines Dreijährigen. Eigentlich hätte er mindestens ein Jahr länger im Kindergarten bleiben müssen, wo er mit Kindern auf seinem Entwicklungsstand hätte spielen können. Aber es gab keinen Austausch zwischen Kindergarten und Schule, deswegen landete er in der ersten Klasse. Weil Miguel in einer Pflegefamilie aufwuchs, gab es auch keinen Austausch mit den Eltern. Das Resultat war, dass Miguel in der Klasse mit Autos spielte, während die anderen Kinder Mathe lernten. Die Lehrerin hatte nicht die Kapazität, sich angemessen um Miguel zu kümmern.

 

Zeigt der Fall, dass es Kinder gibt, die auf einer Förderschule besser aufgehoben sind?

Binn: In der jetzigen Situation ist es leider so, dass Miguel auf einer Förderschule tatsächlich besser aufgehoben wäre. Aber das Problem ist nicht Miguel, sondern das System, das nicht auf ihn eingestellt ist. Ich kann eine ganze Litanei aufzählen von Situationen, die ähnlich verliefen, weil die Rahmenbedingungen nicht stimmten.

 

Was wäre denn ein zweites Beispiel?

Binn: Die Geschichte eines anderen Kindes, die wir im Film gar nicht erzählt haben. Bei dem Jungen hat man schnell festgestellt, dass er eine auditive Wahrnehmungsstörung hat. Das heißt: Er kann zwar hören, aber das Gehörte nicht so verarbeiten, wie es altersbedingt normalerweise möglich wäre. Nun hat sich die Schule angestrengt und versucht, ein System zu installieren, das es ihm ermöglicht, im Klassenverband mitzukommen. Er hätte dafür eine Sonderpädagogin gebraucht, die ihn entsprechend unterstützt. Es gab aber keine Sonderpädagogin, die frei gewesen wäre. Also wurde der Junge seit Mitte des ersten Schuljahrs jeden Tag mit dem Taxi 35 Kilometer in eine Schule für gehörlose Kinder gefahren – und das, obwohl er in der Schule in seiner Heimatstadt Freunde hatte und Lehrer, die ihn unterrichten wollten. Das ist absurd.

 

In dem Film gibt es einen Jungen mit einer Aufmerksamkeitsstörung. Damit er mit der Klasse mithalten kann, soll er Medikamente nehmen. Ist Inklusion, so, wie sie derzeit umgesetzt wird, Gewalt an Kindern?

Binn: Der Einsatz von Psychopharmaka ist kein Problem, das nur in Integrationsklassen zu verorten wäre. Ich war an vielen Förderschulen, in denen Kinder ebenfalls mit Ritalin eingestellt wurden. Aber ja: Die Inklusion, wie sie derzeit umgesetzt wird, ist ein Verbrechen an der nachwachsenden Generation. Auf den Kindern lastet ein enormer Druck, sie erhalten nicht die Unterstützung, die sie brauchen. Ich könnte es sehr gut verstehen, wenn diese Kinder in zwanzig Jahren einen enormen Hass auf unsere Generation haben, weil wir so mit ihnen umgegangen sind.

 

Einige Bundesländer rudern jetzt bei der Inklusion zurück – und erhalten die Förderschulen vorerst nun doch am Leben. Ist das der richtige Weg?

Binn: Im Moment halte ich das für den richtigen Weg, ja. Anders funktioniert es leider nicht. Es nützt nichts, alle Förderschulen zu schließen und die Kinder ins Regelschulsystem integrieren zu wollen, wenn das Regelschulsystem schon jetzt vor dem Kollaps steht. Aber natürlich muss das Ziel das gemeinsame Lernen von Kindern mit und ohne Förderbedarf bleiben.

 

Warum eigentlich?

Binn: Weil es der einzige Weg ist, um ein vorurteilsfreies Miteinander hinzukriegen. Man muss doch nur mal mit offenen Augen durch eine Fußgängerzone laufen und schauen: Wie viele Menschen mit Behinderungen laufen da rum? Das ist eine verschwindend kleine Zahl. Die Leute werden versteckt und in irgendwelche Institutionen abgeschoben. Das kann doch nicht die Realität in einer Gesellschaft sein, die sich am Humanismus orientiert. Wir müssen dahin kommen, dass eine Behinderung nicht mehr als befremdlich oder verstörend wahrgenommen wird. Und dazu leistet das gemeinsame Lernen in der Schule einen entscheidenden Beitrag.

 

Wenn man Inklusion so weit denkt wie Sie, dann müsste jede Schule ausgestattet werden mit Vorrichtungen für Blinde, Gehörlose, Lernbehinderte und so weiter. Ist das leistbar?

Binn: Momentan nicht. Dafür haben wir viel zu wenig Personal und auch nicht die Infrastruktur. Aber es wäre ein Ziel, das man sich stecken muss für die Zukunft.

 

Was braucht es für die perfekte Inklusionsschule?

Binn: Neben der Infrastruktur vor allem multiprofessionelle Teams. Es reicht nicht aus, die Klassen mit jeweils einem Lehrer und einem Sozialpädagogen auszustatten. Wir brauchen Teams in der Schule, die dazu in der Lage sind, sich den Bedürfnissen der Kinder anzupassen: Das kann ein Sonderpädagoge sein, ein Pfleger, eine Schulschwester, ein Psychologe oder ein Schulsozialarbeiter, der auch einmal ein Kind rausnimmt und sagt: Wir gehen mal auf den Schulhof und machen ein anderes Angebot.

 

Das klingt sehr aufwendig und teuer.

Binn: Ja. Aber wir müssen uns fragen, ob sich das die Gesellschaft angesichts der Probleme, die wir aktuell in der Schule haben, nicht sowieso leisten muss. Es geht ja nicht nur um Inklusion. Die Kinder verbringen heute viel mehr Zeit in der Schule als noch vor zwanzig Jahren. Und auch der Auftrag hat sich verändert. Noch vor zwanzig Jahren lag die Erziehung vor allem beim Elternhaus. Heute findet Erziehung zu einem hohen Anteil in der Schule statt. Darauf sind Schulen aber gar nicht eingestellt. Ich habe mit Schulleitern gesprochen, die sagen: Wir sind froh, wenn wir irgendwie über den Tag kommen, unseren Bildungsauftrag können wir schon lange nicht mehr erfüllen. Wenn Sozialarbeiter an die Schule kommen, profitieren nicht nur die Inklusionskinder, sondern alle.

 

In Ihrem Film sagt einer der Elternvertreter: Die Eltern müssten in der Schule mitwirken, sonst funktioniere die Inklusion nicht. Stimmen Sie zu?

Binn: Das sehe ich so, ja. Letztendlich sind auch die Eltern Teil des multiprofessionellen Teams. Sie sind zwar nicht an der Schule angestellt, aber sie sind die Personen, die neben den Lehrern Vertrauenspersonen der Kinder sind. Ich glaube, dass es in den letzten zwei Jahrzehnten eine Entwicklung in unserer Gesellschaft gegeben hat, bei der sich die Eltern immer mehr aus der Erziehungsverantwortung herausgenommen haben. Und ich glaube, dass man die Eltern wieder viel stärker in die Verantwortung nehmen muss. Es muss viel mehr Austausch stattfinden zwischen Schule und Eltern. Wenn wir Familien eine Möglichkeit geben wollen, auch eine Familie zu sein, können wir die Kinder nicht den kompletten Tag abziehen. Wir müssen den Fokus auch darauf lenken, das System Familie zu stärken.

 

Welchen Weg sollten die Länder einschlagen, wenn sie die Inklusion noch auf einen guten Weg bringen wollen?

Binn: Was es braucht, ist ein Einstellungswandel. 2014 hat man gesagt: Wir stecken alle Kinder in unser Regelsystem, und dann gucken wir mal, wie wir das gemanagt bekommen. Das hat offensichtlich nicht funktioniert. Wichtig wäre jetzt eine Bestandsanalyse. Wie viele Kinder mit Unterstützungsbedarf gibt es überhaupt? Welche positiven Erfahrungen wurden in den Schulen für gemeinsames Lernen gemacht? Schon jetzt müsste man dringend in die Ausbildung von Sonderpädagogen investieren. Es ist für mich angesichts des Personalmangels unverständlich, dass es immer noch einen NC auf Sonderpädagogik gibt.

 

Und was muss passieren, wenn die Sonderpädagogen auf dem Markt sind?

Binn: Dann bildet jede Schule erst einmal eine Inklusionsklasse. Die ist durchgehend doppelbesetzt und multiprofessionell aufgestellt. Wichtig ist, dass der Schulleiter eigenverantwortlich agieren kann. Er muss die Freiheit haben, zu entscheiden, wie er eine Klasse zusammensetzt. Vielleicht kommt er zu dem Schluss, dass es Sinn ergibt, fünf Kinder mit Unterstützungsbedarf in einem Verbund mit fünfzehn Regelkindern zusammen zu unterrichten. Vielleicht kommt er aber auch zu dem Schluss, es geht nur mit drei. Das System muss viel flexibler werden.

 

Was macht man mit den zwei Kindern, die nicht mehr aufgenommen werden?

Binn: Wenn es einen Jahrgang gibt, in dem überproportional viele Kinder mit Unterstützungsbedarf sind, dann muss der Schulleiter sagen können: Wir können nicht alle an unserer Schule aufnehmen, aber es gibt in einem Nachbarort eine Schule, die noch Kapazitäten hat. Was bestimmt nicht funktioniert, ist, dass immer jedem Elternwunsch entsprochen wird.

 

Manche Eltern von Förderschulkindern pochen auf ihre Wahlfreiheit. Sie wollen, dass die Förderschulen erhalten bleiben – zum Wohl der Kinder.

Binn: Wenn die Regelschulen so gut ausgestattet sind, dass sie eine ähnlich gute Förderung leisten wie die Förderschulen, dann braucht es diese nicht mehr. Ich glaube nicht, dass es Eltern gibt, die gegen die Inklusion an sich sind. Was es aber ganz sicher gibt, sind Eltern, die akut unzufrieden sind mit der Inklusion in ihrer jetzigen Form.

 

Quelle: DIE WELT vom 7. April 2018, Interview mit Ricarda Breyton

Dokumentarfilm

Seit Sommer 2014 haben in Deutschland Kinder mit Unterstützungsbedarf einen Rechtsanspruch auf gemeinsamen Unterricht in den Regelschulen. Viele Förderschulen wurden daraufhin geschlossen. Der neunzigminütige Dokumentarfilm ‘Ich. Du. Inklusion.’ von Thomas Binn begleitet zweieinhalb Jahre fünf Grundschüler mit und ohne Unterstützungsbedarf. Sie sind Teil des ersten offiziellen Inklusionsjahrgangs an der Geschwister-Devries-Schule in Uedem (Nordrhein-Westfalen). Der Dokumentarfilm zeigt einen offenen und direkten Schulalltag und wie es ist, wenn der Inklusionsanspruch auf Wirklichkeit trifft. 

Die DVD mit umfangreichem Bonusmaterial ist zum Preis 16,90 Euro überall im Handel erhältlich.

 

Zur Person:

Thomas Binn ist ausgebildeter Sozialpädagoge, Filmemacher und Fotograf. Seit vielen Jahren beschäftigt er sich mit der sozialen Entwicklung von Kindern und hat etliche Projekte an Grundschulen sowie Filmprojekte im sozialen Bereich realisiert.

Weitere Informationen: www.binn.de

Zur Originalausgabe (PDF-Format)


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