Von Michael Felten

In Nordrhein-Westfalen klaffen Anspruch und Wirklichkeit der Inklusion besonders stark auseinander. Dreieinhalb Jahre nach dem Inkrafttreten des 9. Schulrechtsänderungsgesetzes präsentiert sich die Lage zwischen Rhein und Ruhr zunehmend chaotisch: Behinderte Kinder an Schulen des gemeinsamen Lernens, die mangels sonderpädagogischer Expertise bzw. Personal nur noch ruhiggestellt werden; enttäuschte Eltern, die ihr behindertes Kind wieder an eine Förderschule zurückschulen wollen, diese aber dank zwischenzeitlicher Schließung nicht mehr vorfinden; engagierte Lehrer, die sich auf eigene Kosten vorzeitig pensionieren lassen, weil sich die Heterogenität in den Klassen schlichtweg nicht mehr bewältigen lässt.

Ein Blick in die Zeitschrift ‘Schulverwaltung NW’ dagegen zeigt eine Art Parallelwelt: Immer wieder melden sich dort junge, gern praxisferne Vertreter privater Institutionen zu Wort, die für eine noch schnellere, noch radikalere schulische Inklusion werben. 2015 sprachen sich etwa zwei Autorinnen der Bertelsmann-Stiftung (Döttinger & Hollenbach-Biele) dafür aus, den Ressourcen- und Elternvorbehalt bei der Inklusion abzuschwächen bzw. zu streichen. Sie plädierten also dafür, Kinder mit Förderbedarf auch dann inklusiv zu beschulen, wenn die dafür nötigen sächlichen und personellen Mittel fehlen, oder wenn die Eltern gar kein gemeinsames Lernen möchten, weil sie ihr Kind an einer Förderschule besser unterstützt sehen – schulrechtlich einigermaßen fragwürdig.

Ein Jahr später blies ein Jurist und (damaliger) ‘fellow’ der Mercator-Stiftung in ein ähnliches Horn: Mittels einer verkürzten Darlegung der UN-Behindertenrechtskonvention suggerierte Michael Wrase, dass die radikal inklusive Schule rechtlich unbedingt geboten sei, dass es dazu keine vertretbare Alternative gebe. Allerdings entbehrten seine Detailaussagen jeder faktischen Grundlage. Die Forschungslage zur Inklusion ist keineswegs eindeutig, sondern höchst widersprüchlich. Und dass Inklusion in der Praxis nicht im entferntesten »durch eine durchgängige pädagogische Doppelbesetzung (Co-Teaching) in den Integrationsklassen umgesetzt« wird, pfeifen bekanntlich die Spatzen von allen Dächern. Auch fühlen sich zahlreiche Schüler an der Förderschule eben gerade nicht ausgegrenzt, sondern finden nur dort optimale Entwicklungsumstände.

Forcieren eines Prinzips um jeden menschlichen Preis?

Ein Gegengewicht zu solch‘ rechtszweifelhaften und lückenwissenschaftlichen Thesen bildet seit dem Welttag des Kindes 2015 die Info-Plattform www.inklusion-als-problem.de. Diese Website bezieht auch die Kinderrechtskonvention der UN ein, sie bietet insbesondere solchen Forschungsbefunden und Praxiserfahrungen ein Forum, die in der Inklusionsdebatte bislang unterrepräsentiert waren. Die Eröffnungsbeiträge repräsentieren maßgebliche Stimmen aus der Wissenschaft:

  • Prof. em. Bernd Ahrbeck (Rehabilitationswissenschaften): Inklusion als Paradiesmetapher?
    »Schulische Inklusion ist ein hochkomplexes, in sich spannungsreiches, in Teilen auch widersprüchliches Phänomen, das sich einfachen Lösungen verschließt. Zum Wohl des Kindes bedarf es weiterhin unterschiedlicher schulischer Settings.«
  • Prof. em. Rainer Dollase (Psychologie): Soziale Ablehnung statt institutioneller Separierung?
    »Diskriminierung wird nicht abgeschafft, wenn alle Kinder nun einen gemeinsamen Klassenraum bevölkern – dann fallen die Besonderheiten des Einzelnen mit informeller Macht auf. Inklusion heute ist eine problemproduzierende Problemlösung.«
  • Prof. em. Hermann Giesecke (Pädagogik): Inklusion als politisch-weltanschauliche Bewegung
    »Inklusion, wie sie gegenwärtig sichtbar wird, ist nicht nur eine pädagogische Mogelpackung, sondern auch ein bildungspolitisches Fiasko.«
  • Prof. Konrad Paul Liessmann (Philosophie): Zur Widersprüchlichkeit einer inklusiven Gesellschaft
    »Ohne Klavier spielen zu können wird es schwer sein, in die Gemeinschaft der umjubelten Pianisten aufgenommen zu werden.«

Vor diesem Hintergrund habe ich dort die Forderung nach einem Moratorium in Sachen Inklusion öffentlich zur Debatte gestellt – unter folgenden Gesichtspunkten (aktualisiert im April 2017):

I. Die Schule macht schon genug Sorgen.

Viele Schüler in Nordrhein-Westfalen lernen zu oberflächlich und erreichen nur unterdurchschnittliche Kompetenzniveaus. Erst recht ist das bundesweite Problem der ‘Risikoschüler’ ungelöst: Bei zwanzig Prozent der Fünfzehnjährigen überschreiten Mathematik- und Lesekompetenz nicht das Grundschulniveau. Manchem ‘lernbehinderten’ oder ‘verhaltensauffälligen’ Kind wird deshalb auch ohne Not besonderer Förderbedarf attestiert – weil Problemkompetenz und -ressourcen an der Regelschule fehlten.

Die Lehrerschaft hingegen hat mit ausufernder Reformbürokratie zu kämpfen – und vermisst praxisnahe Unterstützung und Weiterbildung. Eine systematische Qualitätsentwicklung des Unterrichts an Regelschulen (d.h. bei moderater Heterogenität) hat gerade erst begonnen. Jede forcierte, gar totale Ausweitung des Diversitätsspektrums erscheint da unverantwortbar.

II. Bewährte Integration, zweifelhafte Inklusion

Seit Jahren sind die Bedingungen bekannt, unter denen Schüler mit besonderen Beeinträchtigungen integrativ erfolgreich unterrichtet werden können. So können etwa körperbehinderte Kinder gut am Regelunterricht teilnehmen – wenn die bauliche und technische Ausstattung stimmt. Auch könnten Migrantenkinder ohne anfängliche Deutschkenntnisse ein Gymnasium besuchen – wenn ihr kognitives Potenzial den Anforderungen dieser Schulform entspricht, und wenn ihnen dort ein sprachlicher Intensivkurs ermöglicht wird. Und wer die bisweilen als verhaltenskreativ bezeichneten Schüler integrativ beschulen möchte, müsste – wie bisher an den Modellschulen üblich – ständige Doppelbesetzung finanzieren.

Wenn aber zukünftig alle Schüler zwanghaft gemeinsam beschult würden, im derzeit praktizierten bzw. angestrebten Sparmodus, unabhängig von ihrem momentanen Lernvermögen und ihrer individuellen Problematik, dann wird das die Leistungs- und Sozialentwicklung vieler einzelner Kinder beeinträchtigen. Ein solcher Niveauverlust durch »wohlwollende Vernachlässigung« (Bernd Ahrbeck) wäre auch gesamtgesellschaftlich inakzeptabel.

Schüler helfen einander gerne und können durchaus voneinander lernen. Aber schnelle Lerner haben auch ein Recht auf herausfordernden Unterricht. Und Leistungsschwächere brauchen nicht nur Schutz vor dem ständigen Vergleich mit den Besten, sondern bedürfen auch in besonderem Maße konstanter pädagogischer Bindung. Förderlehrer, die stundenweise von Schule zu Schule hetzen (‘Reisepädagogik’), können dies nicht leisten.

Empirische Studien wie BiLieF oder RIM belegen eine Positivwirkung inklusiver Beschulung in der Primarstufe nur unter bestimmten Optimalbedingungen, und in der Sekundarstufe (Sachkomplexität, Pubertät) gähnt eine regelrechte Forschungslücke. Laut BiLief-Studie (2014) sind die (in manchen Medien überbetonten) ‘besonderen Lernfortschritte’ inklusiv beschulter ‘Förderkinder’ möglicherweise auf deren spezifisch günstige Lernausgangslage zurückzuführen. Auch die Hattie-Studie (2009) bescheinigt inklusiver Beschulung für die kognitive Lernwirksamkeit nur mäßige Effekte (d = 0,28).

Das Entwicklungswohl behinderter Kinder lässt sich eben nicht in Strukturen pressen, sondern ist eine individuelle Frage. Prinzipiell überschätzen Inklusionsbefürworter das individualisierte, selbstgesteuerte Lernen – und sie unterschätzen die Tiefe kindlicher Entwicklungsstörungen und den Bedarf an Schonraum. Der Slogan »Vielfalt macht schlau« trifft insofern nur in engen Grenzen zu – zu viel Vielfalt erzeugt eher Verwirrung. Am erfolgreichsten lernen Schüler in moderat heterogenen Klassen – bei hoher Unterrichtsqualität und guter Durchlässigkeit zwischen den Anforderungsniveaus. Dagegen wird zieldifferentes Unterrichten als Regelfall mit wachsendem Alter überaufwändig und unübersichtlich – und ist nicht zuletzt rechtlich fragwürdig.

Radikale Inklusion würde die Leistungsfähigkeit unseres Bildungssystems jedenfalls nachhaltig untergraben. Aber vielleicht nehmen unsere Entscheider das ja billigend in Kauf. Schließlich gilt die Inklusionsschule insgeheim als ergiebiges Sparmodell: Man kann Gebäude abstoßen, Gehälter einsparen, Förderkräfte reduzieren – und Regellehrer mal schnell am Wochenende sonderpädagogisch updaten. Außerdem wirkt die Inklusionsschule als bildungspolitischer Trojaner. »Gemeinsames Lernen« klingt zwar paradiesisch, würde aber in letzter Konsequenz das gegliederte Schulsystem sprengen. Wenn jedes Kind jede Schule besuchen könnte und dort nur noch nach seinen Maßstäben gemessen werden würde, dann hätten wir landesweit eine aussagearme Einheitsschule. Eine Schule aber, die ihre allokative Funktion nicht mehr ausfüllt, benachteiligt die ohnehin schon Benachteiligten zusätzlich – denn die anderen wissen sich schon anderweitig zu helfen.

III. Deutschland hat das Bildungsrecht für alle Kinder längst gesichert.

Ziel der 2008 beschlossenen UN-Behindertenrechtskonvention (BRK) war primär, allen Menschen mit Behinderung unter anderem ungehinderten Zugang zum allgemeinen Bildungswesen ermöglichen – zu Recht, denn in vielen Ländern waren behinderte Kinder bislang vom öffentlichen Schulbesuch ausgeschlossen.

Die BRK ist aber gerade kein Votum für radikale Inklusion im Sinne einer Abschaffung von Förderschulen. Laut Bundesgesetzblatt vom 31. Dezember 2008 sollen die Vertragsstaaten lediglich sicherstellen, dass Kinder mit Behinderungen »gleichberechtigt mit anderen in der Gemeinschaft, in der sie leben, Zugang zu einem integrativen, hochwertigen und unentgeltlichen Unterricht an Grundschulen und weiterführenden Schulen haben« und dass ihnen dabei »die notwendige Unterstützung geleistet wird, um ihre erfolgreiche Bildung zu erleichtern«. (Art. 24 Abs. 2 ‘Bildung’). Nach Art. 7 (‘Kinder mit Behinderungen’) ist laut Abs. 2 bei »allen Maßnahmen, die Kinder mit Behinderungen betreffen, das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist«. Im konkreten Einzelfall kann also die Zuweisung eines Kindes zu einer (insbesondere wohnortnahen) Förderschule sogar geboten sein. Ausdrücklich verweist die BRK nämlich darauf, dass »besondere Maßnahmen, die zur Beschleunigung oder Herbeiführung der tatsächlichen Gleichberechtigung von Menschen mit Behinderungen erforderlich sind, nicht als Diskriminierung im Sinne dieses Übereinkommens gelten« (Art. 5 ‘Gleichberechtigung und Nichtdiskriminierung’, Abs. 4).

Das deutsche Bildungswesen erfüllt die BRK also bereits: Die hiesigen Förderschulen sind derjenige Teil des allgemeinbildenden Schulsystems, der gesellschaftliche Teilhabe durch spezifische Unterstützung herbeiführen soll – und solche besonderen Maßnahmen gelten laut Konvention gerade nicht als Diskriminierung. Das deutsche Bildungswesen wäre gewiss in mancher Hinsicht optimierbar – für eine generelle Schulreform zur inklusiven Einheitsschule indes besteht weder aus lernpsychologischer noch aus gesellschaftlicher Perspektive eine Notwendigkeit.

IV. So viel (hochqualitative) Integration wie möglich, so viel (durchlässige) Separation wie nötig!

Heterogenität ist natürlich die Anfangsgegebenheit des Schulischen, aber Simultaneität nicht deren einzige Lösung. Auch im Pädagogischen lässt sich ein Spektrum des Normalen und Bereiche des Besonderen unterscheiden – und diese Differenz verdient Respekt. Allzu Ungleiches darf man weder gleich noch zugleich behandeln. Es gilt, die goldene Mitte zwischen menschlich Wünschbarem und schulpädagogisch Machbarem auszuloten. Die Politik verlange also nicht das Unmögliche, sondern finanziere das Sinnvolle – auf zwei Ebenen:

  • Das Förderschulsystem nicht schwächen oder gar auflösen!
    Jeder Schüler mit besonderem Unterstützungsbedarf muss wohnortnah gezielte Förderung in geschütztem Rahmen finden können, die elterliche Wahlfreiheit zwischen Regel- und Förderbeschulung muss erhalten bleiben. Professionelle Förderlehrkräfte müssen weiterhin in angemessenem Umfang zur Verfügung stehen. Flüchtig ‘inklusionsgeschulte’ Regellehrer sind dagegen vielfach ungeeignet und latent überlastet, sie bilden gerade für die Förderkinder ein hohes Entwicklungsrisiko – und für sich selbst ein gesundheitliches.
  • Die pädagogische Professionalität der Regelschullehrer stärken!
    Je größer die methodische und pädagogische Kompetenz der Lehrer, desto eher können – bei entsprechenden Unterstützungsressourcen – auch Schüler mit vor-übergehenden Entwicklungsproblemen an Regelschulen verbleiben und dort sinnvoll gefördert werden.

 

V. Keine Denktabus, keine Maulkörbe – oder: Das lässt sich ändern!

Vor einigen Jahren formulierte Bernd Ahrbeck noch vorsichtig, in Sachen Inklusion sei »übertriebener Optimismus nicht angemessen« – deren Nachteile könnten ihre Vorzüge nämlich überwiegen. Heute entpuppt sich schulische Inklusion vor allem in Nordrhein-Westfalen zunehmend als »problemproduzierende Problemlösung« (Rainer Dollase).

Aber Kinder mit und ohne Behinderung sind kein Spielball – weder für Sparfüchse noch für Schulideologen. Deshalb bedarf die Bildungspolitik des Landes einer hochgradig kritischen, forschungsbasierten Begleitung sowie öffentlicher Debatte – ohne Blockade durch Maulkörbe oder Denktabus. Kritische Begleitung, das sind auch Eltern, die für den Erhalt bedrohter Förderschulen kämpfen; Lehrer, die das Chaos inklusiver Klassen per (ggf. anonymem) Leserbrief öffentlich machen; Kollegien, die Überlastungsanzeige einreichen oder gar remonstrieren; Schulkonferenzen, die sich zieldifferenter Inklusion bei mangelhafter Finanzierung oder fehlendem Sinn verweigern; Wähler, die ihrer Stammpartei die Stimme verweigern, wenn diese für Ideologie statt Bildung eintritt.

In Sachen Inklusion ist das TINA-Prinzip (»there is no alternative«) eben schlichtweg irreführend. Es gilt vielmehr TATA, »there are two alternatives« – wie in anderen Ländern auch. Jedes Kind muss an dem für es geeignetsten Ort lernen können – dies kann durchaus (wie weltweit üblich) auch eine Spezialschule oder -klasse sein. Das Entwicklungswohl von Schülern ist primär eine Frage von Unterrichtsqualität und Förderressourcen, nicht aber der Schulstruktur. ‘Gemeinsames Lernen’ ist nur dann sinnvoll, wenn die Lernbedingungen für alle betroffenen Schüler nachweislich nicht schlechter sind als beim Lernen in verschiedenen Schulformen oder leistungsdifferenten Lerngruppen. Einen Mindestrahmen hierfür hat der Verband lehrer nrw am 24. Februar 2016 formuliert.

Auch beim Umgang mit Behinderung müssen wir die Schule keineswegs neu erfinden. Vielmehr lässt sich unser gegliedertes Schulsystem »dual-inklusiv« (Otto Speck) optimieren – als dynamischer Verbund von Regel- und Förderschulen, der in zweifacher Weise entwicklungsförderliches Aufgehobensein schafft. Die Perspektive sollte sein: So viel wie sinnvoll gemeinsam unterrichten, so viel wie förderlich getrennt beschulen! »Eine Schule für alle« dagegen wäre flächendeckend weder generell sinnvoll noch insgesamt bezahlbar (vgl. das FiBS-Gutachten 2009) – deshalb gilt es, die vorhandenen Ressourcen optimal zu nutzen, etwa an hochqualitativ ausgestatteten Schwerpunktschulen. Sonst ergeht es der Inklusion bald wie G8.

Der Autor:

Michael Felten hat 35 Jahre in der Sekundarstufe I Mathematik und Kunst unterrichtet. Er arbeitet als Sachbuchautor, Dozent in der Lehrerausbildung und freier Schulentwicklungsberater (www.eltern-lehrer-fragen.de). Letzte Veröffentlichung: Die Inklusionsfalle. Wie eine gut gemeinte Idee unser Bildungssystem ruiniert. (2017)

Zur Originalausgabe (PDF-Format)

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