Lernthekenarbeit, Lernwelten, Lerngalaxien – es gibt derzeit viele neue Formen des individualisierten, selbstgesteuerten Lernens. Das klingt hübsch, aber wenn es mehr als Marketing sein soll, dann müssen solche Begriffe auch mit Inhalt gefüllt werden. Dafür brauchen die Schulen Ressourcen. Ansonsten drohen solche neuen Unterrichtsformen zu Sparmaßnahmen auf dem Rücken der Schüler zu mutieren.

Offene Unterrichtsformen und -angebote werden aktuell vielfach und intensiv diskutiert. Heft 4 der diesjährigen ‘Pädagogik’ trug den Titel ‘Freie Lernzeiten gestalten’, und im Frühjahr fanden einige landesweite Veranstaltungen unter ähnlich lautenden Titeln statt. Zunehmend werden diese offenen Unterrichtsangebote im Zusammenhang mit der Gestaltung des Ganztagslernens diskutiert. Sicherlich eine lohnenswerte Thematik, öffnet sich doch ein Gestaltungsspielraum für die einzelnen Schulen, doch entsteht mitunter auch der Eindruck, dass diese Diskussion einen Mangel an Material-, Raum- und Personalressourcen zu kaschieren versucht. Und dass eine Vielzahl von (inhaltlichen) Anforderungen, die (mittlerweile) an die Schule gestellt werden, allesamt in diesen freien Lernzeiten versucht werden zu lösen. Individuelle Förderung, motivierende Übungsformen als Alternative zu Hausaufgaben, Persönlichkeitsbildung, Gesundheitserziehung oder Mobilitätserziehung seien hier als Beispiele genannt.

Inhaltliche Offenheit und inhaltliche Kontroversität

Die kontinuierliche Weiterentwicklung und Professionalisierung des selbstverantwortlichen, selbstgesteuerten Lernens der Schülerinnen und Schüler sollte heute eine Selbstverständlichkeit sein. Es ist zu hoffen, dass die Schulen erkannt haben, dass die Heterogenität der Schülerschaft und die Prozesse der Individualisierung in unserer Gesellschaft auch zur Folge haben, dass Lernprozesse zunehmend individualisiert und offen ausgestaltet sein müssen. Die Schulen haben dabei die Aufgabe und die Gestaltungsmöglichkeit, hier neue Formen und Organisationsmöglichkeiten denken und ausprobieren zu können. Wichtig ist es, dabei nicht zu vergessen, dass neben eine Prozessoffenheit eine inhaltliche Offenheit und inhaltliche Kontroversität des Lernprozesses zu treten hat und eine Begleitung, Beratung und auch Kontrolle der Schülerinnen und Schüler in diesem Lernprozess zu treten hat. Nur dann entstehen Relevanz und Verbindlichkeit in einem Lernprozess, werden Schülerinnen und Schüler kognitiv herausgefordert, sind sie intrinsisch motiviert und können eine Prozessoffenheit sinnstiftend nutzen, weil sie ernst genommen werden.

Freie Lernzeiten sind kein Selbstzweck

Somit können freie Lernzeiten sinnvoll und wirksam werden, wenn die Schulen so ausgestattet sind, dass sie wirklich zu Lern- und Lebensräumen werden, in denen Kinder sinnlich und gerne lernen. Das bedeutet multifunktionales Mobiliar, Raumgestaltungen, die zum Verweilen einladen und mehrkanaliges, ganzheitliches Lernen unterstützen. Es bedeutet eine Materialvielfalt, die mehrkanaliges, differenziertes Lernen möglich macht. Es bedeutet einen Personalschlüssel, der Lernen, Beratung und Begleitung in kleinen Gruppen erlaubt, der Begegnung zwischen Schüler und Lehrer ermöglicht. Es bedeutet Personal, das so differenziert, aber zugleich professionell ausgebildet ist, dass sich eine Beziehungsdidaktik und eine gewinnbringende inhaltliche Begleitung der Schülerinnen und Schüler in diesen freien Lernzeiten entwickeln kann.

Bloße Verwahrung unter wohlklingendem Etikett

Leider sieht die Realität in den Schulen oft anders aus. Schulen sind baulich und räumlich nicht selten in einem Zustand, der kaum dafür ausgelegt ist, diese Formen des Lernens und der Interaktion zwischen den Lernenden zu ermöglichen bzw. zu unterstützen. Das Budget der Schulen ist mittlerweile so eng bemessen, dass die Anschaffung von haptischem, differenziertem Material nicht möglich ist und in die Hand/Verantwortung der einzelnen Lehrperson gelegt wird. Die Personalausstattung ist so ausgelegt, dass die o.a. Anforderungen an Beratung und Begleitung nur schwer realisiert werden können.

Wir müssen darauf achten, dass sich diese freien Lernzeiten nicht zu einer bloßen Verwahrung der Schülerinnen und Schüler mit wohlklingenden Bezeichnungen wie zum Beispiel ‘Freiarbeit’, ‘Wochenplanarbeit’, ‘Lernthekenarbeit’ entwickeln und dabei eine Unterrichtskultur etabliert wird, die dem programmierten Unterricht der 70er Jahre ähnelt. Die Vor- und Nachteile dieser didaktisch-methodischen Konzeption sind hinlänglich diskutiert. Spätestens seit Hattie wissen wir, dass Begegnung zwischen Lehrern und Schülern sowie positive Begegnung zwischen Menschen ein wesentlicher Gelingensfaktor für Lernprozesse ist.

Individualisiertes Lernen kostet Geld

Die Schulpolitik darf wahrnehmen, dass die Etablierung dieser individualisierenden Verfahren nicht nur eine Frage der Haltung der Lehrerinnen und Lehrer ist. Es ist auch eine Frage der Ressourcen. Und die Etablierung dieser offenen Formen kostet uns als Gesellschaft Geld, das es zu investieren gilt. Ansonsten ist zu befürchten, dass wir oftmals konstatieren müssen, dass unsere Schülerinnen und Schüler in der Lerngalaxie verschollen sind, weil neben eine Offenheit im Arbeitsprozess keine ausreichende Begleitung und Begegnung getreten ist. Das wäre nicht im Sinne der Schülerinnen und Schüler und ihrer Freiheit.Frank Görgens

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